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In Deutschland gibt es eine Partei, die ihren Anfangsschwung aus der demokratischen Erweiterung nahm, die das Internet zu ermöglichen schien. Die Piraten haben ihren Ursprung im Geist des WWW. Von Mai 2011 bis Januar 2012 stand die aus der Ukraine stammende, noch in der Sowjetunion geborene Marina Weisband an der Spitze dieser Partei, die keine Berufspolitiker haben will. Einige Beweggründe für Weisbands Rückzug erfährt man in ihrem Buch »Wir nennen es Politik«. Einerseits hält sie an neuen technologischen Werkzeugen wie LiquidFeedback zur Umgestaltung der Demokratie fest, andererseits haben ihre Erfahrungen sie zur Einsicht bewogen, Politik sei nun mal Kampf unterschiedlicher Interessen, der immer wieder persönlich und oft genug lächerlich wird. »Wer auch immer seine Nase in ‚die Öffentlichkeit’ steckt, begibt sich in einen Sturm aus Feindseligkeiten.« Man hört hier das Internetwort Shitstorm durch, und tatsächlich nennt Weisband diverse Realitäts- und Irrealitätsebenen in einem Atemzug: Ob im Internet, im Zug oder am Infostand, »in letzter Zeit scheinen die Menschen total am Rad zu drehen.« Am Rad zu drehen? Wahrscheinlich meint sie »durchzudrehen«. Oder wörtlich, so, wie es da steht: am Rad drehen wie Mäuse im Versuchslabor. Die Leute... »Wißt ihr was«, ruft Weisband ihnen – uns – zu, »der offene Politiker hat keine Chance, er wird fertiggemacht. Wenn es ihm nicht scheißegal ist, was ihr von ihm haltet, wird er fertiggemacht. Von euch. Eine bessere Demokratie ist nicht möglich. Wegen euch.«
Marina Weisband war – ist? – eine offene Politikerin, man merkt es an allem, was sie sagt und schreibt. Sie denkt nach, redet niemandem nach dem Maul, arbeitet an Ideen, Vorschlägen, Lösungen, macht auch mal einen Rückzieher, verklopft keine Parolen. So stelle ich mir – stellen wir uns? – eine offene Politikerin vor, eine Frau wie Marina Weisband. Aber sie ist gescheitert, und sie beschreibt, wie und warum. Ein offener Politiker ist einer, der sich nicht populistisch verhält. Heute verhalten sich die Politiker aller Parteien populistisch, nicht nur die als Populisten gebrandmarkten. Sie schielen in einem fort nach Mehrheiten, das politische System und die herrschende Öffentlichkeitskultur fordern es so. In der österreichischen Tageszeitung »Der Standard« sagte ein Jungpolitiker der Grünen unlängst, seine Partei müsse populistischer werden. »Mehrere Leute haben zu mir gesagt: ‚Sie arbeiten wie der junge Haider«, der inzwischen verstorbene rechtsextreme Politiker, »‚nur mit den richtigen Inhalten.’ Das ist erschreckend, weil wer will schon mit Haider verglichen werden. Aber man kann eben manche dieser populistischen Instrumente auch für das Gute einsetzen.« Bei den meisten Wählern der Grünen scheint diese Denkweise auf Anerkennung zu stoßen. Alle wollen gewinnen, alle wollen erfolgreich sein, diesem Ziel werden Rede und Selbstdarstellung untergeordnet. Normal, oder? Ganz normal.
Was aber den Weg der Piraten betrifft, so steckt der Widerspruch schon im Konzept der Internetdemokratie, und er ist unauflösbar. »Wir halten dieses Dilemma im Moment für ein unüberwindbares Naturgesetz«: noch in diesem Martina Weisband, der letzten Nichtpopulistin, geäußerten Satz steckt ein Widerspruch, eine feine Ironie. Naturgesetze gelten immer, nicht nur im Moment. Dennoch schwelt da immer noch ein Hoffnungsfunke, man könne dieses Gesetz, also den Widerspruch, überwinden. Eine echte Onlinedemokratie, so Weisband, kann nur funktionieren, wenn die Echtheit jeder Stimme zweifelsfrei überprüfbar ist. Dies setzt aber einen Abschied von der Ano- und Pseudonymität voraus, einen Verzicht auf jene läppische und zugleich tiefernste Nicknamementalität, die den von Politik und Werbung hofierten Usern, den Subjekten dieser »Demokratie«, längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nötig wäre ein »Klarnamenzwang«. Aber dann, seufzt Weisband, wiederholt man im hierarchiefreien Raum – gemeint ist das digitale Internet – die Zwänge der analogen Welt.
Unlängst fand in Berlin eine realweltliche Piratinnenkonferenz zu den Themen Feminismus, Gender, Queer statt. Alles mögliche bei diesem Treffen einer Gruppierung, die manchmal als »libertär« bezeichnet wird, war ver- und geboten. Zum Beispiel sollten sich die TeilnehmerInnen zu folgendem verpflichten: »Ich unterlasse sexistische, rassistische, homophobe, transphobe, lookistische und sonstwie diskriminierende Kommentare (‘So sind Frauen / Männer nun einmal’ / ‘Schwule verhalten sich so und so’).« »Lookistisch,« da muß der Leser erst einmal überlegen (ohnehin ein empfehlenswertes Verhalten). Wie so vieles, wird es aus dem Internet stammen, das heißt aus dem Englischen, aus der WWW-Sprache. Lookistic, right. Mit dem halbwegs eingedeutschten Wort ist dann vermutlich gemeint, daß niemand wegen seines Aussehens diskriminiert werden soll, zum Beispiel die Träger dunkler Kleidung oder Frauen, die sich nicht schminken, oder Frauen, die sich doch schminken. Das Aussehen darf keine Rolle spielen.
Liberal, freiheitlich, libertär. In Wahrheit ist der Sexismus bei den Piraten genauso verbreitet wie in den anderen Parteien. Nicht nur Rainer Brüderle schaut gern, auch Piraten schauen, vielleicht sogar Piratinnen. Alle schauen. Hoffentlich nicht nur auf Bildschirme, Monitore, Displays. Oder heimlich Pornos. Oder offen. Ein Blogger berichtet von der PiratinnenKon, bei der Diskussion des Themas seien alle dafür gewesen: »Die an dem Tisch hier fanden die PorNO-Kampagne doof, und durchwegs fanden sie Pornos gut.« Die Journalistin Annett Meiritz berichtet im »Spiegel« über sexistische Wortwahl im Sprachgebrauch von Piraten und über bösartige Gerüchte, mit denen sie persönlich konfrontiert ist. Beschimpfungen müsse sie im Internet dauernd über sich ergehen lassen – das heißt, sie müsse nicht, sie könne die Pöbler ja einfach »wegklicken«. Den Klatsch auf den Parteitagen hingegen könne sie nicht ändern. Ein Vorteil des Internets: Man muß es nicht so ernst nehmen. Oder? Das Problem ist, daß sich das Pöbeln im anonymen, verantwortungsfreien Raum zusammenballt und massiv wird. Und daß es die Mentalitäten »der Leute« formt. Und womöglich zurückwirkt auf die reale, die analoge Welt. »Niemand wünscht sich ein aseptisches Arbeitsklima, wo jeder harmlose Flirt gleich zur sexuellen Belästigung deklariert wird und Scherze nur politisch korrekt sein dürfen«, schreibt die Spiegel-Journalistin. Aber viele reden es herbei. Und viele, zum Teil wohl dieselben, lassen die Sau raus, sobald es ihnen die Namenlosigkeit erlaubt.
© Leopold Federmair
Dieses Kapitel ist eine Variation eines Kapitels aus Leopold Federmairs neuem Buch »Das rote Sofa«, welches gerade im Otto Müller Verlag, Salzburg, erschienen ist.
In Fall dieser Serie ist die beschränkte Kommentarmöglichkeit ein (kleines) Ärgernis: Es wurden doch unterschiedliche (wenn auch einander berührende) Themen angesprochen und die Texte waren mitunter recht lang: Man muss seine Anmerkungen entweder sehr lange im Kopf behalten oder Notizen machen und später nachreichen: In beiden Fällen beginnen die Lektüreeindrücke und etwaige Details zu verblassen, bei mir zumindest. — Schade.
Stimmt. Auch wenn ich Keuschnigs Argumente grundsätzlich verstehe, in diesem Fall sind es doch eher drei Texte als ein Block, den man nicht auseinandernehmen darf. Daran hätte eigentlich der Verfasser denken sollen.
Soll ich die Kommentare öffnen?Okay, Kommentare überall offen.Wär vielleicht gut. Obwohl, ich denke, daß die, die sich eventuell äußern wollten, die Texte schon gelesen haben und es nicht noch einmal tun werden.