Am Ende rekapituliert die einmal von ihrem Vater Mic genannte Erzählerin, dass der Engel des Vergessens schlichtweg vergessen habe, die Spuren der Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Die Schutzengel, die das Kind behüten sollten und von der Mutter als kleine Bildchen am Kinderbett angebracht wurden, haben ihre Gestalt verloren und werden – was für eine Metamorphose – zum geschriebenen Wort, zur Erzählung.
Im Wirtshaus, am Küchentisch, vor dem Schlafengehen, bei der Familienfeier, am Totenbett, in der fremden Stadt – immer wieder brechen bei den Protagonisten des Romans von Maja Haderlap die Erinnerungen aus dem Vergangenheitskeller hervor. Und jetzt bei ihr, der Nachgeborenen, die Erinnerungen an die Erinnerungen. Das vielleicht heilsame Vergessen ist unmöglich, zu mächtig sind die Prägungen, die Verwundungen, zu tief die Narben, zu dominant das Gefühl in einem Land zu leben, dass einem die Erinnerungen nehmen, sie usurpieren und verbiegen möchte.
Es beginnt in der schwarzen Küche der Großmutter, in den 60ern, die Erzählerin ist vielleicht sechs, höchstens sieben Jahre alt. Ein Bauernhof, das Dorf heißt Lepena (Leppen) bei Železna Kapla (Eisenkappel) in Kärnten. Die Familie gehört der Minderheit der Kärntner Slowenen an; die Umgangssprache ist slowenisch. Haderlap erzählt in der Ich-Form und viele im Buch erwähnte autobiographische Daten treffen auf sie zu, obwohl es natürlich eine Erzählung ist; ein fiktionales Werk. Es wird fast ausnahmslos im Präsens und bis auf die Partisanengeschichten chronologisch erzählt. Selten gibt es zurückblickend-reflexive Einschübe; manchmal Exkurse. Es gehört zu einer der ersten Verzauberungen dieses Buches, dass Maja Haderlap einen Ton findet, der weder kindlich noch kindisch daherkommt; es wird erst gar nicht versucht, die Sprache des Kindes als Erzähltrick zu evozieren. Erzählt wird nüchtern, aber nicht kühl, sinnlich und doch nicht überladen, manchmal pathetisch aber nie verklärend, zuweilen parteiisch aber niemals verbissen. Schnell fühlt sich der Leser eingeladen, ist nicht bloß Zuschauer oder gar Voyeur, sondern Gast.