Lutz Rathenow: Trotzig lächeln und das Weltall streicheln
Wolfgang Hermann: Der Garten der Zeit
Peter Handke: Die Ballade des letzten Gastes
En détail:
Lutz Rathenow: Trotzig lächeln und das Weltall streicheln
Im letzten Jahr wurde der in Jena geborene und inzwischen in Berlin lebende Lutz Rathenow 70 Jahre alt. Dazu erschien im Kanon-Verlag ein von Marko Martin herausgegebenes Kompendium mit dem für den Dichter typischen Titel Trotzig lächeln und das Weltall streicheln nebst programmatischen Untertitel Mein Leben in Geschichten. Neben Lyrik schrieb Rathenow zum Broterwerb in der DDR Kinderbücher. Beide Genres kommen im Buch kaum vor, weil »vor allem ein deutsch-deutscher Autor im Spannungsfeld zwischen (autobiografisch grundierter) Fiktion und essayistisch-publizistischer Reflexion vorgestellt« werden soll. Das gelingt. Auf den knapp 300 Seiten dieses Bandes finden sich Erzählungen, Glossen, Parabeln und Satiren und manchmal alles zusammen aus mehr als vierzig Jahren; einiges davon bisher unveröffentlicht.
Er sei ja ein »nörgelnder Charakter«, so Rathenow 1996 zu Carsten Gansel und Martin stellt in seinem Nachwort heraus, wie Rathenow mit Eingaben an Behörden, An- und Rückfragen und seinen gleichnishaften Texten der DDR-Nomenklatura auf die Nerven ging, so viel »Schaden wie möglich anrichten« wollend. Eine Ausreise kam für ihn nicht infrage, vermutlich auch, weil man dies irgendwie erwartete. Dabei findet man politisch markant vorgebrachte Überzeugungen bei Rathenow ebenso vergeblich wie den Drang, sich nach der Wende als Besserwisser zu inszenieren. Sein »Wille zur Distanz, sich nicht zu sehr beeindrucken zu lassen« (eine Erzählfigur wird so beschrieben) hielt auch nach dem Mauerfall an. Beklagte er 1986 im Wiener die gegenseitige »übertriebene Toleranz« der Intellektuellen »für die Schwächen des anderen Staates«, so entdeckte er zehn Jahre später den Kapitalismus mit Tübinger Antlitz. Die Jugend traf sich »zu Mülltrennungsfesten«. Alles war »vorschriftsmäßig und »die Zukunft wird gut«.
Der Band besticht durch eine große Bandbreite der Genres. Der Leser vergnügt sich über das Schalkhafte seiner Parabeln und bewundert diese skurrilen, an Märchen oder Fabeln anknüpfende Geschichten genau wie die Grotesken, wenn etwa ein Spitzel beschrieben wird, der sich Gegenständen anverwandelt, um nicht gesehen zu werden oder Fritz, den Dieb, der zum Engel wird, als er bei einem Einbruch ein kleines Mädchen vorfindet und ihm Geschichten erzählt, um nicht entdeckt zu werden.
Zwischenzeitlich muss man sich daran erinnern, dass Rathenow unter ständiger Beobachtung der Stasi stand (15.000 Seiten Material fanden sich später über ihn) und Balanceakte vollführen musste. Es verwundert fast, dass er 1980 nur neun Tage in Haft gekommen war (freilich wusste er nicht, dass es dabei bleiben sollte). Über seine Eindrücke dieser Haft finden sich nachträglich verfassten Notizen im Band. Was bleibt von der DDR? Eine »Briefmarkenhinterlassenschaft«? Trauer oder Glück? Weder noch. Einmal heißt es: »Er befahl sich, einfach glücklich zu sein.« Wenn das so einfach wäre. 2011 übernahm Rathenow gesellschaftspolitische Verantwortung, war zehn Jahre Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
Ab der 1990er Jahren schreibt er auch Reportagen, war bei DDR-Verehrern in Uruguay zu Gast, fuhr 2003 im Bus nach Kaliningrad, war in Alexandria während des Arabischen Frühlings oder entdeckte Menschen am Alexanderplatz. Der letzte Text in diesem rundum gelungenen Buch handelt von einem Protagonisten, der fasziniert von den Handytelefonaten seiner Mitmenschen ist und am liebsten den Leuten folgen möchte, um zu erfahren, wie es weitergeht.
Schon beim Titel Noch nicht mehr kann man erahnen, dass Per Leos Essayband über Die Zeit des Ruhrgebiets weit entfernt ist von den gängigen Schablonen über den »Pott«. Als abschreckendes Beispiel hierzu wird eine Reportage von Heinrich Böll aus dem Jahr 1958 referiert, die in einem schönen Verfahren einem kurzen Feuilletons von Joseph Roth von 1926 gegenübergestellt wird. Deutlich dabei: Joseph Roth hatte mehr vom Ruhrgebiet verstanden als Böll, was vielleicht damit zu erklären war, dass sich in den 1920er Jahren noch letzte Spuren einer Agrarwelt fanden, die der Montanindustrie um die Jahrhundertwende einsetzte und in den 1950er Jahren gänzlich verschwunden war.
Bölls Text entstand »ziemlich genau in der Mitte zwischen der Formierungsphase jener mächtigen Wirklichkeit, für die in den 1920er-Jahren der Name ‘Ruhrgebiet’ aufkam, und unserer Gegenwart.« Kurz zuvor wurden sowohl die Subventionen wie auch »die Einfuhrzölle für ausländische Kohle aufgehoben und damit die westdeutsche Montanwirtschaft der Dynamik des Weltmarkts ausgesetzt«. Das Zechensterben begann, schleichend, aber unaufhaltsam. Als die Unausweichlichkeit deutlich wurde, verfiel man »zwischen Größenwahn und Panik«, entwarf Utopien für die Zukunft, wie »schwarz-grünen Symbiosen aus Förderanlagen, Veredelungsfabriken, hochmoderner Infrastruktur und waldumkränzten Mustersiedlungen« oder großflächigen Park- und Denkmalanlagen, alles mit »einem Pragmatismus, der schon eine simple Straße zwischen Duisburg und Dortmund, den sogenannten Ruhrschnellweg, als Triumph der Regionalplanung über den Wildwuchs der Bahntrassen und Feldwege feierte.« In Wahrheit herrschte (herrscht?) im Ruhrgebiet Kirchturmpolitik und Provinzialismus. Leo gelingt es, die Zerrissenheit zwischen Erinnerung und Zukunft, Nostalgie und Utopie als Besonderheit der Region herauszuarbeiten: Diese »lag nicht im Tempo der Veränderung, sondern zum einen in der Radikalität, zum anderen in der Serialität des Verschwindens.«
Im zweiten Teil widmet er sich einzelnen herausragenden Protagonisten der Region, wie dem »Klartext«-Verleger Lutz Claßen sowie der sogenannten »Essener Schul«, einem losen Zusammenschluss etwas anderer Historiker (Lutz Niethammer Detlev Peukert, Michael Zimmermann, Erich Schmidt), die nach Interviews mit Zechenarbeitern über ihre Zeit im Nationalsozialismus zu der Erkenntnis kamen, »dass das Volk sich nicht um die Zäsuren scherte, die den Ideologen, den Politikern, den Journalisten und den Historikern so unhintergehbar erschienen.« Schließlich wird die Bedeutung des Münchner Olympiaparks für die diversen Projekte der Post-Kohle-Ära thematisiert. Man wird in diesem Buch über den Unterschied zwischen Text- und Fotobänden geschult, erfährt die Differenz zwischen Raum und Land, bekommt Details zur Emscher-Renaturierung und erlebt gegen Ende das (visionär erscheinende) Idealbild für das Ruhrgebiet als einer »Landschaft, ein Stück Land, dessen Werden man bewohnen und dessen Vergehen man bereisen kann.« Dies vergegenwärtigt, versteht man den Titel des Buches.
Wolfgang Hermann: Der Garten der Zeit
Der Garten der Zeit heißt das kleine Büchlein von Wolfgang Hermann mit noch nicht einmal 130 Seiten. Ich habe 87 Texte gezählt, manche bestehen nur aus einem oder zwei Sätzen, keiner ist länger als zwei Seiten. Wobei »Texte« eine unzulängliche Bezeichnung ist. Es sind eher Erzählkapseln; Reflexionen, Meditationen, Zeitbeschwörungen, gespeist von fast kindlicher Neugier und glühendem Enthusiasmus den Dingen und Erscheinungen gegenüber.
Dabei sucht hier jemand »auf der Schwelle seiner mittleren Jahre« nach der verborgenen, versteckten Zeit, ob im Garten, im Wald, in einem Stein, in der Ameisenwelt, im Spiel vom Kindern oder als Botschaft einer eingebildeten Runenschrift fliehender Krähen. Es sind Übungen des Schauens und Hörens, etwa wie man an den Windgeräuschen der Blätter die Baumart und Tageszeit zu erkennen vermag. Oder man gibt sich dem Farbenspiel von Baumrinden hin. Der Leser wird mit diesem »Anblicksammler« (ein Begriff von Peter Handke) auch zum Entdecker, etwa bei der Böschung eines Gartens, die überwachsen von Kräutern und Beeren, »die Zeit im Verborgenen« hortet, »in deren Schatten die Jahreszeiten atmen«. Von nun an wird man nie mehr diese Art der Vegetation »Unkraut« nennen.
Am Schluss ein »Nachspiel«. Der Erzähler rekapituliert seine Reiseeindrücke und je nach Land werden die verschiedenen »Spielarten des Regens mit unendlich vielen Spielarten des Lichts« weniger erzählt als herbeigezaubert. So schön kann Regen sein. Wo man wohl den waagerechten Schneeregen finden kann? Und wie fühlt sich der Regen der ostasiatischen Regenzeit im Juni an?
Wer kann, sollte aus der Lektüre ein kleines Ritual machen: Jeden Tag einen Eintrag lesen (und sich praktisch als Zugabe an der ein oder anderen Zeichnung von Timna Brauer erfreuen). Die Welt ist danach reicher.
Peter Handke: Die Ballade des letzten Gastes
Und nun also wieder ein Gregor, Gregor Werfer, von Beruf Chronist, der »Einäugige«. Er beendet das letzte Stück seiner Reise (11 Stunden 33 Minuten dauerte der Flug), der »Heimkehr zu den Seinen«, im Autobus, mäandert durch die »menschenleere Natur« und muss die unauffällig gewordenen, »zwischen den Hochbauten« geschrumpften Kirchtürme suchen. Eine Woche ist eingeplant bei den Eltern, der Schwester Sophie und deren (formal vaterlosen) Baby, das getauft werden soll mit ihm als Paten. Kurz zuvor hat er auf dem »Taschentelefonschirm« die Bilder des Grabes seines jüngeren Bruders Hans gesehen, des Lieblings der Familie, der bei der Fremdenlegion war und dort ums Leben kam. So beginnt diese Ballade des letztes Gastes, eine Transformation der Ereignisse von 1943 in Peter Handkes Familie. Gregor Siutz, der Taufpate Handkes, zwangsweise eingezogen (auch er auf einem Auge erblindet), kehrte damals kurz von der Front zurück, mit dem Wissen, dass der Bruder kurz zuvor gefallen war und verschwieg dies vor der Familie. Wenige Monate später kam auch er auf der Krim ums Leben. »Stellen Sie sich das vor: er sagte nichts«, so Handke mit fast zitternder Stimme zu mir. Das sei »kein Realismus, sondern die Realität« gewesen.
Fast immer wird personal aus Gregors Sicht erzählt, nur manchmal, unverhofft, ins »Ich« gewechselt. Es ist ein Spiel mit sich selbst, was der Dichter treibt. In Immer noch Sturm kehrte der Patenonkel als Widerstandskämpfer ins freie Kärnten zurück. Und jetzt, in der Ballade, achtzig Jahre nach seinem Tod, als Wiedergänger und Handke selber wird zum Täufling, um den es vordergründig bei diesem Besuch geht (und dessen Zukunft später gepriesen wird) und dies sogar inklusive der »Vaterlosigkeit« (in Wahrheit hatte er ja zwei Väter).
Den Gregor Werfer der 2020er Jahre hält es nicht lange im Elternhaus, bricht auf, zu einer dieser Handke’schen Ein-Mann-Expeditionen, die man glaubt zu kennen, aber immer anders verlaufen. Heuer geht es in den verwilderten Garten, dort wird der Wildwuchs mit der Motorsäge beseitigt und plötzlich zeigt sich ein Wildapfelbaum mit vollen, bitteren Früchten, »daß es dir das Arschloch zusammenzieht bis Allerseelen.« Weiter im Wald; Übernachtung in einem einstigen Bombentrichter. Kurz wird er zum Wald- und Welterklärer einer »Waldforschungskarawane«, erzählt von geheimnisvollen Flechten (das Cover!) und ihren Wirkungen, fühlt sich aufgehoben und hin- und hergerissen zwischen Einsamkeit und Menschensehnsucht. Er trifft den »abgedankten Pfarrer« dieser »verstummten und verwehten Dorfkirchengemeinde« und wird schließlich zum »Gasthaussitzer«. Auch hier erfährt er Gesellschaft, Zusammenhalt, aber bleibt in stetiger Unrast, vor allem mit sich selbst.
Am Abfahrtsbahnhof erzählt er schließlich der Schwester vom Tod des Bruders. Nach der »langsamen Heimkehr« zurück, wird noch einmal die Woche evoziert und mit dem Leben abgeglichen. Da war dieses fußballspielende Mädchen: »Etwas Derartiges hatte die Welt, zumindest in seiner, meiner Person noch nicht gesehen.« Die im Wind schwankenden Spinnennetze. Unsichtbare Spatzen in den Büschen raschelnd. »Ein Igel als Blindenhund.« Das Sehen wollte nicht mehr aufhören.
»Ja, das waren noch Zeiten,« so heißt es am Ende, weniger melancholisch oder beschwörend, sondern fast heiter, eben balladesk. Ein Abschied? Man kann es so lesen. Oder nicht doch eher Kondensat eines Lebens? Ob ich ergriffen war, fragte Handke. Ja, sagte ich, gegen Ende, als Gregor wieder zu Hause war und, so vermute ich, die Sehnsucht überkam. Und erst dann, im Beantworten der Frage, begann ich, zu begreifen.
Jordan Peterson sagte einmal: als ich ein Kind war, kannte ich alle Häuser, alle Details meiner Umgebung. Heute würde ich mich drei Querstraßen weiter verlaufen. – Das könnte ebenso gut der Grund sein, warum bei Handke »das Sehen nicht mehr aufhören wollte«. Die Ballade wird aber vom Motiv des Schweigens getragen, und ignoriert die Veränderungen der Landschaft, jedenfalls im dramaturgischen Sinne. Daher habe ich mich gefragt, wo die Kausalität in Sachen Entfremdung liegt. Schweigen bedeutet: mangelhafte Verständigung, also sind wohl eher die Menschen schuld, wenn man so weit gehen darf. Die Landschaft ist ein freundliches Habitat, scheinbar. Ich blicke da psychologisch nicht ganz durch, weil Kinder prinzipiell erwachsene Menschen vereinfachen, und die Landschaft sehr detailreich memorieren. Später dreht sich das beinahe um, sogar bei einem Sinnesmenschen wie Handke. Also wäre die Sehnsucht, dass sich diese Umkehrung wieder normalisiert, und die Menschen »...verschwinden, um wieder Teil der Landschaft zu werden...« (Heiner Müller). Keine Ahnung.
Naja, die Änderungen in der Welt werden nicht »ignoriert«, sondern erschaut. Gregor weiß, dass er den Lauf der Zeit nicht aufhalten kann. Die »Expeditionen« in Handkes Prosa (und Theaterstücken) sind Versuche, in der Welt, die einem fremd geworden ist, einen Platz zu finden ohne einer Ideologie auf dem Leim zu gehen. Das Weltverhältnis ist nur in uns selbst; äußere Einflüsse führen mindestens zur Ernüchterung (oder schlimmeres). Das ist Existentialismus pur, eine Absage an alle virulenten Heilsversprechen (von Veganismus über Religion bis zu politischen Programmen – das ist meine Interpretation, Handke erwähnt so etwas nicht). Die letzten Bücher Handkes geben Zeugnis von dieser Anstrengung.