Seit Roland Barthes in den 1960er Jahren den »Tod des Autors« verkündete, galt es lange Zeit in den Literaturwissenschaften als verpönt, Werk und Vita des Autors in Zusammenhang zu bringen. Erst in den letzten Jahren wurde dieses nahezu wie ein Tabu behandelte Diktum aufgegeben und wieder vermehrt die Frage nach Interdependenzen zwischen dem Leben eines Autors und dessen Werk gestellt. Die Enthüllung um das Pseudonym von Elena Ferrante zeigen, wie wichtig es inzwischen zu sein scheint, ein Werk direkt mit der Autorin zu verknüpfen. Insofern überrascht es, dass im Feuilleton die Demaskierung bisher mehrheitlich abgelehnt wird.
Robert Leucht und Magnus Wieland, die Herausgeber des im Frühjahr erschienenen Buches »Dichterdarsteller – Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert«, erklären diese Tendenz vor allem aufgrund der steigenden Bedeutung der sozialen Medien, in denen Personalisierungseffekte forciert werden. Parallel ist allerdings seit geraumer Zeit ein starker Hang zum biographistischen Lesen im deutschsprachigen Feuilleton zu erkennen.
Leucht und Wieland nehmen sich mit ihrem aktuell herausgegebenen Band dem ewigen Widerstreit zwischen biographistischer und puristischer, ausschließlich auf den jeweiligen Text konzentrierter Lesart, an und machen mit der Wiederentdeckung der »biographischen Legende« einen Versuch, die beiden literaturwissenschaftlichen Lager zu versöhnen. Die »biographische Legende« ist ein Begriff des russischen Literaturwissenschaftlers Boris Tomaševskij aus dem Jahr 1923. Die beiden Herausgeber des Buches stellen diese lange vergessene These in einer detailreichen Einleitung vor. Die biographische Legende wird dabei als Abgrenzung zum empirischen Autor als Konstruktion hin zum Werk interpretiert und aber auch distanzierend zur Autorenfigur des literarischen Textes betrachtet. Sie ist somit eine dritte auktoriale Instanz; sozusagen »zwischen« der realen Vita des Autors und dessen Werk.
@ Lothar Struck und Gregor Keuschnig
Geht in Ordnung – sowieso – - genau – - -
Was es heißt, einen Roman z. B. zu verstehen
Naja: zu steile Thesen (»Tod des Autors«) und zu steile Erwiderungen – das sind Roland Barthes und Michel Foucault in einer Nußschale.
Der offenbare Zusammenhang zwischen der Autorin selbst und (ihrer) Fiktion ist ein wenig verstörend, weil der Leser manchmal nicht mehr sieht als den Text.
Theorien sind Vehikel, die das Verständnis erleichtern sollen. Aber das richtige Verständnis. Es soll nicht darum gehen, die Dinge schlicht nachvollziehbarer, durchsichtiger, einfacher zu machen.
Tomasevskij nimmt eine Mittelposition zwischen objektivistischer und subjektivistischer (=»bürgerlicher« (=»bourgoiser«)) Sichtweise auf die Literatur ein. Seine Hilfskonstruktion, der Autor bediene sich der »biographischen Legende«, vermittelt in einer Zeit der klaren Fronten zwischen hie Subjektivismus – und da einer Literatur des objektiven Klassenstandpunktes.
Man wird sagen dürfen, der gesamte Frontverlauf, dem Tomasevskij und Genossen zeitweise u n t e r Lebensgefahr huldigten, ist heute obsolet.
Was von ihm bleibt ist die Erinnerung an eine schreckliche Zeit, eine schreckliche Gesellschaft (Sowjetunion 1930 ff.) und – die Erinnerung an gewisse – nicht zuletzt traditionalen bürgerlichen Restbeständen geschuldete Debatten. – Also die Erinnerung an: Heroische Widerstandsakte bzw. eine feurige ästhetische Begleitmusik zu einem fürchterlichen gesellschaftlichen Experiment (oder Verlauf...) usw.
Wenn man sich wie die von Lothar Struck/ Gregor Keuschnig rezensierten Literaturwissenschaftlerinnen auf diese Debatten bezieht o h n e diese Kautelen zu berücksichtigen, macht man einen Fehler: Der Tigersprung zurück in die (vermeintlich) revolutionäre Tradition ist bestenfalls eine pseudosolidarische Aktion, aber bei klarem Licht betrachtet halt doch und zuvörderst: Eine Nostalgienummer.
Dass der Bezug auf Tomasevskij so nachlässig hergestellt wird wie von Lothar Struck geschildert, macht die Sache noch dubioser als ohnehin schon.
Ginge das besser? Ich komme zurück auf Reinhard Baumgart und Jürgen Habermas.
Und damit auf Freud und Goethe. Ich fahre fort mit Fromm und Marx. Mit Marcuse (Die Permanenz der Kunst) und der »Grazie« der »Hippiemädchen« (Marcuse ebd.) sowie einem »Song von Bob Dylan« (Marcuse ebd.). Mit – die Liste ließe sich schon verlängern – sehr verlängern.
Systematisch sind ein paar weitere Pflöcke eingeschlagen worden, die mir sinnvolle Anknüpfungspunkte zu bieten scheinen. Gadamer – »Wahrheit und Methode«, trotz seines irreführenden Titels. Gadamer sagt: Es gibt Texte und es gibt – heute sagen wir: Kontexte. Gadamer hat es anders gesagt, aber es scheint mir dies der Punkt zu sein: »Texte und Kontexte« (ok, Habermas, Ffm. 1985).
Wenn man beobachtet, wie verschieden im Lauf der Jahrhunderte auf denselben Text reagiert worden ist, wird das plausibel. Die Konstanzer Gruppe Poetik und Hermeneutik hat das auf vielen Feldern über Jahre durchexerziert – mit achtbaren Ergebnissen.
Die fundamentalste soziale Tatsache in diesem Zusammenhang ist die Bedeutungstheorie. Auch hier wieder – Texte und Kontexte. Bedeutungen sind gebunden an historisch und sozial usw. konfigurierte Lebensformen. Das ist die bündige Formel.
Wenn man in die Einzelheiten geht, kann man leicht den Überblick verlieren. Weil der Zusammenhang von Sprache und Bedeutung überaus komplex ist. So komplex, dass man, sobald sich die einschlägigen Details zwischen Frege, Wittgenstein, Schleiermacher, Peirce, Hegel, Heidegger, Kant usw. (Kambartel, Husserl, Freud) t ü r m e n – dass man angesichts solcher Problemtürme immerhin Trost in einem Satz wie diesem finden kann: Sprache und Realität sind für uns Heutige letztlich unentwirrbar verknäult (cf. J. Habermas – Wahrheit und Rechtfertigung, Ffm., 1999 – z. B. S. 40, aber auch 287ff. usw...). Die schöne Folge: Man wird versuchen, Sprache und Bedeutung als gleichursprüngliche Phänomene zu betrachten. Das entlastet dann wieder. Aber nur, wenn man verstanden hat, dass man diese Entlastung allein um den Preis einer Entdifferenzierung des gesamten Gegenstandsbereichs unseres modernen Weltverständnisses direkt ansteuern dürfte. Eine umstandslose Entlastung wäre praktisch keine Entlastung mehr – insofern folgt unsere Tradition auch hier uralten Mustern – per aspera ad astra, oder, wie Sloterdijk sagt: Du musst Dich in unserer Tradition üben, sonst kannst Du nicht dein Leben ändern. Bzw. andersrum: Wenn Du nicht übst, hast Du keine Möglichkeit zu verstehen, was Dir fehlt. »Etwas fehlt«- aber immer – - cf. Brecht und – - – M. Walser.
Aus unseren klassischen Fragestellungen gibt es nur ein sozusagen gerechtfertigtes (=fruchtbringendes) Entkommen über nachvollziehbare Argumentationen. Dass heute viele Leute an Universitäten z. B. dieses Feld beackern, die das konstituierende Faktum der in Traditionen verwurzelten Argumentationen wie blutige Anfänger behandeln – läßt mich an schlauere Leute von früher denken, die derlei auch erlebt haben. Goethe z. B. hatte für sich eine Faustregel (sorry für Kalauer), die dahin ging, dass er nicht für jedes Gegenüber den Vorhang vor seinen Problembeständen gleichweit hochhob. Kant verfuhr ähnlich. Man müsse, sagte der Königsberger, nicht partout alles sagen, was wahr sei.
Also: Auch das gehört zu den biblisch-abendländischen Traditionsbeständen: Sei gnädig mit Deinem Gegenüber – und mit Dir selbst... Mit anderen Worten: verhalte Dich klug.
Der Roman ist ein Spiel (Schiller!) mit und unter diesen Bedingungen. Von Tomashevskij bleibt dabei: Das Spiel, das der Roman darstellt, eröffnet (auch) einen Spielraum für Autorenlegenden usw. (= »Personalisierungseffekte« L. Struck). Aber darüber hinaus ist er natürlich noch viel mehr.
Das bleibt von Barthes: Der Roman ist immer auch ein nicht-individuelles Artefakt – qua Kontext – - und qua sprachlichem Medium. Von Marx und Foucault bleibt: Gesellschaftliche Zusammenhänge sind (auch) Machtzusammenhänge (= Herrschafts-/ Gewaltverhältnisse).
Luzide Gesprächspartner – weil überaus material- und kenntnisreich, sind Freud (in seinen Fußstapfen der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler (»Goethe«, Basel u Ffm, 1984 Bd. 1, 1986 Bd. 2)), und überhaupt die Therapeutenzunft (Psychoanalytikerinnen – wg. intimen Zugang zu individuellen Lebensgeschichten), sowie eine Unzahl anderer Disziplinen. Einen Roman verstehen heißt nicht allein die Mitmenschen verstehen, es heißt u. U. die Wirtschaft verstehen. Oder die bildende Kunst oder das Theater, die Musik, den Film, das Militär, den Maschinenbau, das Recht usw. – und die Ökologie – - die Soziologie, die Sozialpsychologie usw. verstehen – den ganzen Wissensbogen eben (cf. Brockhaus usw.).
Dieses Programm ist so einschüchternd umfänglich,dass sein Umfang und die darin liegende Zumutung gerne beschwiegen werden. Man würde an diesem Punkt angelangt mit den Worten des Dichters über Das Falsche fortfahren wollen und »am liebsten gar nichts mehr sagen.« Doch dann lesen wir in der nächsten Zeile: »Aber das wäre falsch.«***
Dieses Programm ist jedenfalls so reich, dass Dilettanten oft nur schwer (manchmal gar nicht) von Durchblickerinnen zu unterscheiden sind.
Dieses Programm wurde einmal als eine lustvoll zu bestehende Herausforderung begriffen – cf. Ulrich v. Hutten: Oh, Jahrhundert, oh Wissenschaften usw.
Dabei war jetzt von der Religion und vom Tanz und vom Sport und der Natur und dem Bergerlebnis und dem Schwimmen im Ozean – oder wenigstens im Meer – oder doch im Fluss oder im Tümpel und vom Radfahren usw. noch gar nicht die Rede – wie vom Allermeisten sonst auch nicht; Kindern, Mitmenschen, Konkurrenten. Aber das geht in Ordnung, ich deute das alles sowieso nur – ungefähr – - genau – - – an.
*** Hans Magnus Enzensberger – Das Falsche in Die Furie des Verschwindens, Gedichte, Ffm. 1980 – ein so Problem- wie Einsichtsreiches kleines überragendes Buch, noch immer zu haben für 7 Euro.
Geht in Ordnung – sowieso – - genau – - – ist der zweite Band von Eckhard Henscheids Hauptwerk, einer Romantrilogie