Starbucks ist kein Café, es ist eine Marke, man erkennt sie leicht wieder und jeder kennt sie. Starbucks gibt es überall auf der Welt und in jedem Stadtteil von Seoul, ist daher als Treffpunkt besser geeignet als irgendein hübsches einheimisches Café, auch wenn der Kaffee dort besser schmeckt, nicht so ein Geschlader wie im Markencafé. Also treffen wir uns in drei Stunden im Starbucks bei der U‑Bahnstation Myeongdong. Das war die Abmachung. Ich weiß, meine Tochter kommt immer zu spät, während ich selbst gern etwas früher komme, um das zu tun, was ich jetzt tue: die Gegend mit Blicken sondieren, mich auf Details konzentrieren, nachdenken, Notizen machen.
Es ist das erste Mal in ihrem Leben, daß Yoko in einer fremden Stadt, wo sie die Landessprache nicht versteht, allein unterwegs ist. Sie freute sich darauf, hatte wohl auch ein kleinwenig Angst, ihre Erregung kann ich gut nachvollziehen, sie erinnert mich an meine eigene, als ich so alt war wie sie. Auch daß sie Sehnsucht hat nach einem anderen Land, kann ich verstehen, und ihre Lust, sich in fremde Umgebungen zu begeben. Als ich sechzehn war, trug ich Italien im Kopf herum, genauer: eine Vorstellung von Italien, da wollte ich unbedingt hin, und zwar allein, jedenfalls ohne Familie (was dann erst mit achtzehn möglich war). Meine Vorstellung war eine kulturell geprägte, Italien noch ein Sehnsuchtsland wie seinerzeit für Goethe, aber das Land lag auch nahe, man konnte es per Anhalter leicht erreichen, oder mit dem Zug, was ich als Student öfters tat, eine unbequeme Nachtreise im Liegewagen der Eisenbahn nach Venedig, um sieben Uhr früh stehst du auf dem Bahnhofsvorplatz, das Meerwasser plätschert gegen die steinernen Fundamente.
Land der Zitronen (die erst viel weiter im Süden blühen), aber bald auch der italienischen Popmusik, Lucio Dalla, Francesco de Gregori, Fabrizio de Andrè… Besser als der heutige K‑Pop? Keine Urteile, jetzt nicht! Sogar die viel feinere italienische Mode konnte mich interessieren, obwohl ich langhaarig in ausgewaschenen Jeans herumlief. Nicht in derselben Weise, wie Yoko sich für Mode interessiert. Ohrringe, Schminke im Jungengesicht, aber nicht als Protestzeichen, sondern einfach, weil es schick ist. Und die viel flotter gestylten Musikvideos der K‑Pop-Bands, die selbstbewußten oder selbstbewußt wirkenden Girls der Girl-Bands, die anspruchsvollen Choreographien der Tänze, das harte Training, das dahintersteckt. Stadtviertel wie Myeongdong oder Hongdae oder Itaewon sind eine einzige modische Kommerzzone, der alles einverleibt wird, die Cafés und Restaurants, die kaufwilligen Flaneure, die blühenden Magnolien, die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Kirchen, die Residenzen – in Itaewon – von Botschaftsangehörigen und einheimischen Reichen. Ein Paradies für Yoko... Wie ein Fisch im funkelnden Wasser bewegt man sich durch die Menge, die einmal zu dicht geworden ist, beim letzten Halloween, aber daran denkt hier niemand mehr. Ein Paradies auch für mich, wenngleich ein anstrengendes. Also folge ich, wenn sie nicht gerade allein unterwegs ist, meiner Tochter und gehe ihr sogar voraus, denn gelegentlich entdeckt man auch im Shopping-Bereich mehr, indem man sich umschaut und mit Leuten redet als indem man aufs Smartphone starrt und sich dem GPS-Führer überläßt. Kleidergeschäfte und hübsche Cafés mit hübschen Kuchen, Straßentänzer, die allerletzte Etage in einem Kaufhochhaus, wo die Gäste – junge Liebespaare – statt im Café zu sitzen sich bei schummrigem Licht auf Tuchenten oder auf Schlafsäcken in Zelten lagern und Getränke am Strohhalm aus großen Plastikbechern schlürfen, oder das ganz in Baby-Farben gehaltene Sweet-Café, Symbol der Infantilisierung, die die Weltgesellschaft erfaßt hat (ein Kommentar, den ich Yoko erspare).
Eigentlich müßte Yoko, die übliche Verspätungszeitspanne miteingerechnet, bald zurücksein von den Starship-Studios, wo die Videos von Ive und Monsta X und anderen K‑Pop-Projekten produziert werden. Sie wird sich nicht verirren, sicher hat sie sich mehrmals die Wegschilderungen angesehen, die man auf Youtube findet. Ich habe auch eine angeklickt: nichtssagende Gegend, Glas-Betonhochhaus mit Zackenmuster an der Fassade, hinter der man Tanzstudios ahnen kann. Ein paar Fans sitzen immer im Café gegenüber und warten, so wie ich jetzt auf Yoko warte, darauf, ein paar Blicke auf ihr Idol zu erhaschen, das dann zweifellos durch einen Hintereingang reinschlüpft. Yoko wird immer wieder mal für eine Koreanerin gehalten, und dann freut sie sich, denn das ist ihr Ziel, mit Hilfe von Kosmetika so auszusehen wie die schönen Koreanerinnen, am besten wie Wonyoung von Ive. Könnte ich sie verwechseln oder übersehen, ein Mädchen im beigen Minirock, hellblauen Hemd und schwarzen Stiefelchen, mit den Haarwellen, am Morgen mit dem Brenneisen geformt, die sich über die Schultern schlängeln? Natürlich nicht, sie wird hoffentlich bald in einer der Menschentrauben erscheinen, die das grüne Licht über den Zebrastreifen schwappen läßt wie flaumige, ausfransende Bälle. Wieder nicht, wieder nicht… Und dann steht sie plötzlich da, hell wie das Licht, ganz allein neben der Ampel, und gibt mir auch schon ein Zeichen, bevor ihr Blick zurück auf das Smartphone fällt.
Vor unserem Treffen im Starbucks war ich planlos in Myeongdong herumgeschlendert, an der sogenannten Kathedrale vorbei, die schmächtig wirkt im Vergleich zu dem, was man in Europa an Kathedralen kennt, und dann den Namsan hinauf, vorbei an einem der auch in Korea allgegenwärtigen Seven Eleven-Konbinis, neben dem ein riesiges Elvis Presley-Porträt hing als Hinweis auf einen Club, der mich von außen an einen Beat-Keller aus den sechziger Jahren erinnerte. Dort in der Nähe fiel mir ein Turm mit geschwungenem Dach auf, das zu einem buddhistischen Tempel gepaßt hätte, aber von einem großen Kreuz überhöht wurde wurde. Tatsächlich befand sich darunter das Schiff einer presbyterianischen Kirche, eine ältere Dame im eleganten Kostüm stand vor dem Kirchhof und drückte den Ankömmlingen Zettel in die Hand. Anscheinend war es spät, die letzten Hochzeitsgäste beeilten sich, um sich zu den am kitschig dekorierten Eingang Versammelten zu gesellen: einige jüngere Frauen in Miniröcken oder Hot Pants, die Älteren würdevoll, die Männer hier moderesistent. All die »christlichen« Hochzeiten in Ostasien sind Ausgeburten des Kitsches. Aber vielleicht gilt das überall auf der Welt und seit jeher.
Am Abend zuvor hatte mir Yoko mit ihrem Smartphone den neuesten Song von Ive vorgespielt. Er heißt »Kitsch«, das Wort wird ‑zig Mal wiederholt. Die Übersetzungsmaschinen im Internet helfen nicht viel, DeepL und Google Translate liefern ganz unterschiedliche Ergebnisse, aber die ersten Zeilen des Songs lauten in allen Textversionen ungefähr so: »Es ist unsere Zeit / Oh, was für eine gute Zeit…« Das deckt sich mit der Grundbotschaft des K‑Pop, seinem Message-Beat sozusagen, der grenzenloses Selbstvertrauen und gute Laune vermitteln will. Im neuen Song von Ive wiederholt sich die Formel »nineteen‘s kitsch«, aber den Übersetzungsalgorithmen zufolge ist im koreanischen Teil auch vom Kitsch der Neunziger die Rede. Ive spielen ja gern mit Retro-Elementen (sagt meine Tochter). Kitsch der Neunzehnjährigen? Für ein K- oder J‑Pop-Idol fast schon zu alt, über zwanzig gehören sie zum alten Eisen: ewig junge Pop-Rentner, die gnadenhalber in Plaudersendungen im TV auftreten dürfen. Oder ist der Kitsch von 2019 gemeint, das heißt vor Corona, als die Welt – nun ja, nicht in Ordnung war, das ist sie sowieso immer, wir leben ja im Virtuellen, aber unmaskiert und vielleicht doch ein kleinwenig freier. So wie jetzt wieder, 2023. Kitsch ist super. It’s my style, und wenn er dir nicht gefällt, geh weg. Go away.
Der Kommerz nistet sich überall ein, mit seinen grell-bunten Schildern und Leuchtzeichen, die mir hier intensiver und zahlreicher als in anderen ostasiatischen Städten vorkommen, transformiert er sowohl die unscheinbaren mehrstöckigen Häuser und engen Gäßchen von Myeongdong, unbekümmert um den Gestank, der hier aus der Kanalisation aufsteigt, als auch die Wohngegenden der Reichen, wo alles eine Spur dezenter wirkt. Der Kommerz versöhnt die Welten, die im Film Parasite aufeinanderprallen: slumartige Viertel, die es nach wie vor gibt, und die von gepflegten Gärten und Betonmauern umgebenen Villen der Reichen. Das betuchte Seoul kennt man auch aus der Fernsehserie Itaewon Class; nicht wenige Shoppingtouristen kommen angeregt durch dieses TV-Drama hierher. Ich eher durch Parasite dessen Atmosphäre ich weiter oben auf dem Hügel von Yongsan zu atmen glaube. Dort ist auch das Leeum, ein von drei europäischen Architekten entworfenes Kunstmuseum (Botta, Nouvel, Koolhaas), aber hierher verlieren sich keine Kauflustigen. Viele Boutiquen in Yongsan erinnern an kleine Museen, oder an Shows, aber Modeschauen, die ja gelegentlich als Theateraufführungen inszeniert werden, finden hier nicht statt. Vor den beliebteren Shops bilden sich Schlangen, eine Verkäuferin regelt an der Tür den Einlaß, die Besucher warten geduldig, bis sie an die Reihe kommen. Shopping und Selling, wie es in Seoul betrieben wird, ist eine Kunstform, le onzième art (Nummer 9: Manga/Comix/BD, Nummer 10: Videokunst). Ausgebrütet im Schoß der von Theodor W. Adorno so sehr verachteten Kulturindustrie, aber nichtsdestotrotz eine Kunst.
Shopping funktioniert nicht ohne Selbstdarstellung. Der Shopper konsumiert und produziert selbstzweckhaft, er treibt l’art pour l’art, aber der Selbstzweck ist die Selbstdarstellung, die von den sozialen Medien des Internets potenziert, wobei die Photographie, jenes gegen Ende des 20. Jahrhunderts fast schon untergegangene Medium, außerdem Kunstform, eine wesentliche Rolle spielt. Der Bürger als Konsument kleidet sich nicht nur, er verkleidet sich. Kleider machen Leute, die alte Redewendung, kommt erst jetzt, und besonders in den einschlägigen Stadtteilen Seouls, zu ihrer vollen Geltung. Man kann jederzeit ein anderer werden. Für manche ist das Leben ein Cosplay, ein Verkleidungsspiel, wo man immer wieder als ein anderer, eine andere geht. Ich verwende dieses Verb, »gehen«, weil mich die Shopping-Szenerie von Seoul an den Fasching meiner Kindheit erinnert. Die Frage war alljährlich im Februar: Als was gehst du heuer? Ich bin natürlich als Cowboy gegangen, aber auch als Zauberer. Beim alten Königspalast, auf dem – nebenbei gesagt – wunderbaren, bei aller Monumentalität ausgesprochen freundlich wirkenden Areal von Gyeongbokgung, habe ich Kinder und Männer mit spitzem Hut und langem Mantel gesehen, ähnlich wie mein Kostüm vor gut sechzig Jahren beim Dorffasching. Und natürlich gehen die Mädchen gern als Prinzessinnen, die Frauen als Königinnen. Im Verleih kosten diese Kostüme ein paar Tausend Won mehr als die Kleider der übrigen Mitglieder des Hofstaats oder der Krieger. Yoko wählte ein wunderschönes langes, hellblaues, leicht ins Türkise spielendes Kleid, das auf den weitläufigen Flächen des Areals zusammen mit ihrem Haar im Wind wehte. In meiner Rolle als Photograph – als Ablichtungssklave, sagten wir scherzhaft – hatte ich viel zu tun.
An der Rampe des Königspalasts stießen wir auf eine Gruppe von fünf Mädchen, die ebenfalls von einem Ablichter begleitet wurden. Ich weiß nicht, wie der Kontakt zustande kam, jedenfalls bewegte sich Yoko plötzlich umringt von koreanischen Mädchen, alle ein Jahr jünger als sie, ihre Kostüme viel bunter, weniger fein, der Mietpreis dafür günstig, wie der Ablichter betonte. Dieser Mann sprach ganz gut Japanisch; es ist mir nicht klar geworden, ob er ein Profi war und gerade seiner Arbeit nachging – die objektivbestückte Kamera ließ darauf schließen –, oder ein Freund der Familien. Er war es auch, der die Mädchen sogleich dazu drängte, die eben gemachten Fotos auf Instagram auszutauschen; im Nu war ewige Freundschaft geschlossen, die von mir laienhaft getätigten Ablichtungen trugen dazu bei. Tatsächlich tauscht sich Yoko seitdem mit einem der Mädchen über Fragen der koreanischen Mode aus.
Wenn Mädchen – in Korea zunehmend auch Jungen und ältere Personen – sich an historischen Stätten in traditionelle Kleider hüllen und entsprechenden Kopfschmuck aufsetzen, um dann einige Runden zu drehen und sich sehen zu lassen, ist das im Prinzip nichts anderes als das alltägliche, allwochenendliche Verkleiden fürs Shopping, das außer dem ästhetischen Selbstzweck des Erscheinens in der Menge der Käufer nur den Zweck hat, sich mit neuen Kleidern und Kosmetika zu versorgen, um bei nächster Gelegenheit eine weitere Identität kreieren. Und es ist nichts anderes als die Kostümierung in der Lotte World, dem größten Themenpark des Landes, wo die »Themen« als x‑beliebiger Hintergrund für Fotos dienen. Auch dort ist man nicht einfach man selbst – wenn es noch ein Selbst gibt –, vielmehr »geht« man in Schuluniform oder Bürokostüm, die Mädchen natürlich im Minirock. Themen- und Vergnügungsparks, der Unterschied ist längst verschwunden, sind das Non-plus-Ultra der Infantilisierung (nicht nur in Ostasien), ganz oben im Ranking der Reiseziele, sie sind dabei, den realen Orten den Rang abzulaufen. Ich bin ein Dinosaurier der prädigitalen Welt, ich könnte so einen Park, hätte ich nicht meine Aufgabe als Ablichtungssklave, nur als stilisierte Ödnis wahrnehmen. Zumal mir die Überreizungen des Fliegens und Fallens nicht das geringste Vergnügen abringen können. Man durchwandelt diese Areale wie die des Shoppings als ein anderer, den man spielt. Ich hier bin nur Zeuge, sonst nichts.
© Text und Bilder: Leopold Federmair