Peter Sloterdijk und die deutsche Politik
Eine irgendwie öde Diskussion, die da seit einigen Monaten (insbesondere von der ZEIT, aber auch in der FAZ) am Köcheln gehalten wird. Kern der Auseinandersetzung ist Peter Sloterdijks Artikel »Die Revolution der gebenden Hand« (allerdings auch einige Kapitel aus dessen Buch »Du musst dein Leben ändern«). Axel Honneth glaubte daraufhin nun Sloterdijk angreifen zu müssen, in dem er ihn – grob verkürzend – in durchaus altlinker Manier als Neu-Rechten und/oder wirtschaftliberalen denunziert, der irgendwie blind für die Bedürfnisse von Hartz-IV-Empfängern ist. Es gab einiges Feuilleton-Geplänkel und sogar eine brillante, aber schwer verständliche Verteidigungsrede von Karl-Heinz Bohrer in der FAZ.
Aber Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk wenn er nicht zu einer Art Befreiungsschlag ausgeholt hätte; abgedruckt in »Cicero« mit dem ambitionierten wie provokativen Titel »Aufbruch der Leistungsträger«.
Der Artikel ist natürlich ungeachtet dessen, ob man Sloterdijks These von einer Revitalisierung von Politik nach dem 27. September teilt oder nicht, ziemlich lesenswert und erfischend. Das gilt zunächst insbesondere für die historischen Aperçus, die Sloterdijk einstreut. Nach einem kleinen Epilog wider die abgekartete Gruppendynamik in unserer Diskursgesellschaft folgt zunächst eine pointierte Abrechnung mit den Kohl-Jahren, die er für die Ursache der aktuellen Probleme sieht:
Die muntere Fahrt in den Dreck, in dem der Karren heute steckt, begann – soweit man das zur Stunde überblicken kann – Anfang der achtziger Jahre, als Helmut Kohl an die Macht gelangte, ein Mann, der schon durch seine markant formlose Physis den Zeitgeist des finalen Konsumismus prophetisch verkörperte. […] Unter Helmut Kohl ist in unserem Land ein einzigartiges psychopolitisches Syndrom entstanden, das ich die deutsche Lethargokratie nenne. Von weitem erinnert sie an altchinesische Zustände insofern, als schon vor zweitausend Jahren bei den Ratgebern des Kaisers von China die Weisheitsmaxime zu hören war: Die beste Herrschaft sei diejenige, von der das Volk glaubt, sie finde gar nicht statt. Demnach soll im öffentlichen Raum nicht mehr an Lenkung, Dominanz und Machtausübung spürbar werden, als Wasser verspürt, wenn es dem Hang des Geländes folgt. Die im Rückblick unfassbar lang erscheinende Kohl-Ära – sie dauerte schier endlose sechzehn Jahre, 1982 bis 1998 –, war so gesehen eine stilreine Hang-Dynastie. Da rutschte jeder jeden Buckel runter, der abwärts ins Wahrscheinlichere führt, immer entropisch munter hinunter ins Allzumenschliche, der sozialen Endformel entgegen: Urlaub, Umverteilung, Adipositas. […] Kurzum, die lethargokratische Grundstimmung, die bis gestern über unserem Land lag und auch nach dem 27. September nicht ganz verschwunden ist, reicht unmissverständlich bis in die Jahre, die ihr kennt, zurück. In ihnen wurde die Große Koalition aus Spaß und Stagnation geschmiedet, die für eine ganze Generation junger Deutscher den letzten Horizont markierte. Trägheit und Frivolität wurden damals unzertrennlich. Zieht man nach solchen Zeiten Bilanz, so ist in ihnen, wie das Vertretersprichwort sagt, tatsächlich außer Spesen nichts gewesen, und wenn uns nicht mitten in den Kohl-Jahren wie aus heiterem Himmel die deutsche Wiedervereinigung in den Schoß gefallen wäre, man würde sich schlechthin an nichts erinnern – ein paar schöne Nachmittage auf der Terrasse ausgenommen. Es war Kohl’sche Regierungsweisheit, scheinbar oder wirklich drängende Probleme zurückzustellen, wie um zu beweisen, dass sich das Meiste durch Ignorieren erledigt. Kohls hohe Kunst des Nicht-zur-Kenntnis-Nehmens von Dringlichkeiten war engstens mit der schon damals nicht neuen Technik der Staatsschuldenausweitung verknüpft. Im Grunde war er wie ein chinesischer Regent davon überzeugt, das Nichthandeln sei stets dem Handeln vorzuziehen. In seiner Regierungszeit wurde das Wort „Reformstau“ zum Synonym für deutsche Befindlichkeiten. Der Kanzler selbst war der Stau in Person, und er war in den Stau verliebt – denn der stellte sicher, dass der Mann, der ihn überholen könnte, sollte er schon geboren sein, keine Chance hätte, an die Spitze der Kolonne vorzufahren.
In den sieben Jahren Rot-Grün, in der zwei testosteronbefeuerte Alphatiere es genossen, an der Spitze des Staates zu schweben war es ausgerechnet der nichtlethargische Gerhard Schröder, der damit den Niedergang seiner Partei einleitete, in dem er eine Reformpolitik betrieb, von welcher der listig träge Kanzler Kohl stets die Finger gelassen hatte. Der von Sloterdijk gezogene Schluss ist höchst originell: In dem Kohl in Lethargie erstarrte, verursachte er zwar die Niederlage 1998, trug aber indirekt zur CDU-Herrschaft ab 2005 wieder bei:
Seit den Tagen Helmut Kohls herrscht im Bundestag nicht bloß das Gesetz der Wählerverwirrung durch Programmvertauschung zwischen links und rechts, auch der Begriff Opposition hat einen neuen Sinn angenommen: Opposition ist längst nicht mehr das, was die Nichtregierungsparteien treiben. Opposition wird wirksam nur noch durch die aktuelle Regierung ausgeübt, und zwar dadurch, dass sie ihrer möglichen Nachfolgerin die Probleme hinterlässt, an denen sie zuverlässig scheitert. In diesem Sinn brachte die Merkel-Wahl von 2005 eine späte Genugtuung für den Vater aller Lähmungen. Auf seinen Spuren zog seine natürliche Tochter ins Kanzleramt ein. Man lernt daraus: Der lethargokratische Politiker wird mittelfristig belohnt, weil er und seine Nachfolger die besten Chancen haben, die nächste Wahl zwar zu verlieren, aber dafür die übernächste zu gewinnen.
Erst danach kommt Sloterdijk zu seinem eigentlichen Thema: Die Behauptung, in Deutschland würden die Leistungsträger in einer Art Semi-Sozialismus abgeschröpft. Tatsächlich sieht er den Sozialdemokratismus der 1970er Jahre immer noch in stetigem Wachstum. Die Transfermaschine des Staates gehe ihren Gang, unabhängig davon, wie die Wahlresultate der SPD derzeit aussehen. Aber dieses System stößt seit einer Weile an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, weil die Zahl derjenigen, die überhaupt noch in der Lage sind, die Kassen zu füllen, dramatisch schrumpft. Sloterdijk plädiert für einen neuen »Gesellschaftsvertrag«:
Es gilt, eine Integrationsformel höherer Stufe zu finden, kraft welcher eine zunehmend heterogene Staatsbevölkerung als Leistungsträgergemeinschaft jenseits der divergierenden Herkunftskulturen bestimmt wird. Diese Formel kann nur durch einen neuen »Gesellschaftsvertrag« zustande kommen, der die Leistungsträger aller beteiligten Seiten in die Mitte der sozialen Synthesis rückt. An dieser Problemfront engagieren sich seit einer Weile die weitsichtigeren Teile der Bürgergesellschaft und der Staatlichkeit. Ihnen ist eines völlig klar: Das soziale Band von morgen wird durch die Investitionen und Integrationen geknüpft, die hier und heute geschehen. Wird die vorausschauende Pflege dieses Bandes vernachlässigt, bringt man durch Unterlassungen von heute den Zerfall von morgen auf den Weg.
Alleine: Ist dieser neue Gesellschaftsvertrag mit Schwarz-Gelb zu schaffen? Wer genau liest, bemerkt bei aller Euphorie Sloterdijks über den so unspektakulären Machtwechsel eine gehörige Portion Skepsis. Die Fronten sind noch nicht eindeutig geklärt. Das Wahlergebnis zeigt: Die sogenannten Volksparteien erodieren – und zwei divergierende Strömungen legen zu: Hier die FDP mit ihrem wirtschaftsliberalen Kurs. Und dort die Linke mit den Umverteilungsideen:
Die Antithese zwischen der Linken und den Liberalen ist überaus bedeutungsvoll, um nicht zu sagen zukunftsentscheidend, weil sich in ihr eine bisher systematisch verschleierte Polarisierung der Gesellschaft in nie zuvor gesehener Klarheit artikuliert. Zum ersten Mal in der Geschichte der neueren deutschen Demokratie treten sich in den Gewinnern des 27. September zwei Gruppen gegenüber, die man so noch nicht miteinander konfrontiert sah. Man möchte fast an einen „Klassen“gegensatz unbekannten Typs glauben, der bisher nicht bis zur offenen Kollision herangereift war. Definiert man jedoch den Begriff der „Klasse“, dem Marx’schen Sprachgebrauch gemäß, durch die Stellung von sozialen Akteuren im „Produktionsprozess“, so sind die neuen Kontrahenten keine Klassen. Mit „Produktion“ hat ihre Entgegensetzung gerade nichts zu tun. Ihre Rolle im System bestimmt sich vielmehr durch ihre Stellung im fiskalisch-monetären Prozess und im staatlich gesteuerten Umverteilungsgeschehen. Hier finden wir in dem einen Lager die Steueraktiven, die den Fiskus mit ihren Abgaben bereichern, im anderen, vorsichtig gesprochen, die Steuerneutralen, die überwiegend von Transferleistungen profitieren. An der neuen politischen Front stoßen also, um die Sache technischer auszudrücken, zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander: hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unumgehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpolitisch festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren.
Viele Fragen bleiben: Was ist mit der »geistig-moralischen Wende«, welche die Kohl-Regierung am Anfang ihrer Regierungszeit versprach? Und warum brach diese zusammen, noch bevor sie überhaupt startete? Die Frage ist deswegen interessant, weil es eine adäquate intellektuelle Aufbruchstimmung von Schwarz-Gelb 2009 nicht einmal ansatzweise gibt.
Wie beurteilt Sloterdijk den Koalitionsvertrag, der doch letztlich nur ein Dokument des systemimmanenten Mangel-Verwaltens und –Abwägens darstellt? Wie soll eine Angela Merkel, die unter dem Staatsverschuldungsbeschleuniger Kohl Politik gelernt hat (und in der Grossen Koalition selbst zur Staatsverschuldungsbeschleunigerin wurde), diese intellektuelle und politische Herausforderung meistern?
Ob dem Herrn Sloterdijk klar ist, dass es ihn ohne diesen kleptokratischen Semi-Sozialismus nicht gäbe? Oder glaubt er gar seine »Produkte« wären in einem libertären Markt überlebensfähig ohne sich zum konsumierbaren Hofnarren zu machen? Wer ist Produkt der geschmähten Siebziger-Jahre, wenn nicht Sloterdijk.
Der zwanghafte Impetus prophetisch und originell zu sein, den Diskurs erschnüffelt und publik gemacht zu haben, erstarrt zur reinen Pose. Soll er sein Getue doch da vollbringen wo es hin gehört, in die Manege. Es ist ihm und einem großen Teil des jammernden Bürgertums zu wünschen, dass nicht mal wirklich
abgerechnet wird, wer Cashcow ist und wer alimentiert wird.
Ich sehe bei Sloterdijk gar keine Beschwerde, allenfalls eine Rhetorik der Feststellung und Unzufriedenheit. Ihm vorzuwerfen, dass er Produkt der Gesellschaft ist, die er kritisiert, ist fast nie zielführend, weil sie Dankbarkeit zum Maßstab erhebt.
>»Ob dem Herrn Sloterdijk klar ist, dass es ihn ohne diesen kleptokratischen Semi-Sozialismus nicht gäbe?«
ich habe nicht den geringsten Zweifel dass er dies (und noch viel mehr) sehr genau sieht.
und imho zeigt Peter42 sehr viel mehr zwangshafte reaktionen...
@Gregor
Leistungsträger als Steueraktive zu definieren ist keine Feststellung. Das ist grober Unfug. Was für ein widerwärtiges Menschenbild. Oder ist der Herr Nonnenmacher jetzt der größere Leistungsträger vulgo Steueraktive, weil er Millionen ergaunert hat. Sind z.B. die Geschäftsführer der Krankenkassen leistungsstärker (sprich mehr Energie pro Zeit) geworden, weil sie sich die Gehälter in Eigenregie dank Gesundheitsfond exorbitant erhöht haben. Ich lese nur ein Sammelsorium unausgegorener Gedanken, die ein philosophischer Partylöwe aus dem Elfenbeinturm in die reale Welt posaunt und dann wieder schnell die Tür schließt, um auf seiner philosophischen Drehbank neue Worte zu drechseln, diese literalen Eyecatcher ohne Sinn aber möglichst schlagzeilenfähig. Der Cicero-Artikel ist ein erbärmlicher Versuch der bedeutungsaufgeladenen Umdeutung eines misslungenen nationalen Intelligenztests. Womöglich hält er sich noch selbst für einen Leistungsträger.
[EDIT: 2009-12-08 21:21]
@Peter42
Wo steht geschrieben, dass er Nonnenmacher für einen Leistungsträger hält? Er greift doch diese Art der Bankzocker an. Die Gleichung Leistungsträger = Steueraktive ist bereits eine Interpretation des Textes, die dieser gar nicht aufkommen lässt, es sei denn, man interpretiert ihn bewusst böswillig (das kann man mit vielem dann machen und sein Mütchen kühlen). Für seine Verhältnisse definiert Sloterdijk die »Leistungsträger« relativ klar: Es sind diejenigen, die mit ihren Steueraufkommen (natürlich legal erwirtschafteten – das muss man doch nicht betonen, oder?) etwas weniger als 50% ihrer Einnahmen zur Verfügung zu stellen, ohne dem in irgendeiner Form ausweichen zu können. Er meint gerade nicht die Oberschicht, die sich eh’ einen Scheißdreck darum schert, da sie ihr Geld in Steuerparadiesen geparkt hat.
[EDIT: 2009-12-08 21:29]
@Gregor
Nehmen wir nur diese dumme Rechnung bezüglich des prozentual enormen Steueraufkommens einer kleinen Oberschicht. Allein, dass er es für nötig hält diesen Allgemeinplatz eines progressiven Steuersystems zu betonen, zeigt den Tiefgang des Artikels. Und ja, ich lese daraus die simple Gleichung, da auch Sloterdijk nicht verborgen geblieben ist, dass Kapitalerträge seit Jahrzehnten stärker steigen als Gehälter. Ihm wird auch nicht entgangen sein, dass die letzte Regierung den Steuersatz auf Kapitalerträge auf einen festen Wert bestimmt hat, so dass sich die Einkommen dieser Leistungsträger noch deutlich auf Kosten der weniger Vermögenden erhöht haben.
Die wirkliche Frage die sich stellt, nämlich »Wer ist überhaupt Leistungsträger?«, touchiert er nicht mal. Eine Krankenschwester o.ä., die zu vollkommen unangemessenem Lohn Schichtdienst arbeitet, ist für mich Leistungsträger. Der Notar, der für alberne Routinetätigkeit maßlose Summen verdient, ist es nicht (Viele weitere Beispiele auf Nachfrage). Das gilt es zu thematisieren und nicht die gesellschaftliche Bedeutung einer Klientelpartei.
Gekühlt werden muss, aber nicht mein Mütchen.
[EDIT: 2009-12-08 22:04]
Mir sind die großspurigen rhetorischen Übergeneralisierungen ziemlich suspekt, mit denen Sloterdijk um sich wirft. So etwas können sich halt Philosophen leisten, weil sie nicht zur Empirie verpflichtet sind. Heraus kommen dann Pseudo-Zeitdiagnosen. Grob geschnitzte Gesellschaftsmodelle, die zwar gut klingen und des einen oder anderen Lebensgefühl ansprechen, die aber die ungleich vielfältigere Wirklichkeit nicht wirklich erfassen.
Aber gut, ich werde nachher, wenn ich mehr Muße habe, diesen Artikel lesen, um mir ein abgewogenes Urteil zu bilden. Vorweg: die Frontstellung gegen »Altlinks« ist ein bisschen gefährlich, sie verführt dazu, so manches Kind mit dem Bade auszuschütten.
Sprücheklopfen oder konstruktive Kritik?
Besonders den von Ihnen zuerst zitierten Teil Sloterdijks Artikels finde ich schon rein sprachlich gesehen sehr amüsant und interessant. Aber Schlechtreden kann ja jeder, es sollten dann ja auch konstruktive Ansätze (man muss ja nicht gleich von der perfekten Lösung ausgehen) folgen.
Die weiteren Zitate waren dann weit weniger interessant. Ich glaube, wenn ich den Artikel durchlesen werde (wenn ich irgendwann einmal Zeit und Lust haben werde), dann wird mir die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben sein. Sie haben das zwar durchaus gut herausgearbeitet, warum, aber dennoch lässt sich zumindest eine derbe Abflachung der anfänglichen Euphorie meinerseits wohl kaum vermeiden. Ein ähnliches Gefühl habe ich auch bei Frank Schirrmachers neuen Buch »Payback«. Ich hoffe, es wird mich nicht enttäuschen...
Da muss sich der Leser dann scheinbar die Frage stellen, ob Sloterdijk sich mit seinem Artikel wirklich als kompetenter Kritiker oder nur als Sprücheklopfer darstellt.
Um das noch mal auf Obama zu beziehen: Ich denke, dass man Obama auf Grund seiner Sprüche – das bekannte »Yes, we can!«, das jetzt etliche Male für kommerzielle Zwecke gar missbraucht wird – etwas überschätzt hat. Obama ist auch nur ein Mensch und kein Gott. Auch er kann den »in den Dreck gefahrenen Karren« nicht einfach so mit einer Hand wieder auf die Strecke bringen.
Und genau denselben Gedanken muss man sich m.E. auch bei der Betrachtung einesjeden Politikkritikers vor Augen führen: Ist der nur verbal gut oder auch in seinen Taten?
@Internetausdrucker und @Count Lecrin
Ich finde die Haltung »wenn ich mal Zeit habe, werde ich mir den Rest durchlesen« und dann trotzdem die Verwendung von Verbalinjurien wie »Sprücheklopfer« oder »Pseudo-Zeitdiagnosen« selber eher sprücheklopferisch und Ausweis einer merkwürdig hochnäsigen Pseudo-Intellektualität.
Man kann Thesen ablehnen, aber man sollte sie vorher wenigstens zur Kenntnis nehmen.
@Gregor Keuschnig
Ich hatte diese Flanke ja nicht umsonst aufgemacht. Da steckt schon ein bisschen Selbstkritik drin. Und ein gewisser Vorbehalt gegenüber den eigenen Aussagen. Zudem habe ich Ihren Text inklusive der Auszüge vor dem Schreiben meines Kommentars überflogen. Ich bitte also um Nachsicht.
Aber ich denke, meinen Vorwurf der »Pseudo-Zeitdiagnose« kann ich leicht aufrecht erhalten. Nehmen wir mal diese Passage von Sloterdijk:
»Da rutschte jeder jeden Buckel runter, der abwärts ins Wahrscheinlichere führt, immer entropisch munter hinunter ins Allzumenschliche, der sozialen Endformel entgegen: Urlaub, Umverteilung, Adipositas. […] Kurzum, die lethargokratische Grundstimmung, die bis gestern über unserem Land lag und auch nach dem 27. September nicht ganz verschwunden ist, reicht unmissverständlich bis in die Jahre, die ihr kennt, zurück. In ihnen wurde die Große Koalition aus Spaß und Stagnation geschmiedet, die für eine ganze Generation junger Deutscher den letzten Horizont markierte.«
Sloterdijk, der Nichtempiriker, generalisiert – »jeder jeden« – also betrifft das ausnahmslos alle. Der Mensch nach Sloterdijk ist wohl ein Herdentier.
Wunderbar auch die »soziale Endformel« »Urlaub, Umverteilung, Adipositas«. Das soll sicher eine Kritik an einer gewissen Saturiertheit sein und an einem Mangel an gesellschaftlicher Utopie und Gestaltungswillen. Schließlich geht es hier nur um den Bauch – ganz und gar wörtlich um das Wachstum des Bauches. Es fehlt hier jegliche Differenzierung z.b. in soziale Milieus oder in politische Strömungen. »Umverteilung« wird gewöhnlich der Sozialdemokratie zugeschrieben oder der katholischen Soziallehre. Was ist mit den Liberalen, gar den Neoliberalen? Letztere gab es auch zu Kohls Zeiten und das Thema Globalisierung und Verschlankung des Staates wurde auch in den 90er Jahren heftig diskutiert.
»die lethargokratische Grundstimmung« scheint ebenfalls bei Sloterdijk ausnahmslos jeden Menschen in Deutschland beherrscht zu haben. Denn sonst wäre es ja keine GRUNDstimmung. Nur gibt es für solche pauschalen Thesen nur irgendeinen Beweis? In dem Text von Sloterdijk sehe ich erst einmal keinen. Gut, nicht immer muss jede originelle Idee abgewürgt werden, indem man Beweise und dicke Anmerkungsapparate verlangt. Dann aber sollte man etwas bescheidener auftreten bzw. mit Widerspruch leben können.
»die für eine ganze Generation junger Deutscher den letzten Horizont markierte.« Eine GANZE GENERATION. Geht es nicht ein bisschen kleiner? Nein, es müssen gleich alle sein. Und wenn eine ganze Generation von solch einem Kulturverfall bedroht ist, droht ja mindestens der Untergang des Abendlandes. Daneben kann man mit einer solchen Diagnose gleich alle Angehörigen dieser degenerierten Generation (Große Koalition aus Spaß und Stagnation) pauschal abwerten. Sie haben alle einen kollektiven Makel. Wer Vorwürfe erhebt, zeigt einmal, dass er sich als moralisch überlegen dünkt. Schließlich sind ja »Umverteilung, Urlaub, Adipositas« nicht die Werte des Herrn Sloterdijk. Also muss der scharfzüngige Kritiker ja besser sein als jene, die diesen egoistischen und saturierten Haltungen verfallen sind.
Verwunderlich ist dabei auch der fehlende Zweifel an den eigenen imposanten Thesen. Wer in Bausch und Bogen ganze Generationen derart verbal niedermacht, sollte vielleicht mal nachprüfen, ob seine Thesen so stimmen.
Lieber Herr Keuschnig,
ich hoffe, ich konnte sie davon überzeugen, dass meine Einwände keineswegs nur
»sprücheklopferisch und Ausweis einer merkwürdig hochnäsigen Pseudo-Intellektualität«
sind. Ich hoffe zumindest, dass mein Vorwurf der »Pseudo-Zeitdiagnose« jetzt etwas mehr bedenkenswert ist.
Unbehagen
Aus dem »wenn ich mal Zeit habe, werde ich mir den Rest durchlesen« lese ich zumindest den Willen, sich erst richtig zu äussern, nachdem man sich naeher mit der Sache befasst hat (nur geht das meist im Rauschen unter; man kommt ja eh’ nicht dazu). – Aus den Ausschnitten heraus Herrn Sloterdijk als Sprücheklopfer zu bezeichnen erscheint mir zwar auch etwas abwegig... aber wenn er vom »Karren im Dreck« spricht, so ist das nicht nur abgegriffen, sondern biedert sich mir doch allzu dumpf an unsere Politikverdrossenheit an (Wäre es nicht an der Zeit verdrossen zu sein von dieser ganzen verdrießlichen Politikerschelte? Ist sie nicht Teil des Niveauverfalls, den zu bezeichnen sie sich vorgenommen hat?).
Der Text von Sloterdijk hatte mich zunächst amüsiert, wie auch die Regeln für den Menschenpark, aber.. ich werde mich noch weiter scheuen, mein Unbehagen zu äußern, da es sich vielleicht auch um ideologische Differenzen handelt bzw. ich Sloterdijks Menschenbild ablehne – Diese Scharmützel sind ja auch hier in den Kommentaren schon kurz ausgebrochen. Wahrscheinlich war dieses Links-Rechts-Gekloppe zu provozieren auch Absicht und Vergnügen von Herrn Sloterdijk; Warum aber hat er dergleichen noch nötig, da er doch 1999 schon (mit gutem Grund) den Tod der kritischen Theorie feststellte (http://www.zeit.de/1999/37/199937.sloterdijk_.xml – wenn ich die damaligen Umstände richtig erfahren habe, haben sich Herr Thomas Assheuer und die anderen Skandalisierer der ersten Stunde Martin Meggle, Rainer Stephan eher selbst diskreditiert.. )?
@Internetausdrucker
Jeder Historiker, jeder Zeitgeistforscher betreibt generalisierende Aussagen. Gerade in der Diagnose der Kohl-Jahre (und in Abstrichen auch der Schröder-Ära) sehe ich viel Zutreffendes. Es war letztlich Helmut Kohl selber, der dann irgendwann vom »kollektiven Freizeitpark« sprach – und damit gleichzeitig den Bankrott seiner »geistig-moralischen Wende«, die nie mehr als nur eine Schimäre war, zugab. Das war/ist der beste Zeuge für Sloterdijks zugegeben pointierte Sicht der Dinge.
Der zweite Zeuge der »lethargokratischen Grundstimmung« ist Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der in seinem leider fast vergessenen Interviewband mit Hofmann/Perger von einer Art Delegation des Bürger an die politischen Institutionen sprach. Zwar wollte er nicht von einem stillschweigenden Vertrag sprechen (das wäre zu ungenau – außerdem war er damals noch im Amt), aber seit den 80er Jahren sah von Weizsäcker eine Haltung bei den Wählern, die der Politik eine Art Blankoscheck ausstellt, wenn man dafür mit grösseren Veränderungen verschont bleibt (das sind meine Formulierungen; von Weizsäcker drückt sich wesentlich elaborierter aus; sie können hierzu einiges auf meinem Blog mit entsprechender Suche finden).
Es ist doch auch diese Zeit, die Kohl-Jahre, die von den Verfechtern der »Bonner Republik« im nachhinein noch verklärt wird. Im Grunde knüpfte doch Schröder daran an, als er die Wahl 1998 nicht zuletzt damit gewann, dass er versprach, nicht Vieles anders sondern besser zu machen.
Ihren Einwand bezgl. der sogenannten »Neoliberalen« (ein Begriff, der vollkommen falsch verwendet wird, weil »Neoliberale« etwas ganz anderes sind, als immer behauptet wird, aber lassen wir das) nimmt Sloterdijk sehr wohl auf, als er den unter Kohl ständig noch ausgebauten Sozialstaat anspricht. Das ist gemeint mit der Formulierung Schröder machte die Politik, die Kohl listig vermied.
Überraschend die Forderung, man sollte seine eigenen Thesen in einem deratigen Essay auch noch befragen. Das ist doch exakt der gestus des weichgespült-nichtssagenden, den jemand wie Sloterdijk nicht einschlägt. Da fällt mir dann nur noch die Plattitüde des »wasch mich, aber mach mich nicht naß« ein. Ich glaube, von der (traurigen) Textgestalt haben wir genug.
Natürlich ist Sloterdijks Aufsatz pointiert und von gewissen Eitelkeiten nicht frei. Aber er stösst ein Fenster auf. Mag sein, dass viele die frische Luft nicht mögen, weil ihnen in ihrem Ohrensessel schnell kalt wird.
@Gregor
»Überraschend die Forderung, man sollte seine eigenen Thesen in einem deratigen Essay auch noch befragen. Das ist doch exakt der gestus des weichgespült-nichtssagenden, den jemand wie Sloterdijk nicht einschlägt. Da fällt mir dann nur noch die Plattitüde des »wasch mich, aber mach mich nicht naß« ein. Ich glaube, von der (traurigen) Textgestalt haben wir genug.«
Ich verstehe den Ärger über solche Autoren, die am Ende ihrer ganzen akademischen Plackerei nur ein entschiedenes »vielleicht« zustande bringen. Das ist auch nicht mein Ideal und so etwas lese ich nicht gern. Aber die starke These sollte das Produkt der Arbeit sein, das heißt, man sollte ihre Plausibilität auch anhand der Fakten zeigen können. Dann sind die Überspitzungen durchaus legitim. Aber mögliche gravierende Einwände müssen eben berücksichtigt werden.
Das sehe ich bei Sloterdijk nicht. Es ist dieser hohe Ton, der mich die Wände hochgehen lässt. Dabei hat er vermutlich seinen Schreibtisch niemals verlassen, um etwas über die Welt, über die er schreibt, herauszufinden. Philosophen nähern sich der Wirklichkeit ja oft, indem sie Bücher lesen. Aber das genügt manchmal nicht.
»Es ist doch auch diese Zeit, die Kohl-Jahre, die von den Verfechtern der »Bonner Republik« im nachhinein noch verklärt wird. Im Grunde knüpfte doch Schröder daran an, als er die Wahl 1998 nicht zuletzt damit gewann, dass er versprach, nicht Vieles anders sondern besser zu machen.«
Ich gebe Ihnen hier recht. An den Kohljahren gibt es nicht viel zu verklären. Passend war der Klappentext zu Glotz’ Tagebüchern aus den Jahren 1993/94. Das war die Rede von einem Land, »über dem die Luft steht.«
»aber seit den 80er Jahren sah von Weizsäcker eine Haltung bei den Wählern, die der Politik eine Art Blankoscheck ausstellt, wenn man dafür mit grösseren Veränderungen verschont bleibt«
Das wird von der Politikwissenschaft teilweise auch bestätigt. Da ich selber mal beruflich mit der Bundespolitik zu tun hatte, kann ich das auch aus eigener Erfahrung bestätigen. Es ist reichlich schwer, die Leute an ihre eigene Verantwortung zu erinnern.
»Ihren Einwand bezgl. der sogenannten »Neoliberalen« (ein Begriff, der vollkommen falsch verwendet wird, weil »Neoliberale« etwas ganz anderes sind, als immer behauptet wird, aber lassen wir das) nimmt Sloterdijk sehr wohl auf, als er den unter Kohl ständig noch ausgebauten Sozialstaat anspricht. Das ist gemeint mit der Formulierung Schröder machte die Politik, die Kohl listig vermied.«
Ich meinte etwas anderes: Laut Lösche und Walter (Parteienforscher aus Göttingen) setzt die eine Regierung nur fort, was die andere begann. Sie gelangen letztlich zu der Behauptung, dass Rot-Grün erst dann an die Macht kam, als eigentlich die Bundesrepublik längst die wichtigsten rot-grünen Projekte verwirklicht hatte. Sie hatten mit Amtsantritt kaum noch was zu verwirklichen. Franz Walter behauptet weiter, dass Schröders Agenda den »Neoliberalismus« (was das dann auch immer genau ist) nur fortsetzte, weil unter Kohl längst der Umbau des Sozialstaates begonnen hatte.
Aber dass unter Kohl der Sozialstaat umgebaut wurde, ist heute vergessen und deshalb kommt zur Verklärung der Kohlzeit wohl auch der Mythos der sozialen Nestwärme hinzu. Kohls Bundesrepublik erscheint so im Rückblick als ruhiges, freundliches Wohlstandsparadies. Dies stimmt so – laut Franz Walter – wohl nicht. Es gibt da tatsächlich mehr Reform, als allgemein wahrgenommen wird.
Und das ist es, was ich sagen wollte. Dieses von Sloterdijk zu holzschnittartig entworfene Schema von Zäsuren und Tempowechsel, analog zu den Bundestagswahlen, wird so nicht stimmen.
Auf der anderen Seite glaube ich auch nicht, dass die Merkelin einfach nur die Früchte ihres Ziehvaters erntet. Historisch betrachtet hätte sie ja auch mehrmals scheitern können, nicht zuletzt war der Wahlausgang 1995 äußerst knapp. Im Rückblick wirkt der Siegeszug von Merkel fast zwangsläufig, aber dabei übersieht man die Risiken, die sie hat aushalten müssen.
Das ändert freilich nichts daran, dass sie und andere Figuren Leute Kohls sind, die ihre politische Kultur unter Kohl erworben haben. Wirklich aufmunternd ist dieser Gruß aus der Vergangenheit nicht.
Irgendwie ratlos
...darüber, dass sich diese Feuilleton-Diskussion nicht produktiver gestaltet. Dabei ist die Sloterdijk’sche Utopie
Wäre es dann nicht viel würdevoller und sozialpsychologisch produktiver, dieselben Beträge würden nicht durch fiskalische Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige Zuwendungen von aktiven Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt? Würde man nicht erst nach dieser Umstellung von Enteignung auf Spende wirklich von einer Zivilgesellschaft sprechen dürfen, in der die Bürger mit dem Gemeinwesen durch eine permanente Selbstüberwindung und eine stetige Bestätigung des Etwas-Übrig-Habens fürs Allgemeine und Gemeinsame verbunden sind?
durchaus bedenkenswert. Etwa eine »Zwischenlösung«, die denjenigen der (hohe) Steuern zahlt einbindet, und ihm z.B. eine Zweckwidmung ermöglicht. Man darf sich nicht wundern – mir ist das aus Gesprächen bekannt -, dass z.B. junge (<30), gut verdienende Menschen eben weil sie hohe Steuern bezahlen müssen, kein (weiteres) Interesse an einem sozialen Engagement u.ä. haben, immerhin investieren sie 50% ihrer Arbeitszeit für andere.
Darüber nachzudenken ist legitim, und nicht jeder der das tut betreibt einen Klassenkampf von oben.
@Metepsilonema
Ich würde mich auf den wesentlich ausführlicheren Artikel im Cicero beziehen.
Das wäre eine sinnvolle Frage, wenn das Steueraufkommen (was natürlich gerade von denen, die es am meisten zahlen müssten, am meisten vermieden wird) und die Leistung korrespondieren würden. Das bestreite ich, was auch die vielleicht unangemessene Vehemenz erklärt, mit der ich den Artikel verabscheue. Es wird aber nicht Leistung bezahlt und schon lange nicht Leistung für das Gemeinwohl. Die nötigen Charaktereigenschaften, die man benötigt, um überproportionale Einkommen zu erreichen, gehen in den seltensten Fällen mit einem gesellschaftlichen Altruismus einher.
Der verheuchelte amerikanische Charity-Zirkus ist abstoßendes Beispiel genug, um sich die Frage zu stellen, was man auf dem Fundament bauen soll? Nicht mal den Kirchen traut man in Deutschland zu, sich über eine freiwillige Abgabe zu finanzieren. Aber in Notgeratene sollen Brosamen auflesen, statt einen verbrieften Anspruch zu haben? Was ist da würdevoller?
Das Schwarz-Weiß-Denken, dass jeder Wohlhabende sofort den Sozialschmarotzer von seinem Geld leben sieht und der Harz IV-Empfänger auf die da oben schimpft, die sowieso machen, was sie wollen, ist genau so dumm, wie abzustreiten, dass Kapital (nicht Marktwirtschaft) in der westlichen Welt wieder zu oligarchischen Strukturen geführt hat.
Schwarz-Weiss-Denken
ist immer schlecht. Sloterdijks Polemiken sind jedoch (meines Erachtens) Reaktionen. Sie reagieren auf eine seit Jahren geführte Diskussion, die suggeriert, die Bundesrepublik bewege sich in Richtung Manchester-Kapitalismus-Staat (andere Schlagworte sind »Neoliberalismus« [die meisten wissen vor lauter Schaum vor dem Mund gar nicht, was das in Wirklichkeit ist). Das grösste Symbol dieser scheinbaren Entsozialisierung ist das, was mit dem Schlagwort »Hartz-IV« ins Feld geführt wird und heftig bekämpft wird (man kühlt damit sein Mütchen ohne Risiko). Dabei wird fast immer vergessen, wo das Geld herkommt und dass diese Form der Unterstützung keine Daueralimentierung sein soll.
Die Feuilleton-Diskussion kann vermutlich nicht produktiver geführt werden, weil die Meinungsbojen den Weg (leider) vorzeichnen.
Meinungsbojen also. Und das bzgl. der Kritik eines Tümpels des Feuilletons, dessen Tiefgang niemand ins Schwimmen bringt. Was ich vermisst habe, waren Argumente, als Fels in der Brandung sozusagen. Daran kann man wenigstens zerschellen und nicht nur mit hohlem Geräusch plump anschlagen. Ich glaube eher man bewegt sich hier weit weg von der Küste in der Discounter-Ausgabe Kastaliens und wirft Murmeln, weil das echte Leben langweilt, so unoriginell. Ich wünsch’ dann mal Mast und Schotbruch.
Ja, Meinungsbojen
Das zeigt doch die affektgesteuerte Ablehnung von Sloterdijks Text (der natürlich selber auch Meinungsbojen setzt – wenn auch andere). Wieso muss ist man nur ein guter Mensch, wenn man dieses dumme Schlagwortgerede von der Armut in Deutschland und/oder den unterschiedlichen Bildungschancen, die es geben soll, mitmacht? Warum darf man nicht sagen, dass die Verantwortung für eine gute Bildung zunächst im Elternhaus liegt und sich nicht in 20 Euro mehr Kindergeld dokumentiert (und auch nicht in 200 Euro mehr dokumentieren würde)?
Im Grunde sagt Sloterdijk nichts anderes, als das diejenigen, die man hier gemeinhin Mittelschicht nennt, am Ende ihrer finanziellen Möglichkeiten sind. Die »Grossen«, von mir aus auch die »Reichen«, haben ihre Möglichkeiten, sich aus der Verantwortung zu stehlen, längst wahrgenommen. Es bleiben nur diejenigen, die er provokativ »Leistungsträger« nennt. Das sind mehrheitlich die Leute, welche die Sozialkassen füllen. Die vielbeschworene Solidarität fährt derzeit auf einer Einbahnstrasse, in der es nur in einer Richtung Zahlungsabsender und Zahlungsempfänger gibt.
Was Sloterdijk ausmacht ist, dass sich der Fokus von der Schilderung der »Hartz-IV«-Welt (inklusive diverser Doku-Soaps im Fernsehen) verlagert hat hin zu dem, was man, in seiner Diktion, den Leistungsträger-Diskurs nennen könnte. Die von ihm genannten politischen Entwicklungen bei FDP und Linke sind nicht ohne »Argumente« (wenn man sie denn lesen möchte), auch wenn sie naturgemäss eher Behauptungen bleiben.
Was ich nicht teilen kann, ist Sloterdijks Euphorie ob einer Art neuen Sicht auf die Probleme – ich sehe genau das Gegenteil (nicht zuletzt deshalb, weil der Staat infolge akuten Geldmangels keinen Handlungsspielraum hat). Aber ghierüber gibt es ja gar keine Diskussion, weil man sich vorher schon in ritualisierter Abscheu gebadet hatte.
Eine Berufskrankheit von Softwareentwicklern ist, dass man die Analyse einer Problemstellung auch im echten Leben schwer abstellen kann. Der zwanghafte Drang in allem und jedem Abhängigkeiten zu finden, zu isolieren, um möglichst querverbindungsfreie Kerne eines Systems zu finden, lauert überall. Der Vorwurf der affektgesteuerten Ablehnung ist eine bodenlose Frechheit. Übrigens ist deine Rezeption des Textes eine Transformation in das Weltbild, was du auch sonst vertrittst. Ich glaube nicht, dass dies dort so steht. Das soll es aber jetzt auch gewesen sein.
Warum so empfindlich?
Die Ablehnung ist meistens affektgesteuert – nicht nur hier, besonders auch in den FAZ- und Cicero-Kommentaren. Was ist an dieser Feststellung eine Unverschämtheit? Wer Sloterdijk mit Attributen wie Partylöwe versieht und schreibt Ob dem Herrn Sloterdijk klar ist, dass es ihn ohne diesen kleptokratischen Semi-Sozialismus nicht gäbe? verteilt Benimmkärtchen? Bitte nicht.
Die Stelle Übrigens ist deine Rezeption des Textes eine Transformation in das Weltbild, was du auch sonst vertrittst. Ich glaube nicht, dass dies dort so steht. verstehe ich nicht.
Natürlich ist meine Interpretation eine Transformation bzw. Interpretation (ich sag’ ja nicht, dass es die »richtige« ist – falls es so eine gibt). Ich muss auch gar nicht 100% mit dem Text übereinstimmen (in der historischen Bewertung der Kohljahre bspw. habe ich ja meine Vorbehalte formuliert) – aber ihn nur deswegen nicht zur Kenntnis zu nehmen, weil er sich mit dem Gegensatz von Krankenschwester-Bezügen und den in der Tat unverschämten Notargebühren nicht beschäftigt – das ist mir ein bisschen zu einfach.
@Peter42
Mich würde eine genauere Begründung interessieren, warum Du der Ansicht bist, dass im allgemeinen nicht leistungsbezogen bezahlt wird – ich meine keine Ausreißer nach oben hin, über die wir ohnehin einig sind, sondern warum das z.B. in der sogenannten Mittelschicht nicht der Fall sein sollte, einschließlich dessen was »Leistung« ist, und was »angemessen«. (Ich kann Gregor da schon ein wenig verstehen: Die Reaktionen sind oft drastisch, die Begründung bleibt spärlich, und das ärgert dann denjenigen, an den es gerichtet ist. Ich denke auch, dass die gesamte Diskussion im Sinne des Gesellschaftlichen Zusammenhalts begrüßenswert ist, aber dafür muss man über eine Abwehr der Gegenposition hinausgehen.)
Ähnliches gilt für die oligarchischen Strukturen: Klar, global agierende Unternehmen und/oder Kapital bedeuten potenzielle Macht. Aber erst deren Konkretisierung, kann man bewerten, und dafür braucht es Beispiele, jedenfalls tue ich mir sonst mit einer Diskussion schwer.
Warum sollte ich mich auf den Cicero-Artikel beziehen?
Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Erträge aus Börsenspekulationen oder Kapitalgeschäften, die nicht jedem offen stehen, halte ich per se für moralisch fraglich. Im Steuerrecht gibt es noch haufenweise Begünstigungen gesellschaftlicher Gruppen, die genug Einfluss haben. Die Befreiung von der Gewerbesteuer für Berufsgruppen wie Ärzte, Rechtsanwälte etc. ist z.B. noch echtes Relikt aus der Zeit vor 1918. Da profitiere ich noch heute von, da ich als Dipl.Ing. keine Gewerbesteuer zahle. Täte das ein ungelernter Entwickler, müsste er. Die Gewerkschaft, die am effektivsten streiken kann, erreicht höhere Lohnsteigerungen (man schaue sich nur die Unterbezahlung der sozialen Berufe an). etc.pp.
Aber mache einfach mal ein Gedankenexperiment. Unter der Annahme, dass jeder alles kann und jeder Job gleich bezahlt wird, muss die gesamte Arbeit verteilt werden. Natürlich wird manche Arbeit beliebter sein, andere eher gemieden. Im zweiten Schritt senkt man jetzt das Einkommen der beliebten zu Gunsten der unbeliebten Tätigkeiten. Das führt man weiter, bis alle Jobs vergeben sind und vergleicht das Ergebnis mit der tatsächlichen Verteilung. Was meinst du, wie das Ergebnis aussähe? Das wäre übrigens für mich Sinn und Zweck der Marktwirtschaft.
P.S. Natürlicherweise finde ich meine Argumentation nicht dürftig. Die von dir zitierte These ist durch mein Kirchenbeispiel nicht sturmreif geschossen?
P.P.S. Die oligarchischen Strukturen sind nicht mehr zu übersehen. Welche wesentlichen Entscheidungen unterliegen noch dem offenen demokratischen Diskurs?
P.P.P.S. der Cicero-Artikel ist ausführlicher und damit nachvollziehbarer.
Erträge aus Börsenspekulationen oder Kapitalgeschäften, die nicht jedem offen stehen, halte ich per se für moralisch fraglich.
Welche Börsenspekulationen oder Kapitalgeschäfte stehen denn nicht jedem offen?
Im Steuerrecht gibt es noch haufenweise Begünstigungen gesellschaftlicher Gruppen, die genug Einfluss haben.
Was hat das mit Sloterdijks Artikel zu tun?
Befreiung von der Gewerbesteuer für Berufsgruppen wie Ärzte, Rechtsanwälte etc. ist z.B. noch echtes Relikt aus der Zeit vor 1918.
Die Sektsteuer ist ein Relikt vor dem Ersten Weltkrieg. Noch einmal: Was hat es mit dem Tenor von Sloterdijk zu tun?
Sinn und Zweck der Marktwirtschaft ist es, die Arbeit nach Kriterien der Beliebtheit zu entlohnen? Was, wenn der »Markt« dies nicht macht (wie gehabt)? Wer bestimmt den, was »beliebt« ist und was nicht?
Welche wesentlichen Entscheidungen unterliegen noch dem offenen demokratischen Diskurs?
Warum ist das denn so? Wo ist denn die Motivation der Bürger geblieben, sich aktiv zu engagieren? (Man kann ja über die Piratenpartei denken, was man will – aber das ist immerhin ein Anfang). Oder weil sie sich längst in ihrer scheinbaren Bedeutungslosigkeit suhlen?
Dass meine Frage nicht ganz so abwegig ist, wie du vermutest, mag dieser Artikel aus der linken Krawallpresse zeigen. Dort findet man auch andere Stimmen, die meine Aversion gegen die Gleichung Leistungsträger = Steueraktive teilen. Ich wiederhole mich: Wenn Einkommen und Leistung nicht direkt korrelieren, ist der Artikel Sloterdijks nicht nur oberflächlich, sondern Unfug. Das habe ich versucht zu zeigen. Und hättest du versucht das Gedankenspiel einmal exemplarisch durchzuführen, wärst du vermutlich auf den Trichter gekommen, was ich meine. Angebot und Nachfrage in seiner reinsten Form. Da die Praxis völlig anders aussieht, sollte man vermuten, dass etwas faul ist. Vielleicht kauft die INSM ja deshalb Sendezeit in den Daily Soaps?
Der berühmte Altstalinist Christian Ude behauptet übrigens: Aber die Steuerfreiheit gewisser Berufssparten ist ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert und gehört dringend modifiziert. Etwas nüchterner erscheint der Blick des Juristen. Beides von der ersten Google-Trefferseite.
Das ist allerdings eine Frage, die sich lohnt zu beantworten.
Zu den Oligopolen schreibe ich nichts mehr. Wer das nach den letzten zwei Jahren bestreitet, ist als Diskussionspartner uninteressant.
Spät, aber doch ...
@Peter42
Die Menschen werden, solange sie mit weniger Geld (noch) gut auskommen, jene Tätigkeiten wählen, die sie lieber haben, ganz klar (mein Hauptkritikpunkt ist, dass es aber keine allgemeine Beliebtheit gibt, sieht man von einigen Berufen ab: Mancher ist lieber Tischler als Banker, oder Gärtner als Journalist, und zudem kann eben nicht jeder alles gleich gut). Worauf genau willst Du hinaus? Dass die beliebten Tätigkeiten auch noch gut bezahlt werden, und umgekehrt? Müssen nicht auch Ausbildung, Können, Verantwortung, Nachfrage u.a. einbezogen werden?
Die von dir zitierte These ist durch mein Kirchenbeispiel nicht sturmreif geschossen? Nein, weil ich nicht von Freiwilligkeit gesprochen haben, zumindest nicht im hier und heute. Prinzipiell: Was wäre falsch daran, ein Abgabenmodell zu entwickeln, das anders als heute üblich funktioniert, und die »Gebenden« mit den »Nehmenden« anders als über Zwang verbindet?
Die oligarchischen Strukturen sind nicht mehr zu übersehen. Welche wesentlichen Entscheidungen unterliegen noch dem offenen demokratischen Diskurs? Auch auf die Gefahr hin, dass ich als Diskussionspartner uninteressant werde, wenn wir da nicht konkreter werden, hat es wenig Sinn, den Punkt weiter zu beleuchten. Es ist doch nicht so, dass – um ein Beispiel zu nennen – in Klima- und Energiepolitik einzig und allein Konzerne bestimmen wo und wie es weitergehen soll.
Es mag sein, dass der Cicero-Artikel ausführlicher ist, aber die entsprechende Stelle scheint mir Sloterdijks Idee komprimiert wiederzugeben, und da mir beim Lesen keine Unterschiede aufgefallen sind, sehe ich eigentlich keine Veranlassung etwas zu ändern.
Zum Steuerrechtlichen erst, wenn ich den verlinkten Artikel gelesen habe.
Falls du dies noch nicht gelesen hast, glaubst du vielleicht diesem Magazin mehr als mir, dass es oligarchische Strukturen gibt. Und was glaubst du denn, wer die Klima- und Energiepolitik dominiert? Ein Blick auf die tatsächliche Praxis an der Energiebörse in Leipzig reicht. Ebenso bin ich es müde, über die Binsenweisheit des deutschen ständisch geprägten Steuersystems zu salbadern und dann noch von jemand der zu faul ist einmal zu googeln mit einer Sektsteuerpolemik überzogen zu werden. Manchmal mag man verzweifeln.
@Peter42 / Feindbilder
Es ist immer wieder interessant, auf Spiegel-Artikel verwiesen zu werden und Du hast recht – ich erspare mir das Googlen von anderen vielleicht 10 Spiegel-Artikels, die das Gegenteil behaupten. Mich interessiert auch nicht, was Herr Ude von irgendwelchen Ständesystemen sagt, von denen er immer weiter fleißig profitiert und die abzuschaffen er und seine Partei nicht den Mut hatte.
Es ist müßig, die Politik dafür verantwortlich zu machen, dass der Bürger sich nicht mehr in der Politik arrangiert. Ein perfekter Delegationsmodus, um die eigene Lethargie (!) anderen in die Schuhe zu schieben. Ich mag es nicht mehr hören, die wohnzimmerwärmige Faulheit (das ist nicht ad hominem gemeint) und das Herumgenöle, die anderen sollen doch bitte.
Ähnliches sieht man beim sogenannten Klimagipfel – Entrüstung überall, weil die Damen und Herren Regierungschefs sich nicht haben einigen können und dann mal schnell mit dem Wagen zum Bäcker gefahren. Tenor: Wenn DIE sich nicht einigen können, warum soll ich? Ist denn dieser Kennedy-Spruch so falsch, nur weil er von einem Amerikaner ist?
Klischees, ich weiß. Aber was bringt es, in der INSM den bösen Feind zu sehen, der uns unterwandert? Man wähnt sich zwar auf der richtigen Seite – aber wie weiter? Und von »oligarchische Strukturen« zu sprechen als lebten wir in Russland ist doppelter Unsinn. Erstens kann jeder einen aktiven politischen Beitrag leisten (siehe oben) und zweitens suggeriert es, als sei früher alles besser gewesen. Und da hülfe natürlich dann doch der Blick auf Sloterdijks Beschreibung der Kohl- und Schröder-Jahre, dieses Wechselspiel zwischen Aussitzen und »Reformieren« und die Parallelen zu Schmidt sind zum Greifen nahe.
Und wenn man mir den Begriff »Leistung« ein bisschen mehr definiert, dann könnte man auch darüber reden, wie leistungsbezogene Einkommen aussehen könnten und vor allem wer diese festlegt.
Schau dir mal an, wer in Deutschland keine Gewerbesteuer zahlt und gleichzeitig einer Gebührenordnung unterliegt. Steuervorteile gegenüber Schlechterverdienenden einstreichen, sich aber selbst nicht der viel beschworenen Marktwirtschaft aussetzen? Das sind Relikte aus dem 19. Jahrhundert, die niemand ernsthaft bezweifelt. Wenn du das nicht weist, ist das dein Problem. Weg diskutieren kann man diese Tatsachen nicht.
Dir mag es unangenehm sein, dass viel schwadroniert und wenig getan wird. Da die Praxis aber zeigt, dass man bei Aktivitäten für das Gemeinwohl im kleinen bürgerlichen Rahmen immer nur mit den gleichen zwei, drei Mann erscheint, sollte man dies als Tatsache hinnehmen. Geiz ist geil und ich bin ich. In unserer Straße wohnt z.B. eine Familie, die auf das Auto verzichtet, die obligatorische »Gemüsekiste« erhält und sich auch sonst konsequent ökologisch und moralisch verhält. Letzte Woche hatten Ackermann und Bernotat noch auf diese Familie verwiesen und auf Rekordgewinne auf Kosten der Allgemeinheit verzichtet und wollen Kernkraft gegen den Willen der Mehrheit nicht mehr forcieren. Von wem erwartest du, Interessen gegen die Deutsche Bank oder EnBW durchsetzen zu wollen? Das ist in Deutschland fast ausgeschlossen, wenn es nicht um Nebenkriegsschauplätze geht.
In der globalisierten Welt sind einer Seite die Machtmittel stark beschnitten worden, die andere ist massiv gestärkt worden (man schaue auf die hilflosen, gescheiterten Versuche der SPD sich der Tatsache der Hedgefonds und von Private Equity zu entziehen). Nur noch hochqualifizierte Facharbeiter könnten gewerkschaftlich organisiert (gerade die sind es kaum noch) überhaupt noch Einfluß ausüben. Die Diakonie hat z.B. gerade für ihr Pflegepersonal die Löhne drastisch gesenkt, während der Marburger Bund zum dritten Mal in Folge weit überdurchschnittliche Steigerungen fordert. Die nächsten Jahre bis Jahrzehnte werden mangels Masse Zeiten von Verteilungskämpfen werden, deren Gewinner heute schon bekannt sind.
Da braucht man nicht von guten alten Zeiten sprechen. Der Mittelpunkt hat sich schlicht verschoben und die unproduktive Finanzbranche ist vierte Macht im Staat.
Zur Ergänzung...
ein Artikel von Ulrich Greiner (auch viel kommentiert): Die Würde der Armut. Interessant der Text in der URL: »Klassenkampf«.