Andrea Ypsilanti legte in der Zeit (Nr. 10/2008) ein Grundsatzpapier* – in der gekürzten Version der gedruckten Ausgabe ist von einem Manifest die Rede – vor, in dem sie ihre persönliche Weltsicht beschreibt. Was kann der Wähler, der politisch Interessierte davon erwarten? Zumindest zweierlei: Kompaktheit, dafür keine Argumentation in allen Details (eher einen Überblick), und klar herausgearbeitete Probleme, Lösungsvorschläge und einen Blick in die Zukunft.
Man wird aber – in den nicht allerbesten Zeiten für die SPD – auch jenseits Ypsilantis politischer Weltsicht, nach Befindlichkeiten der Partei, bzw. nach Ideen für eine Neupositionierung im politisch linken Spektrum Ausschau halten. Ypsilantis Manifest wird man als pars pro toto für die Bundes-SPD zu betrachten versuchen.
Zunächst geht Ypsilanti von der derzeitigen politischen Situation aus, und diagnostiziert durchaus bekannte Phänomene wie die nachlassende Bindewirkung der Parteien, den dramatische[n] Schwund an Wahlbeteiligung und Mitgliedschaften; sie spricht von Flucht in die Personalisierung der Politik und vom fehlenden Vertrauen in angemessene Lösungswege. Ihre Schlussfolgerung: Neue Parteien (z.B. die Grünen, oder die Linke) sind einige Zeit interessant, generell herrscht aber Politiker‑, Parteien- und Institutionenverdrossenheit mit der Folge einer Zersplitterung des Parteiensystems, einhergehend mit einer stetig nachlassenden Zustimmung zu den großen Parteien vor. Mit einem Wort: Eine politische Krise. Ypsilantis Lösung: Wir müssen neue gesamtgesellschaftliche Projekte definieren und das allgemeine Interesse (wieder) finden.
Die Epochenbestimmungen der industriellen Moderne und Postmoderne werden von ihr als überkommen angesehen, dem neuen Projekt gibt Ypsilanti den Namen Soziale Moderne. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird dem Leser immer mehr bewusst, dass Ypsilantis Stil durchaus »hochtrabend« ist, und mehr an die Wortwahl eines Soziologen, als an die eines Politikers erinnert, im selben Moment aber oft nebulös und nichtssagend bleibt. Vieles ist nicht gerade taufrisch (was es natürlich nicht unbedingt sein muss): Die große wirtschaftliche Herausforderung für eine Gesellschaft der Sozialen Moderne ist die Umorientierung auf Produktionsweisen, die im Hinblick auf die kommenden Generationen die sozialen Kosten der gewordenen Vernichtung von Natur- und längst auch Wirtschaftsgütern vermeidet. Dies ist die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Man fühlt sich an grüne Ideen erinnert (selbstverständlich haben die Grünen kein Exklusivrecht für Lösungen von Umweltfragen): Grundlegend für die Soziale Moderne ist daher ein Wechsel von nicht erneuerbaren zu erneuerbaren und schadstofffreien Ressourcen. Was dann folgt, kann man fast schon als politische Sonntagsrede bezeichnen: Das Projekt der Sozialen Moderne setzt auf das Potenzial aller Menschen, auf ihre Qualifizierung und ihre Sozial- und Demokratiefähigkeit. Dazu gehören: realisierte Lerngleichheit und eine Bildung, die Menschen befähigt, eine komplexe Welt auszuhalten, zu begreifen und trotz aller Wechselfälle der Wirtschaft ein sinnvolles und selbstbestimmtes Leben zu gestalten. Statt einer nur auf unmittelbare wirtschaftliche Verwertung fixierten Ausbildung geht es um eine zeitgemäße und umfassende humanistische und technische Bildung. Das vorrangige Bildungsziel muss es sein, Menschen die Möglichkeit zu vermitteln, aufgeklärte und selbständig denkende Subjekte zu werden, die alle ihre Fähigkeiten entwickeln können. Das verbietet die Frühauslese, und es gebietet, unabhängig von der sozialen Herkunft der Kinder vielfältigen Begabungen ihre Entfaltungschancen zu geben.
Ein plausibler Wurf gelingt Ypsilanti nicht, zu oft vermisst man Konkretes und Klarheit, zu oft hat man den Eindruck von blitzenden Formulierungen getäuscht zu werden. Der Text ist wohl symptomatisch für die SPD und die Volksparteien im Allgemeinen: Deutliche Konturen sprechen nicht alle Wähler an, versucht man »farbiger« zu werden und auch andere »Klientel« zu umwerben (wie Ypsilanti) wird man dem politischen Konkurrenten immer ähnlicher und für den Wähler ist es letztlich gleichgültig wem er seine Stimme gibt – man bleibt zu Hause. Ypsilantis »Distanzierung« von der Linken (Es unterscheidet sie [die soziale Moderne] auch von einer „Linken“, die Veränderungswillen behauptet, aber neue gestalterische Entwürfe für überflüssig hält.), und ihre pragmatische Neudefinition von »links« (Die hier skizzierte Soziale Moderne ist das politische Projekt, das auf die Tradition und die anzustrebende Zukunftsrolle der sozialdemokratischen Parteien zugeschnitten ist. Es verknüpft die alten und die neuen sozialen Fragen in undogmatischer Weise und es definiert den Begriff „links“ neu.) leisten den von ihr selbst diagnostizierten Problemen Vorschub.
Die CDU ging den Weg voraus, die SPD folgt. Den Wähler wird der »neue Pragmatismus« nicht auf Dauer »fesseln« können. Nur: Wie entkommen die Volksparteien dem Dilemma?
* * *
*Zitate aus dem Grundsatzpapier sind kursiv gesetzt.
Danke für den Link, Metepsilonema. Da das Papier am 5.3. veröffentlicht wurde, ist es vor der »Metzger-Katastrophe« geschrieben. Wenn Frau Y. es selbst verfasst hat und nicht irgendein Ghostwriter, dann nötigt es mir einigen Respekt ab. Dass sie in ihm keine konkreten Vorschläge gemacht hat, erscheint mir verständlich, das geht in dieser Form gar nicht. Nur in einem Punkt stimme ich ihr nicht zu:
Es unterscheidet sie auch von einer „Linken“, die Veränderungswillen behauptet, aber neue gestalterische Entwürfe für überflüssig hält.
Es ist eigentlich der einzige erkennbare und ziemlich schwache Hieb gegen die Linke, und der damit gemachte Vorwurf stimmt so auch nicht. Man darf nicht nur auf Lafontaine fokussieren, der ja in seiner Sozialisierung ein sozialdemokratischer Populist ist, der sich mit seiner eigenen Partei überworfen hat und deshalb in seiner Rhetorik überzieht. Das, was Frau Ypsilanti an theoretischen Aussagen getätigt hat, ist beim pragmatischen Teil der Linken zustimmungsfähig.
Das größte Konfliktpotenzial zwischen SPD und Linke gibt es in der Außenpolitik. Das ist für mich auch der einzige plausible Grund der SPD-Führung, ein Zusammengehen im Bund kategorisch abzulehnen. Dazu äußert sich Frau Y. in ihrem Artikel nicht. Aber ich denke, für die Linke ist es ein unverzichtbares Essential ihrer Politik, nicht mit der Bundeswehr in der weiten Welt »Politik« zu machen. Die Linke ist die einzige Partei im Bundestag, die Auslandseinsätze prinzipiell ablehnt. Alle übrigen befinden sich z.B. mit ihrer Zustimmung zum Afghanistan-Einsatz im Widerspruch mit der Mehrheit der Bevölkerung, die das ebenfalls nicht gutheißt.
Das »Manifest« ist ein Richtungspapier
Ypsilanti war immer eine Gegnerin der Schröderschen »Agenda«-Politik. Das »Manifest« ist der Versuch, die SPD positionell nach links zu rücken, um dort der Linken die Stimmen wieder abzujagen. Der Versuch wird scheitern.
Die Linke in Ostdeutschland ist unabhängig von der Positionierung der SPD eine feste politische Grösse. Hier kann eine Anbiederung keinen Erfolg bringen – die Wähler wollen lieber das Original und nicht die Kopie.
In Westdeutschland tritt man gegen rd. 7‑maximal 9% an (derzeit). Ein Grossteil dieser Wähler sind Protestler, die – traut man mal den gängigen Erhebungen – die Problemlösungskompetenz der Linken per se als eher schwach ausgeprägt ansehen. Ein fester Wählerstamm der PDS war vor der Gründung der WASG in Westdeutschland rd. 1–2%. Ypsilantis Gedanke: Man holt die rd. 5–7% »abtrünnigen« wieder zurück.
Das wird jedoch nicht funktionieren, da die Schröder-SPD schon 1998 nur reüssieren konnte, weil die Verärgerung über Kohl (und eine Lakaien-FDP) bis tief in das konservativ-liberale Milieu hinein vorhanden war. Schröders Aussage, man werde nicht alles anders aber vieles besser machen beruhigte diese Kreise und machte Schröder für diese wählbar. Dennoch war schon 1998 keine Pro-Schröder-Wahl, sondern eine Anti-Kohl-Wahl. Die SPD ist m. E. überhaupt nur einmal wegen Ihres Kandidaten gewählt worden – das war 1972 Willy Brandt. Alles andere waren Wahlen des kleineren Übels.
Das blosse Wortgeklingel wird die Linken-Wähler nicht zurückholen – aber die »Mitte«-Wähler verprellen. Wenn sie vielleicht 1–2% bei den Linken gewinnen kann, so werden die Verluste im bürgerlichen Lager bei rd. 4–5% liegen. Die SPD ist im Bund jetzt schon nur noch eine 30%-Partei.
Der Versuch muss noch aus einem anderen Grund scheitern: Frau Ypsilanti will das Rad zurückdrehen – sie sagt aber nie konkret, wo genau und wie. Natürlich ist ein »Manifest« kein Parteiprogramm, aber ein bisschen mehr Konkretes erwarte ich dann schon. (Fehlt ja fast nur noch die Maxime, dass im Sommer zwischen Juni und September immer die Sonne scheinen soll.)
Der Wähler weiss gar nicht mehr, für welche Politik die SPD steht. Sie macht einerseits mit der CDU/CSU eine eher konservative, in Teilen »wirtschaftsliberale« Politik, gebärdet sich aber andererseits als jemand, der die Linkspartei noch links überholen will. (»Links« immer als die gängige Beschreibung gebraucht; in Wirklichkeit ist die »Linke« gar nicht links, sondern stock-konservativ.)
Der Text ist äusserst geschickt konzipiert. Mehrfach taucht das Wort »Krise« auf und fast immer wird es dabei im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gebraucht. Ypsilanti setzt die »Krise« der SPD, die fünf Jahre nach der Agenda-Politik Schröders immer noch keine zuverlässige Strategie dafür (oder von mir aus auch dagegen) entwickelt hat, mit der »Krise« der »Gesellschaft« gleich. Ihr Alarmzeichen geht nicht, wie der »Zeit«-Aufmacher zeigen will in Richtung »Distanzierung«, sondern eher in Richtung einer tödlichen Umarmung der Linken. Und ein bisschen klingt das tatsächlich sogar noch nach einem Rückfall hinter Godesberg.
Der Richtungskampf in der SPD steht erst am Anfang.
Nach meiner Wahrnehmung unterschätzt man mit der Bezeichnung »stock-konservativ« das theoretische Potenzial, das die Linke bietet. Ich kann nicht einschätzen, wie das in Düsseldorf aussieht, aber in meinem Umfeld (Hochschulmitarbeiter und Ingenieure und deren Frauen, diese auch fast alle Akademikerinnen, viele promoviert, einige mit eigenen Firmen in einer Stadt mittlerer Größe in Thüringen) wird ca. 50% SPD und 50% Linkspartei gewählt. Die CDU wird u.a. wegen ihrer unmöglichen Familienpolitik (Stichwort Herdprämie) vollkommen abgelehnt, Grüne und Liberale sind Splitterparteien unter 5%.
Lange Zeit kam mir die Spiegelberichterstattung so vor, als würde von einer ganz anderen Partei berichtet, als ich die Linke und deren Vertreter hier kenne. Der erste Artikel, der etwas von meiner eigenen Wahrnehmung enthält, ist vom 6.3.: Wer Deutschlands neue Linke wirklich wählt, und auch dort nur in einem einzigen Absatz:
Doch die Linke zieht nicht nur die Verlierer an. Bisher schöpft die Partei vor allem aus zwei Wählerreservoirs, die sich stark unterscheiden, hat die Forschungsgruppe Wahlen ermittelt:
* Auf der einen Seite sind es tatsächlich die Frustrierten zwischen 45 und 60 Jahren, jene, die sich wirtschaftlich benachteiligt fühlen,
* auf der anderen jedoch auch Menschen mit Uni-Karriere, junge und ältere Linksintellektuelle.
»Bei den einen spielt der Protestgedanke eine große Rolle«, sagt Andrea Wolf von der Forschungsgruppe, »die anderen setzen sich auch inhaltlich mit der Partei auseinander.«
Die Krise der SPD ist ja dadurch verursacht, dass man auf der Welle der Globalisierung mitsurfen wollte, jetzt aber feststellen muss, dass das zum Nachteil der eigenen Klientel war. Gegen die Zahlen, die die Veränderung der Einkommensentwicklung in den letzten Jahren dokumentieren, kann die SPD nicht anargumentieren.
Jetzt hat die SPD ein massives Glaubwürdigkeitsproblem, das keinesfalls auf die jetzt »gebrochenen« Wahlversprechen zurückzuführen ist, sondern darauf, dass die Menschen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen der rot-grünen Vorgängerregierung anlasten – die ja ebenfalls ihre Wahlversprechen mit der Schröderschen Agenda gebrochen haben, unter Leitung des Basta-Kanzlers. Ich habe bei der vorletzten Wahl die SPD bedauert, weil sie die Wahl gewonnen hat. Die SPD hat jetzt ein Strukturproblem: Rechts ist sie überflüssig, weil es da die CDU gibt. Links ist sie überflüssig, da steht die Linke. CDU und Linke stehen für die zwei alternativen Entwürfe, die SPD steht für gar nichts mehr. Wenn das im Westen noch nicht so gesehen wird, in Thüringen z.B. ist es so: CDU 40%, Linke 30%, SPD 20%.
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