Er wolle mich auf sein neues Buch aufmerksam machen, so Marc Degens in einer Mail. Das Thema könnte mich interessieren und auch Wolfgang Welt komme vor. Und da mich (fast) alles zu Wolfgang Welt interessiert und man irgendwie weitermachen muss (oder es zumindest glaubt), gab ich ihm meine neue Adresse (die er auch hätte im Impressum nachschauen können, aber egal). Zwei Tage später war »Selfie ohne Selbst« da. Aus dem Waschzettel entnahm ich dann, es um die »intellektuelle Gegenwart Berlins« und die Tagebücher von Michael Rutschky geht. Zu beidem habe ich nun leider überhaupt keine Beziehung. Weder interessiert mich die Berliner Szene noch habe ich die Tagebücher von Rutschky gelesen. Die Aussicht auf Klatsch stimmte mich allerdings hoffnungsfroh und man wird tatsächlich nicht enttäuscht.
Zunächst erzählt der Ich-Erzähler, der Marc Degens heißt, ehrfurchtsvoll von einer Begegnung mit Michael Rutschky in Berlin, welches wohl das letzte Treffen der beiden war, denn Rutschky starb 2018. Dann der Sprung zum Dreh- und Angelpunkt, zu »Gegen Ende«, dem dritten Band der Tagebücher. Das Buch erschien 2019 sozusagen doppelt posthum, weil auch der Herausgeber Kurt Scheel kurz vor Veröffentlichung starb (durch Freitod). Marc Degens gehörte trotz seiner gelegentlichen Treffen nur am Rande dem »Rutschky-Kreis« an (Anleihen an einen anderen Kreis nicht ganz ungewollt). Aber er verehrte den Autor, vor allem als Stilist.
Degens erhält für eine Präsentationsveranstaltung in Berlin die Fahnen des Buches vorab per pdf, Mehrere Autoren sollen aus dem Buch etwas vortragen. Rasch sucht Degens nach Eintragungen zu seiner Person. Die Funde desillusionieren ihn; Rutschkys Ausführungen sind ungenau, falsch und verletzend. Er fühlt sich als »dümmlichen Dampfplauderer« dargestellt. Auch seine »Freundinnen und Freunde« (diesen Genderquatsch macht Degens durchgängig mit) werden »bloßgestellt«. Soll er überhaupt teilnehmen (es gibt auch weder Honorar noch Spesenersatz)? Wie reagiert man auf diese Grenzüberschreitungen Rutschkys? (Wie haben die Menschen eigentlich auf Knausgård reagiert?)
Aber, so möchte man erwidern, das ist eben auch Literatur – freilich mit Echtnamen und das ist das Problem. Später wird Degens darüber nachdenken, ob dies unter seiner erweiterten Definition von Autofiktion fällt und welche Konsequenzen das haben könnte. Hierzu hätte ich gerne mehr gelesen, weil ich das Gefühl habe, Degens hat hier interessantes zu sagen, aber der bleibt lieber bei der Geschichte.
Er geht dann doch zur Buchpremiere(?) und liest einen Abschnitt. Die Ausführungen des Verlegers Berenberg inspirieren ihn zu neuen konzeptionellen Überlegungen zu Rutschkys Buch. Aber statt es in Gänze zu lesen, inhaliert Degens nun die Rezensionen, analysiert Facebook-Threads und schmiedet psychologische Profile, die er dann wieder verwirft.
Weil Marc Degens irgendwann freimütig bekennt, dass er alles im Leben Donald Duck zu verdanken habe und er sich zu den Donaldisten zu zählen scheint, werde ich von nun an »intellektuelle Gegenwart Berlin« einfach »Entenhausen« nennen. Keine Frage, dieses Buch ist unterhaltsam. Etwa über die unterschiedlichen Ansichten und Interpretationen inklusive all der Spekulationen z. B. über sexuelle Avancen zu bzw. von diesem oder jenem zu lesen. Degens kommt dabei entgegen, dass er intensiv über Tote schreibt, die sich nicht mehr echauffieren können (Scheel, die Rutschkys, auch Wolfgang Welt, der aber sehr gut wegkommt, was daran liegen könnte, dass er mit den Bewohnern von Entenhausen nie etwas anfangen konnte und Degens das zu bewundern scheint, obwohl auch er eigentlich durch seine diversen Aufenthalte in Armenien und Kanada gefeit sein müsste). Aus dem Freund Michael Rutschky wird im Laufe der Geschichte »Herr Rutschky«.
Das Buch endet mit der Vergabe des Berliner Verlagspreises 2019. Degens, DER Kopf des SUKULTUR-Verlags, rechnet sich Chancen auf einen Preis aus. Von sechs Nominierten gingen dann am Ende zwei leer aus, d. h. lediglich mit Urkunde und einer Art Aufwandsentschädigung. Einer davon ist tatsächlich SUKULTUR. Die Verzweiflung, die Degens da ergreift, ist die einzige Stelle im Buch, in der er nicht in diesen Rainald-Goetz-»loslabern«-Sound verfällt. Man könnte es, wenn der Begriff nicht so abgegriffen wäre, authentisch nennen. Ein Blick auf die Preisgewinner zeigt, wo und wie die Prioritäten liegen. Man zeichnet eben ungern einen Donald Duck aus (lieber z. B. Verbrecher). Dabei hätte SUKULTUR schon längst Preise erhalten müssen. Schließlich klappte es dann 2021 mit der Gießkannenausschüttung durch Frau Grütters, in der 63 Verlage prämiert wurden. Aber da war »Selfie ohne Selbst« schon fertig, wie an der Bemerkung »Hamburg, Frühjahr bis Winter 2020« zu sehen ist.
Bisweilen hatte ich Mühe all die zitierten Wortmelder, die irgendwann nur mit Vornamen genannt werden, auseinanderzuhalten, wurde aber immer froher, niemals auch nur ein Staubkorn in diesem Entenhausen gewesen zu sein; weit entfernt von diesen Kulturposeuren, die sich ihre Anerkennungen gegenseitig gekonnt zuschieben. Da bin ich lieber jemand, der warum auch immer, sein belangloses Zeug schreibt, das, so ehrlich muss man sein, niemanden längere Zeit interessiert. Dieser Frohsein hindert mich daran, die Feinheiten der Beschreibungen (zum Beispiel wie und warum jemand auf die Aussage eines anderen reagiert) adäquat einzuordnen. Ich bin also der falsche Mann für dieses Buch und möchte darauf verweisen, andere Rezensionen zu lesen. Oder – es klingt wahnsinnig, ich weiß – direkt das Original.
Ich kenne überhaupt nichts von Marc Degens, aber heute kam die neue »Volltext« mit vollen fünf dreispaltigen Seiten aus seinem Büchlein (von 96 Print-Seiten – was bleibt dann noch?).
Immerhin mehr oder minder schnörkellos geschrieben, randvoll mit Gossip und Indiskretionen, und ich erkenne die Rutschky-Schule.
(Dass er an einer Stelle auch nicht unerwähnt lässt, dass er sich die Fingernägel schneidet ... lässt mich dann aber doch an Reich-Ranickis Vorwurf gegen Ingeborg Bachmanns Simultandenken.)
Auch ich mochte Rutschky. Wegen dem »Alltag«. Wegen seinen Foto-Romanen. Weil er kein boring Akademikertum raushängen ließ. Weil er sein Hundi-Spießertum nicht versteckt hat. Und dann noch wegen »Errungenschaften. Eine Kasuistik«, das seltsamerweise kaum noch irgendwo erwähnt wird, aber seinerzeit [1982] nicht nur für mich mal wichtig war (weil es das vorhergehende Jahrzehnt und überhaupt die Republik soweit gut zusammenfasste und half, sie zu verabschieden).
Außerdem mochte ich Rutschkys Idee von »Die Stadt als Roman«. Das konnte ich wegen einer persönlich einschneidenden Sache gut adaptieren für damals neu zu beginnende fragmentarische Welterkundung. Natürlich ist unser Düsseldörfchen nicht Berlin, und so große Geschichte wie dort kann es hier auch gar nicht geben. (Am besten bleibt man ja doch von der oft gleich aufdringlich werdenden Geschichte verschont. 1989 war ich far east und far out, und das hatte sehr viel Gutes. 1992 hatte ich dann die Gelegenheit nach Berlin zu gehen, aber ich folgte lieber meiner Westbindung: Ich ging nach Brüssel.)
Aber »Die Stadt als Roman« war eine Formel und eine Musterform, all die Ecken und Gegenden und meine dort spielenden Geschichten, in ein neu zu bearbeitendes, handhabbares Modell zu transferieren. Ich erinnere mich, dass etwa zu der Zeit auch (für mich von einer inspirierten Rowohlt-Reihe her) der Flaneur in Mode kam, die neu zu sehende (alte: berlinerische) Urbanität, frische Lesarten des (nach den längst entleert dastehenden Antagonismen Öko und Punk) sich wieder unverkrampft modern zu geben erlaubenden Lebens. Damit passte nun alles noch ein bisschen besser zusammen, und half, sich von dem noch schwer dominanten Theweleit ein Stück weit zu »emanzipieren« wie auch von der sich dauernd selbst überholenden Postmoderne à la francais. Ein anderswie akzentuiertes Leitmotiv.
Dass Rutschky mit seinem Wirkkreis dann doch letztlich zweite Reihe war (allerdings sicherlich relevant über Berlin hinaus, zumal ja auch Berlin, nach Bohrer, nur Provinz ist; siehe auch das Degens’sche Namensdröppeln), das ist als Schmerz nachzufühlen. Aber musste der sich später tatsächlich so schäbig zeigen? Was sogar mich, als ich den Scheel-Text damals las, mehr als seltsam berührte, im Blick auf die Rutschky-Qualitäten. Insofern halte ich diesen Rutschky & Adepten-Komplex und seine Implosion zwar nicht für bedeutsam, aber doch lehrreich.
Was mich auf mein Verständnis der Sache bringt, auf die mutmaßliche Deformation durch den eigenblut-gedopten und doch unaufhaltsam alles verschlingenden Betrieb (eine Krankheit durch Kränkung, die sogar ich, ein Niemand noch von den Randfiguren, früh durch Berührung mit den einschlägigen Kreisen wahrgenommen habe).
Einmal – ich meine, das war 2003 – habe ich die Stuckrad-Barre-Figur auf der Buchmesse in Leipzig erlebt. Ich musste elendig lange auf Jemanden warten, und hatte drei rasche Begegnungen hintereinander von ihm gut im Blick. Nach meiner Wahrnehmung war er nach Verhalten und Mimik dreimal hintereinander eine komplett andere Person. Das war einigermaßen verblüffend anzusehen, gab aber auch schwer zu denken. Er hat sich, soweit ich das mitbekommen habe, dann später ja auch über ein großes Coming out in die Wahrhaftigkeit (oder eine neuere, als nächstes Buch Bedeutung heischende Version davon) von dieser adaptierten déformation professionelle zu befreien versucht. Und ich bringe das alles mit Rutschkys ungesichertem, ins Kränkende abrutschenden Tagebau-Buch in Zusammenhang. Da musste, unter all den Gebirgen von Kulturtheorie, etwas ausgegraben und abgebaut werden, und sei es gegen die eigene, bestens lancierte Figur, gegen deren Zu- und Beiträger und Promotoren, und zuletzt gegen sich selbst. Die Welt stirbt an das Gesicht geklammert, das man ihr abreißt. (Danielle Sarréra)
Aber noch mal Degens. Die stärkste Stelle in seinem Text ist für mich die: »Früher hätte ich mich dafür wochenlang geschämt und bei jedem Gedanken an die Nacht einen Migräneanfall bekommen. Heute denke ich, es ist gut im Gedächtnis zu bleiben.«
Früher waren wir mal Stars. Heute sind wir alle Emmanuel Carrères.
Allerdings auch längst zu Viele, als dass es auch nur den 15-Minuten-Ruhm für Jedermann noch geben kann.
Die Hölle, das ist der Nachruhm der anderen.
Danke für diese Einblicke.
Ist es schäbig gewesen von Rutschky sich sozusagen posthum noch an seinen Innercircle durch Indiskretionen zu rächen? Ich stelle diese Frage ehrlich. Denn irgendwie liebt doch jeder solchen Klatsch – es sei denn, man ist nicht betroffen. Oder? Im Degens-Buch geht es ja auch darum, ob es noch einen vierten Band geben wird, der die letzten Jahre Rutschkys zeigt. Und wie erleichtert alle sind, als dies (u. a. vom Verleger) negiert wird. Weil es keinen Herausgeber gäbe. Was ich nur begrenzt schlüssig finde. Und das sage ich, der ja wirklich gar kein Interesse an Interna aus dieser Szene hat.
Wie auch an Stuckrad-Barre. Ihre Schilderung vom multiplen Darsteller ist beeindruckend. Ich habe ihn vor einigen Jahren mal in einer TV-Sendung gesehen. Mein Eindruck war, dass er nicht ganz bei sich war – und nun frage ich mich, was das bedeutet. Schriftsteller-Darsteller? Oder ist das echt? Und was bedeutet das für das Werk?
Den 15-Minuten-Ruhm gibt es dennoch, weil er für jeden in unendlichen Medien möglich ist. Wer es nicht so richig geschafft hat, wird immer noch eine Viertelstunde bei RTL 2 bekommen. Nur, dass das immer weniger mitbekommen. Carrère wollte ich immer mal lesen, aber es kam immer etwas dazwischen. Ich ertappe mich zusenhends dabei, in alte Gewohnheiten zu verfallen. Zweifellos ein Makel.
Für Stuckrad-Barre möchte ich mich verwenden: er hat ADHS, und ist außerdem der polytoxischen Selbstmedikation zugetan. Da kann man schon mal 3 ganz und gar verschiedene Persönlichkeiten, vermutlich als Resonanz auf die wechselnden Begegnungen (mirrowing) mit verschiedenen Teilnehmern auf der Buchmesse beobachten. Kein leichtes Leben, sieht nur von außen spannend aus.
Gestern auf ARTE ein Spielfim, da musste ich an die Rezension zurückdenken: Doubles Vies, auf deutsch: Zwischen den Zeilen. Dasselbe Thema, Autofiktion. Der einfallslose Autor Leonárd ist dazu verdammt, sein Leben hinter Pseudonymen zu erzählen. Er kann nichts anderes, er hat keine Phantasie (ohne Koketterie diesmal, nicht wie Proust). Seine Erzählungen werden von allen Bekannten leicht dekodiert, nur seine erotische Figur »Xenia« bleibt aufgrund eines glücklichen Missverständnisses unentdeckt. Es ist die Frau des Lektors, der einen anspruchsvollen Verlag leitet, und mit der Digitalisierung kämpft. Er will nicht, aber er muss. Die ganze Branche, Buch, Film, Rundfunk, Politik, etc. befindet sich in Aufruhr. Jeder der schreiben kann, muss bloggen, um die Aufmerksamkeit für seine Bücher zu generieren. Information gilt als entwertet, weil das »Vertrauen weg ist«. Sehr schön die Parallele zur Politik: der Abgeordnete, vermutlich Sozialist, hat ein analoges Problem. Er muss seine Affairen verbergen, weil er das »Restvertrauen«, mit dem er sich durch die Öffentlichkeit bewegt, keine Skandale verträgt. Eine dumme Polizeiaktion im Bois de Boulogne, und das könnte es gewesen sein. Seine Assistentin ist die Frau von Leonárd. Sie wird ihm die Affaire mit Selena (Juliette Binoche) verzeihen. Der Autor Leonárd ist der banalste Mensch, den man sich denken kann. Außer seiner Affaire hat er nichts zu verbergen. Er huldigt der Selbstgeiselung, woraus er das Recht ableitet, auch alle anderen runterzuputzen. Sein letztes Buch stößt beim Verleger auf Ablehnung; nur Selenas Schützenhilfe bringt den Schmöker in die Regale. Die Affaire kühlt sich ab, und Leonárd bleibt nichts anderes übrig, als auch diese Erfahrung zu Literatur zu machen.
Doubles Vies hat für die Literatur insgesamt eine schlechte Prognose: die Zeiten, wo der Mensch interessant war, weil er eine Affaire hatte, sind vorbei. Das Geheimnis Nummer 1 in Frankreich, welche Ironie, lockt niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Die Banalität der Zeitgenossen ist die letzte Wahrheit. Wie sagten zahlreiche Geister so schön: man schlägt ja ein Buch auf in der Erwartung, wenigstens einen interessanten Menschen zu treffen. Ganz gleich, ob die Zentralfigur oder den Ich-Erzähler. Ansonsten wäre es nicht der Mühe wert!
Danke für den Hinweis auf den Film, den ich mir dann doch anschauen werde (die Vorankündigung fand ich nicht so interessant).
Autofiktion ist ja kein Schreiben mehr hinter Pseudonym, sondern die Selbstausstellung – allerdings mit Auslassungen und/oder Ausschmückungen. Das literarische daran ist nicht das Leben des Protagonisten (also meist ein Schriftsteller), sondern die sprachliche Umsetzung. Für den Autor ist die Autofiktion meist ein Segen, weil er sich keinen Plot mehr ausdenken muss. Jemand wie Wolfgang Welt hatte das ganz klar so gesehen. Er bekannte, keinerlei Phantasie zu haben, um ein Buch über jemand anderen zu schreiben als sich sich selber. Es sei auch 99% (oder waren es 99,9%) wahr, was er schreibe. Es macht dann der Stil, die Sprache. Den kann man ablehnen oder mögen...
Für die Literaturkritik ist die Autofiktion ein Segen: Sie kann sofort ihrem Gott Authentizität huldigen und braucht nur die wirklich fiktionalen Elemente herauszufiltern und, was man besonders gerne tut, das Personal abgleichen. Autofiktionen werden damit zu erweiterten Home-Stories. Sie verstärken in der Öffentlichkeit auch die Aura des Schriftstellers als prominente und wichtige Person. Literarische Qualitäten spielen da kaum noch eine Rolle. Für die Phantasie gibts dann »Fantasy«-Bücher mit Monstern oder Elfen.
Der Autor in dem Film scheint demnach eine Tragik zu haben: Das einzige Erlebnis, welches seinem Leben in irgendeiner Form einen Sinn gibt und für andere von Interesse sein könnte, muss er verschweigen. Der einzige Ausweg wäre die »Flucht« in den Roman, die Erzählung, die »Geschichte«. Dies würde einen hohen Aufwand bedeuten. Aber ich schau es mir erst einmal an...
Roman oder Leben?
Wieso ‘Flucht’ in den Roman, fragte ich mich gerade unwillkürlich – wartet dort nicht eines der letzten verbliebenen Abenteuer? (Vor allem in saturierten Weltverhältnissen, wenn man Himalaja-Wanderungen und dergleichen hinter sich hat.)
Auch außerhalb des Romangeschehens, scheint die Essenz (Stoff und Durchdringung) eher in der Fiktion. Selbstentäußerungen sind es, die uns zu uns selber bringen. Oder auch: ‘Ich selber bin die frei erfundene Figur’. (Ulla Berkéwicz)
Das habe ich mal lange gedacht, und auch etliche bereichernde Jahre damit zugebracht, also Romane zu konzipieren und sie auch nach und nach zu schreiben. Irgendwann, als sie schon weitgehend gediehen waren (und ich auch noch durchaus an sie geglaubt hatte), wurde mir klar, dass, selbst wenn ich sie zu Ende bringen würde, sie doch kaum jemand läse (weil es einerseits einfach längst zu viel Geschriebenes gibt ... und mir andererseits ein weiteres, heute unabdingbares Narrativ dazu fehlt, sie zu vertreten). Das Abenteuer daran war ebenso irgendwann weitgehend erschöpft. Trotzdem, so das Gefühl bis heute, war es die Anstrengung wert gewesen, weil ich zumindest eine Zeit lang ein unbekannt erweitertes Leben lebte.
Als postmaterieller (und postheroischer) wahrscheinlich allzu abgeklärter Zeitgenosse scheint mir auch heute noch der Roman oft das Wesentliche(re). (Widerstrebe, entzücke, frage, kämpfe, arbeit ... mich gerade durch die Bücher von Pierre Guyotat, und habe wieder diesen Gedanken: Wie aufregend kann alles noch einmal sein!). Solche singulären Literaturen (ja, Gott sei Dank noch im Plural) holen einen noch mal aus dem Midcult heraus.
Was allerdings dem allermeisten Geschriebenen heute fehlt, ist die Tragik. Selbst denen, denen etwas Bedeutendes zustößt, selbst denen, die ein ‘Schicksal’ haben, weil die Schicksale und die Extreme, wie alles, auch auf einem längst schon damit überreich beschickten Markt konkurrieren. Oder anders gesagt: ‘Alles ist schon von allen gesagt, nur sind noch nicht alle geboren’. (Godard) Das Fragwürdigste an den Dingen bleibt eben doch immer wieder ihre Darstellungsform – Kunst.
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Den kompletten Wolfgang Welt habe ich mal in einer Büchervitrine gefunden (wo es übrigens auch einen Krasnohorkai gab, anscheinend kein entsorgtes Geburtstagsgeschenk, sondern mit etlichen Lese-/Gebrauchsspuren), sah mich aber außer Stande ihn zu lesen. Der Signal-Rausch-Abstand, die Ratio von durchlebter Misere und dafür gefundener Sprache, stimmte für mich nicht. Ich brachte das Buch brav zurück.
Dann doch lieber hochgejazzte Autofiktion. Für tatsächlich gelungen halte ich ‘Limonow’ von besagtem Emmanuel Carrère (‘Yoga’ werde ich wohl nicht lesen). Der real-existierende Limonow hatte ein wirklich spektakuläres Leben, über dessen Erzählungen (und Einblicken in die russische Barbarei) man sich blendend erstaunen und wundern kann ... und dann auch noch jede Menge über uns, den so schillernd anders korrupten ‘Westen’ lernen. Solche Lektüre führt dann allerdings auch zu der Art von Blasiertheit, dass man sich die Geschichten hierzulande publizierten Ausgedachtheiten und Migrations-Geschichten und Coming-of-Arsch-Dramen nicht mehr antun will.
Oder ich Arsch eben. Eines meiner Schlüsselerlebnisse der letzten Jahre: Mangolds Rezension von ‘Allegro Pastell’ : Ich entbrannte gewissermaßen ob solch literarischer Luzidität, und war mit zwei, drei Klicks auf der Leseprobe – und was für ein blutleeres, elaboriertes Zeug ich fand. Das Ingenieursstadium des Romans – aber ohne Ingenium, dafür sozusagen im weißen Kittel und mit einer exakt ausgerichteten Reihe Kugelschreiber in der Hemdtasche.
Mangold kann tatsächlich bisweilen aus einem Esel ein Rennpferd machen. »Allegro Pastell« wollte ich lesen, aber nicht kaufen; der Verlag hat mich nicht eines Leseexemplars für würdig erachtet, was vermutlich gut war. Ich wurde neugierig darauf durch das Midcult-Buch, wobei ich sagen muss, dass auch diese Lektüre am Ende verlorene Zeit war. Abgesehen davon hat es der »Coming-of-Arsch«-Schreiberei ein hübsches Etikett verpasst. Immerhin.
Ihr Vermissen der Tragik ist interessant. Tatsächlich müsste hierfür der Begriff erst einmal definiert bzw. abgegrenzt werden. Denn der Midcult hat ja sehr wohl einen Begriff des Tragischen. Dieser ist allerdings in höchstem Maße trivialisiert, ergießt sich fast immer in Alltagslarmoyanzen, was per se nicht falsch wäre, wenn es – richtig! – als Kunst erzählt und nicht einfach nur »zu Protokoll« gegeben würde. Das Problem des autofiktionalen Schreibens besteht ja in der fehlenden Distanz zu den eigenen Befindlichkeiten. Alles mündet in eine Berichtsform und wird durch die Suggestion der Authentizität für jegliche Kritik als sakrosankt erklärt. Das hat am Rande eben auch mit den identitätspolitischen Debatten zu tun (nicht unbedingt bei Carrère [hier wohl eher im Gegenteil], aber bei den Gänseblümchen-Schreibern).
Und wo soll denn auch die Tragik herkommen? Der saturierte Westler kennt sie – wenn überhaupt – aus dem Drama. Sie schreiben selber vom »postheroischen« Zeitalter. Aber keine Tragik ohne einen Helden. Wir sehen gerade wieder beides; zwei Flugstunden entfernt. Hemingway ging noch in den spanischen Bürgerkrieg. Hier lesen »Autor:innen«.
Nicht falsch verstehen, aber in diesen Zeiten könnte man wieder Ernst Jünger zur Hand nehmen. Schon als Korrektiv zu all dem seichten Midcult-Geschwafel derer, die sich darüber aufregen, wenn sie erfahren, dass jemand sie im Tagebuch als »dumm« charakterisiert hat.
Stimmt: Es brauchte wohl einen Helden, oder vielleicht auch nur eine entsprechend fordernde Aufgabe.
Heute in der SZ: ‘Selenskijs Männlichkeit: Der ukrainische Staatschef ist ein tragischer Held, weil er diese Art Heldentum nicht gewählt hat. Er setzt nicht auf physische Stärke und er führt den Kampf, weil er muss. Über eine neue Art von Leitfigur. Kolumne von Jagoda Marinic’
Aber kann man tragisch sein, schon ohne etwas nicht gewählt zu haben? Ich weiß nicht. Ist eine schwere Krankheit tragisch?
(Obwohl Selenski sicher DER Held der Stunde ist.)
Andererseits sind diese Bombardements so idiotisch, so kläglich; und zugleich scheint es, dass auch der Krieg schon wieder Alltag wird. (Bei Aljazeera und France24 ist er nun immer öfter nur noch zweite oder dritte Schlagzeile.)
Wahrscheinlich steht es mir nicht zu, das zu sagen, aber es trivialisiert zumindest einen Anspruch auf so etwas wie Jüngers ‘existenziellen Ausnahmezustand’. Es bleibt nur Not, Wut und Hilflosigkeit angesichts dummer, infamer Aggression.
Ansonsten ‘No more heroes’ bleibt für mich einer der wenigen übrig gebliebenen Leitsätze aus den 80ern.
Ich glaube, bezüglich Tragik braucht es eine größere Perspektive, eine größere Dimension, nicht unbedingt ‘griechisch’ oder gar göttlich – aber doch irgendeine das menschliche Ausmaß Übersteigendes – und damit auch eine entsprechende Sicht auf uns selbst. Das gibts vielleicht erst wieder in einer planetaren Sicht. Etwa angesichts der Unumkehrbarkeit der Zustände, auf dir wir zugehen. Aber sogar Katastrophen scheinen mit ihrer Häufigkeit eben immer öfter gewöhnlich zu werden. Ich stelle mir dann manchmal eine Fernsehdokumentation vor, die aus ferneren Jahrzehnten auf unsere wilden 20er zurückblickt.
Pasolini war für mich tragisch. In den Jünger habe ich anlässlich ihre Schwilk-Besprechung prompt noch mal hineingesehen. (‘Afrikanische Spiele’, eines der zwei Bücher von ihm, die ich behalten habe.) Allein die Distanz solcher Geister, die von so ferne sprechen, können manchmal noch mal etwas eröffnen. Leider resonierte da aber sprachlich nichts mehr.
Ich fand Schwilk interessant, als eine Kategorie Kulturarbeiter, die sich einem Höheren widmen oder in den Dienst stellen um davon für ihr Leben zu profitieren. Um sich dann zu verirren, und doch an der eigenen Geringfügikeit zu scheitern wie Schwilk. Ist das tragisch? Wohl auch nicht.
Das Gefühl ist, die Zeiten müssten doch großartig sein – aber sie sind (spätestens seit der alles nivellierenden Pandemie) insgesamt so kläglich.
Ob Selenskyi ein Held ist, weiß ich nicht. Er hat aber das Zeug, eine tragische Figur zu werden. Zu Beginn fiel mir Tarkowskis Film »Opfer« ein, in der Menschen für den Erhalt der Erde ein Opfer bringen. Ich dachte dabei an Selenskyi oder sogar an die Ukraine, die die Welt opfern werde, damit Putin befriedigt ist. An eine sinnvolle Verteidigung durch die Ukraine hatte ich nicht geglaubt. Uns sind ja solche kämpferischen Ideale, die auch etwas mit Selbstachtung und Ehre zu tun haben, vollkommen fremd, nein: suspekt geworden. Deutschland würde sich sofort ergeben – um der Menschenleben willen. (Wohl wissend, dass dann erst recht ein Terror-Regime beginnen würde.)
Jünger wird nicht literarisch interessant, sondern aufgrund seines emotionslosen Blickwinkels, den er bei der Betrachtung eines Käfers wie auch im Krieg einnimmt. Da besteht für ihn kein Unterschied. Daher ist er den meisten so unheimlich. Und Jünger lehnt ja auch das Heldentum ab, aber nicht aufgrund eines subkutan schwärenden Pazifismus.
Schwilk ist das Gegenteil eines Tragikers. Er geht in ein Kriegsgebiet, weil er Jünger nachahmen will, weil er an sich selber feststellen möchte, wie das ist, wenn einem die Granaten um die Ohren fliegen. Das zeigt mir, dass er eigentlich nichts von Jünger verstanden hat. Nachher drückt er dann auf die antiamerikanische Drüse (die überall reichlich Stoff geben würde, aber eben nicht bei der Befreiung von Kuwait). Mit der Zeit ist Schwilk dann wie so einige andere Feuilletonisten (Matussek etwa, dem ich auf Facebook nur folge, um seinen intellektuellen und moralischen Verfall zu beobachten) in einer Mission verfallen, die überall Kontrolle, PC oder Schlimmeres wittert. Er wird damit denen, die er vorgibt zu bekämpfen, immer ähnlicher.
Tragisch ist vielleicht Borys Romantschenko, der Holocaust-Überlebende, der nach der Befreiung für die Russen Zwangsarbeit leisten musste und jetzt, mit 95, von einer russischen Rakete getötet wurde.
@die_kalte_Sophie
Ich habe jetzt endlich »Zwischen den Zeilen«, den französischen Film über diesen Leonard und die Literaturszene, gesehen. Er ist ein bisschen wie ein Rohmer-Film gemacht; die Dialoge sind wichtiger als die eigentliche Handlung. Ihre Beschreibung trifft es ziemlich genau. Einen ähnlichen Film über eine deutsche Literaturszene wird es dennoch nie so geben, weil uns die Selbstironie fehlt. Die deutscheste (?) Szene ist, als Leonard in dieser Buchhandlung vor Publikum sitzt und man ihm erzählen muss, dass sein letzter Roman im Internet große Wellen geschlagen und schlecht weggekommen ist. Er hat es weder mitbekommen noch hat es ihm jemand erzählt. Und das, obwohl alle »bloggen«...
»wurde aber immer froher, niemals auch nur ein Staubkorn in diesem Entenhausen gewesen zu sein; ...«
Die verschiedenen (Kunst)Szenen hier in Berlin sind im Grunde belanglos. Man nimmt sich wichtig und ist es doch nicht. Man zelebriert Hybris. Mich haben all diese Literaten-Szenen, derer, die sich für bedeutsam halten, nie interessiert, mich haben die Merve-Leute nicht interessiert, mich hat der Rutschky-Kreis nicht interessiert. Und bei den meisten Menschen, wenn man sie kennenlernt, bemerkt man nach einigen Stunden, daß sie Arschlöcher sind. Merve ist eigentlich nur wegen solcher (durchaus unterhaltsamen und intellektuell auch anregenden) Bücher wie von Philip Felsch spannend. Theorie als Lebensform – was ein wenig auch eine Reminiszenz an die eigene Studienzeit ist.
Aber dennoch ist Berlin eine ungeheuer spannende und in Teilen sogar auch schöne Stadt – man muß nur wissen, wo und in welchen geheimen Ecken das ist Fall ist. Und ich verrate schonmal soviel: es sind nicht Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln. Wer aber, ich nenne nur zwei Beispiele, durchs Rheingauviertel streift oder in Friedenau rund um die Niedstraße sich bewegt, wird Herrliches finden.
@bersarin
Ich habe keinen Zweifel an Ihren Schilderungen und dass es in Berlin Herrliches gibt – selbstredend. Es ging mir eben nur um dieses spezielle Milieu, welches Degens da beschreibt und das natürlich auch nur ein Ausschnitt ist, freilich einer, der die Feuilletons bestimmt (leider). Von daher sind sie nicht belanglos, sie überschütten sich gegenseitig mit Preisen uns Stipendien, netzwerken herum. Am Ende sind sie nicht besser oder schlechter wie all die anderen Zunftbünde oder Kleingartenvereine.
(Ehrlich gesagt war ich überrascht, dass Degens derart verflochten ist. Seine [Mit-]Schöpfung, der SUKULTUR-Verlag ist wirklich verdienstvoll.)