Niels hat einen Bass. René eine Gitarre und Ideen für Texte, die »roh und hart und ehrlich« sind. Beide gründen eine Band: »R@’n’Niels« (René ist R@ = »rat«). Eines Sonntags fahren sie, um sich in Bonn nicht zu blamieren, nach Bad Münstereifel und spielen dort vor dem Heino-Café. Der Erfolg ist überschaubar, aber die Saat keimt. René gelingt es, den sechs Jahre älteren Lloyd zu begeistern. Von nun an haben sie einen Schlagzeuger und Fahrer in Personalunion. Vor allem jedoch einen Probenraum – in einem Turm. Später kommt noch die Punkerin Nino mit ihrem Keyboard hinzu. Aus dem Bandnamen »Funking Sushi« wird schließlich »Fuckin Sushi«. Es geht um »Weltfrieden und Abrentnern«. Die Logik ist verblüffend: Warum nicht nach der Schule mit der Rente beginnen, Musik machen, tagsüber Fernsehen (»Kochsendungen, Zooreportagen, Hallenfußball oder Sommerbiathlon«) und erst dann, so ab 50, mit dem Arbeitsleben beginnen?
Wenn es noch einer Initiation von Niels bedurft hätte, dann diese beim Bob Dylan Konzert in Bonn im Sommer 2012. Auf seinem iPod ist er ja drauf und irgendwie das Idol seiner Eltern. Aber was dann auf dem Konzert geschieht, ist eine Ernüchterung: »Er sah aus wie der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs und genauso klang die Musik.« Das mehrheitlich ältere Publikum feiert und tanzt – aber scheinbar weniger die aktuellen Darbietungen Dylans als die Erinnerungen an ihr früheres Leben. Niels ist enttäuscht: »Ich drehte mich um, lief zum Ausgang und eines wurde mir mit jedem Schritt klarer. Ich gehörte nicht vor die Bühne, sondern darauf.«
Die vier von »Fuckin Sushi« suchen und finden, probieren und musizieren, das es eine Freude ist. Der Leser von Marc Degens’ Roman erfährt von praktisch jeder Probe (und deren Gelingen oder nicht), ist stets informiert über die Bestellungen in diversen McDonald’s‑Läden (warum eigentlich dieses Bratwurst-Cover, welches zu Degens’ erstem Roman viel besser gepasst hätte?) , wird über den Pegelstand des Mülls im Turm auf dem laufenden gehalten (er wächst enorm), könnte die Anzahl der ausgetrunkenen Bierdosen und gerauchten Zigaretten in einer Strichliste führen (der Zigarettenkonsum erreicht problemlos die Qualitäten früherer »Kommissar«-Folgen) und wundert sich über die Versuche der Bandmitglieder, mit riesigen Lampen aus dem Baumarkt die Wände das dunkle Turms auszuleuchten.
Wer das jetzt als langatmig oder gar belanglos empfindet, mag wohl auch keine Bücher von Wolfgang Welt und hat demzufolge nichts verstanden. Gerade in der detaillierten Erzählung dieser nur knapp anderthalb Jahre liegt der Charme dieses Romans, den Degens kongenial auch crossmedial begleitet. In den besten Augenblicken erlebt der Leser Niels’ pure Lust an der Musik, am Miteinander und Zusammenwirken. So zum Beispiel während eines der wenigen, dafür aber wuchtigen und umjubelten Konzerte:
»Als der Mittelteil von Cover my song anfing, drehte er [René] sich vom Mikrofon weg und stellte sich mir gegenüber, Kopf an Kopf. René war ganz nah und ich konnte seinen Atem in meinem Gesicht spüren. Wir schauten uns in die Augen, und ohne dass wir etwas sagen mussten, wechselten unsre Schlaghände im selben Moment das Instrument. Mit der linken Greifhand spielte René Gitarre und mit der rechten Hand meinen Bass, ich wiederum spielte mit der linken Hand Bass und mit der rechten Hand Gitarre. Das Überkreuzspielen klappte noch besser als im Proberaum und das Publikum tobte.«
Es ist Freude und Ernst; man fühlt sich trotz des Altersunterschieds irgendwie an Wim Wenders’ »Buena Vista Social Club« und der sicht- und vor allem hörbaren Spiel- und Lebensfreude der Musizierenden auf der Bühne erinnert. Niels erlebt ein Einverständnis mit der Welt – augenblicklang nur, aber dennoch von Dauer, weil von ihm erzählt werden kann und wird. Dazu gehört, dass in dem Augenblick, als die Karriere gerade durchzustarten scheint (440.000 Youtube-Klicks und ein Band-Wettbewerb), Niels’ Stern sinkt. René ist mit Äußerungen von Niels in einem Interview nicht einverstanden und möchte das Image der Band verändern – die langen Stücke, für Niels essentiell, kürzt er der besseren Eingängigkeit halber kurzerhand ab. Das sich nun abzeichnende Auseinanderbrechen der Band stürzt Niels in eine veritable Krise. Das Ende sei nicht verraten. Nur so viel: Niels macht das, was Schriftsteller machen. Er holt diese dem Vergessen anheimfallende Zeit hervor und konserviert sie. Und das gelingt mit einer seltsamen und paradox erscheinenden Mischung aus Lakonik und Pathos.
Neben der Lebenslust am und beim Musizieren geht es um die Freundschaft zwischen Niels und René. Schon Degens’ erster Roman, »Das kaputte Knie Gottes«, handelte von einer am Ende »durchhängenden Schülerfreundschaft« zwischen dem Betonkünstler Dennis, der schließlich Weltruhm erlangte und seine Ruhrpottfreunde vergaß und dem bürgerlich werdenden Ich-Erzähler Mark. Auch in »Fuckin Sushi« zerbricht die kästnerische Freundschaft. Vorbei die Zeiten als man gemeinsam sogar Penis-Abgüsse machte. Es bleibt nur Yannick, ein Nerd und Pirat, der allerdings mit seiner Freundin nach Berlin zieht.
Die Konzentration auf die Band führt dazu, dass andere Figuren zu kurz kommen. So bleiben Niels’ Eltern blasse Figuren: die Mutter als ehrenamtliche Mitarbeiterin bei Oxfam politisch ziemlich korrekt und der Vater wird nur einmal als Fahrer gebraucht. Auch die verehrte Oma Frese, die am Ende des Buches stirbt, hat nie so richtig gelebt. (Ob sie identisch ist mit der ständig meckernden Else-Kling-Figur aus Degens’ Knie-Roman?) Die Aufgeregtheit von Ninos Eltern wirkt aufgesetzt; die Entführungsszene ist allerdings rasant erzählt. Eher selten ruht das Buch ausschließlich auf der eigentlich komplexen Hauptfigur Niels – es sind starke Stellen, von denen man gerne mehr gelesen hätte. Etwa wenn es um die Pseudocoolness seiner Klassenkameraden geht. Oder Niels’ Verhalten beim Warten an Bahnschranken. Und so manche Symbolik (Eichhörnchen! Knie!) überführte Degens’ vom ersten in den zweiten Roman.
Dennoch rührt »Fuckin Sushi« an. Und zwar immer dann, wenn Niels von seinem Glücklichsein in dieser Band und mit der Musik erzählt. Einem Glück, dass nicht materiell ist und sich in dem Moment verflüchtigt, in dem Zugeständnisse an Dritte gemacht werden. Sofort zerbricht auch die Einheit der Gruppe. Und jeder hat dieses »Fuckin Sushi«-Gefühl schon einmal gehabt, diese schöne, leicht altkluge Naivität, wie sie Botho Strauß in seinem Buch »Herkunft« beschreibt. Als Strauß dort seine aufkeimende Jugendlieben zur Musik, Literatur und vor allem zum Theater rekapitulierte, wünschte er plötzlich »nur einen Bruchteil dieser Unerfahrenheit, dieser fröhlichen Altklugheit« des damaligen Oberschülers für das Heute zurück. Auch Niels ahnt, dass diese Zeit der Unbeschwertheit nicht mehr kommen wird. »Fuckin Sushi« ist ein Buch über den Abschied von der Kindheit, ohne Rührseligkeit und fast immer auch ohne die ansonsten häufig zu findende Anbiederung an den Sprachjargon der Jugendlichen. Schon jetzt bin ich gespannt, was Niels in zehn Jahren so alles erlebt hat.
»Wer das jetzt als langatmig oder gar belanglos empfindet, mag wohl auch keine Bücher von Wolfgang Welt und hat demzufolge nichts verstanden.«
Langatmig UND belanglos ist allenfalls diese Rezension. Nichts erfährt man über die literarische Qualität, nichts über den Kern der Ästhetik. Der Rezensent schreibt wie ein SPIEGEL-Praktikant, der über den letzten Tatort schreiben muss. Er erzählt den Inhalt. Die Inhalte sind aber seit 3000 Jahren immer dieselben.
»Gerade in der detaillierten Erzählung dieser nur knapp anderthalb Jahre« schreibt er hin, unser Rezensent. Und schämt sich nicht. Wieso? Weil er keine Ahnung davon hat, dass schon die »detaillierte Erzählung« eines einzigen Tages etwa 1000 Seiten zur Folge hat. Anderthalb Jahre, »detailliert« beschrieben, wären also ca. 540 000 Seiten.
Der Rezensent mag wohl keine Bücher von James Joyce und hat demzufolge nichts verstanden.
Und angesichts des Welt-Zitats (wenn es denn richtig zitiert ist) kann man nur beten: Herr! Lass Lektoren vom Himmel regnen.
Ein Welt-Zitat? Wo?
Witzigerweise wollte ich meinen Kommentar an genau demselben Satz aufhängen wie der Herr Griebe: Ich liebe nämlich die Bücher von Wolfgang Welt, und mag auch diese Rezension, die ist doch gut, hat mir absolut Lust gemacht, das Buch zu lesen. Es ist ein gängiger Gemeinplatz, aber meines Erachtens auch ein großer Irrtum, die Themen der Literatur seien seit dreitausend Jahren immer dieselben. Jedenfalls wüsste ich nicht, dass Sophokles oder Homer schon über Bandgründungen, Youtube-Klicks und das Überkreuzspielen von Bass und Gitarre geschrieben hätten. Immer nur den Joyce vor sich herzutragen als heiliges Kalb, das ist doch auch keine Haltung, zumal, wenn man den Ulysses auf die detaillierte Erzählung eines Tages reduziert und das dann zum Maßstab dessen machen wollte, was »detailliertes Erzählen« bedeute.
Eine Rezension mit Musiklinks! Wunderbar! Und auch noch zu einer vielgeliebten, im Feuilleton – außer von Dietmar Dath – sehr stiefmütterlich behandelnden Musikgattung. Schon mal Danke dafür.
Und wer aus dieser Rezension nicht herauslesen kann, ob der Roman was für ihn ist – der sollte das mit der Literatur sowieso lassen. Das ist nix für ihn.
danke für die schöne besprechung – das war ein guter anstoss, den roman gleich mal zu lesen und zu genießen ...