Mar­cel Bey­er: Kal­ten­burg

Der Na­tur­wis­sen­schaft­ler Her­mann Funk (ge­bo­ren 1934) ver­ab­re­det sich im Jahr 2006* mit der Über­set­ze­rin Ka­tha­ri­na Fi­scher. Fi­scher soll ei­nen eng­li­schen Tou­ri­sten, der sich für die mit­tel­eu­ro­päi­sche

Marcel Beyer: Kaltenburg

Mar­cel Bey­er: Kal­ten­burg

Vo­gel­welt in­ter­es­siert, durch Dres­den und Um­ge­bung füh­ren und sie möch­te hier­für ih­re or­ni­tho­lo­gi­schen Kennt­nis­se ver­bes­sern – so­wohl in der Be­stim­mung der Tie­re als auch in der la­tei­ni­schen und eng­li­schen Über­set­zung. Funk war jah­re­lang As­si­stent von Pro­fes­sor Lud­wig Kal­ten­burg, ei­ner Ko­ry­phäe auf dem Ge­biet der Or­ni­tho­lo­gie – und weit dar­über hin­aus. Kal­ten­burg ist auch Ver­fas­ser des Bu­ches »Ur­for­men der Angst«, in dem er sich mit der mensch­li­chen Psy­che (vielleicht…eher not­ge­drun­gen) be­schäf­tigt. Im Lau­fe des »Un­ter­richts« kom­men die bei­den sehr schnell vom ei­gent­li­chen Ge­gen­stand ab; sie ge­ra­ten ins Er­in­nern, tref­fen sich noch Mo­na­te da­nach, schlen­dern durch Dres­den und das Elb­tal, neh­men al­te Ge­bäu­de und Ge­gen­den in Au­gen­schein, schau­en den Vo­gel­schwär­men zu und ver­knüp­fen da­bei ih­re Er­in­ne­run­gen an Zei­ten und Per­so­nen; sie re­ka­pi­tu­lie­ren und spe­ku­lie­ren und be­schwö­ren das Ver­gan­ge­ne.

So könn­te man in Kür­ze »Kal­ten­burg« zu­sam­men­fas­sen und hät­te noch nicht ein­mal an­näh­rend den Rah­men die­ses Bu­ches ent­wor­fen, ge­schwei­ge denn ei­ne Ah­nung be­kom­men von Mar­cels Bey­ers Spra­che und Er­zähl­stil.

Prä­zep­tor Lud­wig Kal­ten­burg

Dreh- und An­gel­punkt in Funks Le­ben ist je­ner von vie­len ver­ehr­te, von ei­ni­gen ge­hass­te, durch­aus am­bi­va­len­te Pro­fes­sor Kal­ten­burg. Am­bi­va­lent in sei­nen po­li­ti­schen Hand­lungs­wei­sen, sei­nem ge­le­gent­lich fast cho­le­ri­schen We­sen und auch in sei­ner Ei­gen­schaft als In­sti­tuts­lei­ter. Kal­ten­burg ist durch­aus skur­ril in sei­nem Um­gang mit Tie­ren (er glaub­te, die Tie­re hät­ten ihm die Lei­tung des In­sti­tuts über­tra­gen) und dann – nicht zu­letzt – der ab­rup­te Weg­gang nach Wien (ei­ne Rück­kehr, nach­dem Kal­ten­burg En­de des Krie­ges in Wien kei­ne An­stel­lung fand und nach Leip­zig ging).

Funk kennt Kal­ten­burg seit Kin­desta­gen; auf Ein­la­dung sei­nes Va­ters (er war Bo­ta­ni­ker) ging Kal­ten­burg im Haus in Po­sen ein und aus. Er soll­te das Kind Her­mann für die Na­tur in­ter­es­sie­ren. Ir­gend­wann be­lausch­te der Jun­ge un­ge­wollt ein Ge­spräch zwi­schen ihm und sei­nem Va­ter und kur­ze Zeit spä­ter kommt Kal­ten­burg nicht mehr; nicht ein­mal mehr der Na­me darf im El­tern­haus ge­nannt wer­den. Zu­nächst ver­mu­tet er, Kal­ten­burg hät­te sei­nen Charme sei­ner Mut­ter ge­gen­über zu stark spie­len las­sen. Dann meint er, im Streit von ei­nem dar­wi­ni­sti­schen Prin­zip ge­hört zu ha­ben. Den wah­ren Grund (oder das, was er für den wah­ren Grund nimmt) er­fährt er erst drei­ssig Jah­re spä­ter.

Spä­ter, nach dem Krieg, als Kal­ten­burg nach Leip­zig kommt, in Dres­den wohnt, wird Funk sein wis­sen­schaft­li­cher As­si­stent; sein Leh­rer, weit über das Fach­li­che hin­aus. Schön früh er­weist sich: Funk wird Kal­ten­burg im­mer un­ter­le­gen blei­ben; er wird im­mer im zwei­ten Glied ste­hen und kein Schü­ler des gro­ssen Lud­wig Kal­ten­burg wer­den.

All die­se bio­gra­phi­schen Ein­zel­hei­ten, Er­in­ne­rungs­split­ter und Evo­ka­tio­nen wer­den as­so­zia­tiv und mä­an­dernd er­zählt. Ins­be­son­de­re wenn Funk sich der Er­eig­nis­se in sei­nem El­tern­haus, den Er­leb­nis­sen mit sei­nen El­tern er­in­nert, ge­lin­gen Bil­der von enor­mer Kraft und Dich­te und ei­ner fei­nen, gra­zi­len Zärt­lich­keit die­sen Men­schen ge­gen­über, die beim Luft­an­griff auf Dres­den 1945, un­mit­tel­bar nach ih­rem Um­zug von Po­sen nach Dres­den ums Le­ben ka­men und den jun­gen Her­mann als Wai­sen zu­rück­lie­ssen. Und wie sub­lim bei­spiels­wei­se die­se Er­zäh­lun­gen als ad­op­tier­tes Kind in ei­ner Fa­mi­lie und die Schil­de­rung der Di­stanz zu den bei­den »Ge­schwi­stern« (ei­gent­lich nur ei­ne klei­ne Epi­so­de, aber hier kunst­voll er­zählt).

Fra­gen­des Er­zäh­len

Er­in­ne­run­gen wer­den wie­der-holt, ge­wo­gen und be­kom­men im Kon­text nach all den Jahr­zehn­ten manch­mal ei­ne neue oder ein­fach nur zu­sätz­li­che Be­deu­tung; nein, kei­ne Be­deu­tung, son­dern sie er­hal­ten ei­ne Mög­lich­keit. Denn es sind nie­mals auf­trump­fen­de oder prah­le­ri­sche Re­mi­nis­zen­sen, son­dern fra­gen­de, su­chen­de, opa­ke Er­in­ne­rungs­fet­zen und manch­mal muss sich Er­zäh­ler dann aus dem Netz in­ein­an­der ge­wo­be­ner Bilder…befreien. Oder im gün­stig­sten Fall wird al­les zu­sam­men­ge­knüpft zu ei­nem neu­en, viel­leicht plau­si­ble­ren Bild; im­mer noch oft ge­nug in der Vag­heit ver­blei­bend. Und manch­mal dann ein Seuf­zen: Man glaubt, die Welt nie­mals schär­fer zu beobachten…und dann muss man sich ein­ge­ste­hen, man hat vor lau­ter Auf­re­gung für nichts, we­der für die ei­ge­ne Per­son noch für das Ge­gen­über ei­nen Blick ge­habt. (Und vie­les, so re­ka­pi­tu­liert Funk, weiss er bis heu­te nicht und wird es nie er­fah­ren; vor al­lem, was sei­ne El­tern be­trifft).

Ne­ben Kal­ten­burg lernt Funk be­reits im El­tern­haus den Luft­waf­fen­pi­lo­ten Mar­tin Speng­ler ken­nen, der spä­ter ein re­nom­mier­ter Künst­ler wird, und den Tier­fil­mer Knut Sie­ver­ding. Welch ein Er­eig­nis, den De­but­film Sie­ver­dings im Hau­se Funk zei­gen zu kön­nen! Und welch klei­ne Ent­täu­schung für Her­mann, als Sie­ver­ding gar nicht in sei­nem Film zu se­hen ist, son­dern aus­schliess­lich die Vö­gel (Schnep­fen). Und wie sich die spä­ter ge­won­ne­nen Ein­drücke auch in die Er­in­ne­rung der Kind­heits­ta­ge im­mer wie­der hin­ein­mo­geln und Funk (und Fi­scher) dies ver­su­chen, zu ver­mei­den – und es dann doch nicht im­mer schaf­fen. Ein in­tel­lek­tu­el­les Ver­gnü­gen, die­sen bei­den beim Zu­rück­schau­en so­zu­sa­gen zu­zu­schau­en.

Und na­tür­lich wird al­les do­mi­niert durch die­se streit­ba­re und kom­ple­xe Per­sön­lich­keit Kal­ten­burgs, die aber we­der ver­klärt noch ver­teu­felt wird. Die zeit­le­bens un­ge­klär­ten Ver­strickun­gen in den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus; Kal­ten­burgs Ver­su­che, die Mu­se­ums­tücke, die nach dem Krieg von den So­wjets re­qui­riert wur­den, nach Dres­den zu­rück­zu­ho­len (und sein Schei­tern); sei­ne ge­le­gent­li­che An­bie­de­rung an das sich ent­wickeln­de Sy­stem im Osten Deutsch­lands (und dann das fast flucht­ar­ti­ge Ver­las­sen; ver­mut­lich – so deu­tet es der Le­ser – kurz nach dem Mau­er­bau). Nie ist et­was so ein­deu­tig, wie es auf den er­sten (oder zwei­ten) Blick scheint – im­mer wie­der ge­sel­len sich neue Aspek­te zu die­ser Per­sön­lich­keit da­zu. Selbst wenn Kal­ten­burg in die NSDAP ein­ge­tre­ten war – war­um ver­kehr­te er in Funks Haus, ob­wohl der Va­ter schon da­mals auf­grund sei­ner re­gime­kri­ti­schen An­sich­ten, die er kaum ver­hehl­te, schlecht an­ge­se­hen war und es für Kal­ten­burg zum Nach­teil ge­reich­te, die­se per­so­na non gra­ta zu be­su­chen? Und war­um dann plötz­lich Kal­ten­burgs Hin­wen­dung zu den mensch­li­chen Äng­sten, wo er bis­her fast aus­schliess­lich Vö­gel be­ob­ach­tet und de­ren Ver­hal­ten er­forscht hat­te? Wa­ren dies even­tu­ell ver­steck­te Re­fle­xio­nen?

Kal­ten­burg und die Vö­gel – und sei­ne Lieb­lings­vö­gel: die Doh­len. Brei­ten Raum neh­men Dar­stel­lun­gen von Vo­gel­schwär­men und das Prä­pa­rie­ren von Bäl­gen ein. Bei­des wird aber nie nur me­cha­nisch be­schrie­ben, son­dern ist im­mer auch im re­fle­xi­ven Er­zäh­len auf­ge­ho­ben; ein­ge­bet­tet. Das Le­sen des Bu­ches ver­langt Ge­nau­ig­keit und manch­mal Ge­duld – bleibt aber da­bei trotz­dem un­an­stren­gend, fast leicht. Und da­bei ent­steht so­gar ein Sog; ei­ne Span­nung, die mehr ist, als der Wunsch zu er­fah­ren, wie es wei­ter­ge­gan­gen ist.

‘Ich ha­be die Bei­ne des Mau­er­seg­lers ge­se­hen’

»Was küm­mert Sie die Zeit – Sie su­chen Ähn­lich­kei­ten!«, so Ka­tha­ri­na Fi­schers Be­zeich­nung zu Funks Um­krei­sen von Er­in­ne­rung. Es kor­re­spon­diert mit Kal­ten­burgs »Ein­schwö­ren durch Au­gen­schein« – Mot­to der (sel­te­nen und da­durch so kost­ba­ren) abend­li­chen, heim­li­chen Wald­streif­zü­ge des Kin­des Her­mann Funk mit Kal­ten­burg, von de­nen die El­tern nicht wis­sen dürf­ten. Und bei al­ler Fül­le (und auch De­tail­fül­le) ist »Kal­ten­burg« auch ein Buch über die Ver­geb­lich­keit so et­was wie Re­kon­struk­ti­on durch Er­in­ne­rung. Al­les nur An­nä­he­run­gen, Split­ter, die im Ide­al­fall – viel­leicht – zu In­di­zi­en wer­den; kaum zu Ge­wiss­hei­ten. Es blei­ben eher Mut­ma­ssun­gen und die­se sind das, was den Men­schen aus­macht, was das Ge­heim­nis ei­ner Per­sön­lich­keit cha­rak­te­ri­siert, ja, was den Men­schen erst zur Per­sön­lich­keit wer­den lässt.

Bey­er ge­lingt es vir­tu­os, die Per­sön­lich­keit des Pro­fes­sors nie als Schrul­lig­keit zu de­nun­zie­ren – selbst da, wo es ei­gen­ar­tig an­mu­tet, et­wa, wenn er sei­ne Doh­len am Abend »ein­sam­melt«, um sie in die Vo­lie­re für die Nacht zu ver­brin­gen (er macht dies, weil die Tie­re an ih­re na­tür­li­chen Fein­de nicht ge­wöhnt sind und schnell zur Beu­te wür­den). Und als dann Kal­ten­burgs Doh­len ver­gif­tet sind (welch’ ei­ne Sze­ne!), kommt dies rück­blickend wie ein letz­tes Zei­chen; ein Si­gnal für ei­nen not­wen­di­gen Aus- und Auf­bruch. Die Fra­ge, wer die Doh­len ver­gif­tet hat – sie wird nie ge­löst wer­den; Funk und Fi­scher kom­men auf Krau­se, den Fah­rer und Spit­zel.

Au­gen­blicke, die et­was auf im­mer ver­än­dern. Funks Kind­heits- und In­itia­ti­ons­er­leb­nis des sich im Zim­mer ver­ir­ren­den Mau­er­seg­lers (Ich hat­te die Bei­ne des Mau­er­seg­lers ge­se­hen). Kal­ten­burgs Zer­würf­nis we­gen ei­ner Lap­pa­lie mit Mar­tin Speng­ler. Vor­her der Bruch von Funks Va­ter mit Kal­ten­burg. Oder die Idio­syn­kra­si­en (sind es wirk­lich Über­emp­find­lich­kei­ten?) ei­nes Ehe­paa­res in Be­zug auf la­tent zu­neh­men­de ju­den­feind­li­che Äu­sse­run­gen in der Ge­sell­schaft der 50er und 60er Jah­re im kom­mu­ni­stisch wer­den­den Osten (bei Sta­lin, von des­sen Blick Kal­ten­burg schau­dernd er­zählt, gar nicht erst zu re­den). Dann die Er­leich­te­rung über Sta­lins Tod, die nicht ge­zeigt wur­de – und das Auf­at­men; ein kur­zes nur. Oder, viel spä­ter, die Sze­ne, als Kal­ten­burg auf dem Weg vom Bäcker zum In­sti­tut am Mor­gen ei­nen Li­ter Milch ver­giesst und das nicht be­merkt. Die­ses pein­li­che Be­rührtsein beim Auf­wi­schen der ver­schüt­te­ten Milch im gan­zen Haus und der An­blick der löch­ri­gen Socken des Pro­fes­sors, als die­ser die Schu­he aus­zie­hen muss.

»Ma­gi­sche Mo­ti­ve«

Dank­bar­keit und Ent­täu­schung von Funk sei­nem Men­tor ge­gen­über. Ich wer­de nie ver­ges­sen, was ich ihm zu ver­dan­ken ha­be und Nie­mand hat mich je so tief ent­täuscht wie Lud­wig Kal­ten­burg. Die Ver­leug­nung der Po­se­ner Zeit durch Kal­ten­burg, das Strei­chen die­ser Zeit aus sei­nem Le­bens­lauf: ein »Aus­lö­schen« der Kind­heit Funks – ist es wirk­lich das, was ihn so ent­täuscht? Oder der Weg­gang des Pro­fes­sors, nach dem Funk jah­re­lang den Brief­kon­takt ver­mied? Ein Mit­ge­hen nach Wien war für Funk un­mög­lich; un­aus­ge­spro­chen war das Kon­sens zwi­schen den bei­den. Ist Funk viel­leicht mit ei­ner Zu­schrei­bung ei­nes Kul­tur­ver­tre­ters der neu auf­kom­men­den DDR tref­fend cha­rak­te­ri­siert, als kein un­freund­li­cher Mensch…der aus­sah, als ha­be er viel er­lebt, wenn auch we­nig von dem er­reicht, was er sich ein­mal vor­ge­nom­men hat­te? Funk, ein in­tro­ver­tier­ter Su­cher – auch im Al­ter noch; viel­leicht ein biss­chen ehr­geiz­los oder nur ge­fan­gen zwi­schen Loya­li­tät und Auf­be­geh­ren sei­nem Über­va­ter ge­gen­über? Oder ist der Weg­gang Kal­ten­burgs ein neu­er Va­ter-Tod?

Im Re­fu­gi­en­bür­ger­tum* der Dresd­ner Ge­sell­schaft, (wie luf­tig die­se klei­ne Mi­kro­so­zio­lo­gie des kon­ser­vier­ten, den Krieg über­dau­ern­den Kul­tur- und Bil­dungs­bür­ger­tums) bei den Ha­ge­manns, lernt Funk Kla­ra Ha­ge­mann ken­nen, sei­ne spä­te­re Frau. Kla­ra, ein wa­cher und klu­ger Geist, ver­sinkt spä­ter mehr und mehr in Prousts »Re­cher­che«, die sie nicht mehr los­lässt und wie Bey­er die­se Welt­flucht Kla­ras als Ei­fer­sucht Funks auf die­se Welt, die aus­schliess­lich dem an­de­ren ge­hört er­zählt, die­se Ei­fer­sucht, die – viel­leicht? – wech­sel­sei­tig war (be­zo­gen auf Funks Or­ni­tho­lo­gie), ei­ne Ei­fer­sucht auf ei­ne in­ne­re Welt, in der er sich al­lein be­wegt, nur al­lein be­we­gen kann, und der sich bis­wei­len mit ei­ner Hin­ga­be, mit ei­ner Ge­duld wid­met, die sein ge­gen­über sich in die­sem Mo­ment wo­mög­lich sel­ber wünscht, das ge­hört zu je­nen »ma­gi­schen Mo­ti­ven«*, von de­nen die­ses Buch so reich ist und die häu­fig fast noch wir­kungs­mäch­ti­ger (dau­ern­der) sind als die Haupt­er­zähl­strän­ge.

Und noch ein an­de­res Bei­spiel für die­se Ma­gie (vom Au­tor sel­ber als Bei­spiel be­nannt*) ist je­ner Mo­ment ir­gend­wann in den 80er Jah­ren, als der Rie­sen­alk als ei­ne der re­qui­rier­ten Mu­se­ums­stücke end­lich wie­der zu­rück nach Dres­den kommt – je­ner Rie­sen­alk, den Funk be­reits als Kind mit sei­nen El­tern im Mu­se­um be­stau­nen soll­te und dann der Bom­ben­an­griff dies ver­ei­tel­te und in die­sem Mo­ment, Jahr­zehn­te spä­ter, bei der Rück­füh­rung, er­füllt sich – end­lich – die Kind­heit.

Ge­ra­de im Ab­sei­ti­gen, schein­bar Ne­ben­säch­li­chen, im Kennt­lich­ma­chen die­ses land­läu­fig so Un­er­heb­li­chen er­weist sich Bey­er als glän­zen­der, kunst­vol­ler Dich­ter; Ver-Dich­ter. Da ist er ganz Epi­ker im Sin­ne Pe­ter Hand­kes (die­ses Wort so tref­fend auf Her­mann Lenz an­wen­dend).

Fik­tio­na­li­sie­run­gen

Und so könn­te man den Le­ser über­ge­ben, dass er sich in die­se Welt hin­ein­be­ge­be und ein­tau­che. Aber man kommt wohl nicht um­hin, ei­ni­ge er­gän­zen­de An­mer­kun­gen zu den Prot­ago­ni­sten im Ro­man zu ma­chen. So gibt es mit den Bio­gra­fien der drei Haupt­fi­gu­ren un­ver­kenn­ba­re und ge­woll­te Par­al­le­len zu rea­len Per­so­nen. Lud­wig Kal­ten­burg trägt so­wohl cha­rak­ter­lich als auch bio­gra­fisch deut­li­che Zü­ge von Kon­rad Lo­renz. Mar­kus Speng­ler ist »mein Beu­ys«* und der Tier­fil­mer Knut Sie­ver­ding hat vie­les mit Heinz Siel­mann ge­mein­sam. Hin­zu kommt, dass Lo­renz, Beu­ys und Siel­mann tat­säch­lich ein­an­der kann­ten, teil­wei­se mit­ein­an­der ge­ar­bei­tet ha­ben und lan­ge Kon­takt zu­ein­an­der hiel­ten, auch als sich ih­re We­ge längst ge­trennt hat­ten. Bey­er be­treibt nun mit die­sen drei Haupt­fi­gu­ren ei­ne Fik­tio­na­li­sie­rung, in dem er sie in den Osten »ver­setzt«. Ein fahr­läs­si­ges Vor­ge­hen des Au­tors ist na­tür­lich aus­ge­schlos­sen – im Ge­gen­teil: Bey­er ver­fech­tet die­ses Vor­ge­hen of­fen­siv: als Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Rea­li­tät und eben die­ser Fik­tio­na­li­sie­rung, in dem der Au­tor her­vor­schim­me­re*. Und so gibt es Bil­der, ins­be­son­de­re bei der Fi­gur des Lud­wig Kal­ten­burg, die beim Le­ser so­fort an be­rühm­te Fo­to­gra­fien des rea­len Kon­rad Lo­renz er­in­nern.

Die­ses Ver­fah­ren ist nicht ganz un­ge­fähr­lich, da es nicht nur beim ober­fläch­li­chen Le­ser zu Ver­mi­schun­gen zwi­schen Fik­ti­on und Rea­li­tät füh­ren kann. In dem Bey­er aber die fik­tio­na­len Ele­men­te ne­ben den bio­gra­phi­schen Tat­sa­chen be­wusst* kom­po­niert, ist ihm ei­ner­seits na­tür­lich nicht zu un­ter­stel­len, die Fak­ten zu ver­fäl­schen – an­de­rer­seits je­doch muss er sich fra­gen las­sen, ob ein der­art of­fen­si­ver Ge­brauch tat­säch­lich not­wen­dig war, um die Cha­rak­te­ri­stik der Fi­gu­ren aus­zu­fül­len. Zwar hät­te es auch bei we­ni­ger ein­deu­ti­gen Par­al­le­len Mut­ma­ssun­gen und Zu­ord­nun­gen ge­ge­ben, aber das Pro­blem ist, dass der Le­ser nun – ab­ge­se­hen von der geo­gra­phi­schen Fik­tio­na­li­sie­rung nach Ost­deutsch­land – die We­sens­zü­ge der Prot­ago­ni­sten im Ro­man über die von Bey­er vor­ge­nom­me­ne Ver­frem­dung hin­aus mit de­nen der rea­len Men­schen gleich­setzt. Zu­mal wenn ihm aus­führ­li­che bio­gra­fi­sche Kennt­nis­se – ent­ge­gen zum Au­tor – feh­len. Hei­kel wird das bei­spiels­wei­se, wenn die Am­bi­va­len­zen über Kal­ten­burgs Ver­hal­ten in der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus durch­aus de­nen von Kon­rad Lo­renz nach­ge­stal­tet sind, aber ob die bei Kal­ten­burg un­ter­schwel­lig the­ma­ti­sier­te Be­wun­de­rung für die Auf­rich­tig­keit der neu­en, der ge­wan­del­ten So­wjet­uni­on ei­ner Ma­xi­me von Lo­renz ab­ge­schaut ist, darf be­zwei­felt wer­den.

Im Heine-Haus bei "Müller & Böhm"

Im Hei­ne-Haus bei »Mül­ler & Böhm«

In­so­fern wä­re es auch mög­lich, die Zu­wei­sun­gen an die rea­len Per­so­nen, die, we­ni­ger im Buch (es sei denn, man kennt die Bio­gra­phien et­was ge­nau­er) als vor al­lem in der Re­zep­ti­on über die­ses Buch ar­ti­ku­liert und von Bey­er ve­ri­fi­ziert wer­den beim Le­sen ein­fach zu ver­nach­läs­si­gen und die Prot­ago­ni­sten des Ro­mans durch­ge­hend als fik­ti­ve Fi­gu­ren zu »neh­men«, de­ren Bio­gra­fie so­zu­sa­gen »an­ge­dich­tet« ist. Denn die­ses Wis­sen ist für das Ver­ständ­nis des Ro­mans nicht zwin­gend not­wen­dig. Viel­leicht so­gar ir­ri­tie­rend. Und viel­leicht so­gar ei­ni­gen stö­rend. Denn »Kal­ten­burg« ist kei­nes­falls ein Psy­cho­gramm von Kon­rad Lo­renz (oder von Beu­ys oder von Siel­mann).
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»Stun­den­lang könn­te ich lau­schen«. Re­gen auf Teer­pap­pe. Das Rau­schen in den Bäu­men.

Die­se Über­le­gun­gen trü­ben den Ge­samt­ein­druck, die Emp­fin­dun­gen bei der Lek­tü­re über­haupt nicht. Man er­tappt sich da­bei, dass un­ge­lieb­te (weil lei­der in­fla­tio­när und da­bei so oft un­be­rech­tigt ver­wand­te) Wort vom »Mei­ster­werk«** hier pas­send zu fin­den und – end­lich ein­mal! – da­mit ein­ver­stan­den zu sein.

* Zi­ta­te von Mar­cel Bey­er aus ei­nem Ge­spräch mit Ru­dolf Mül­ler an­läss­lich ei­ner Le­sung vom 03.07.08 im Hei­ne-Haus der »Li­te­ra­tur­hand­lung Müller&Böhm«, Düs­sel­dorf – no­tiert vom Ver­fas­ser
** Ru­dolf Mül­ler in o. e. Ver­an­stal­tung


Die kur­siv ge­druck­ten Stel­len sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch

6 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Das Rau­schen in den Bäu­men. Nun­ja...
    Ich find’ ein­fach nur schön und wich­tig, dass noch je­mand sol­che Bü­cher liest. Und dass an­schlie­ßend dar­über so aus­gie­big und of­fen­sicht­lich fach­kun­dig ge­schrei­ben wird. Lei­der geht mir mir »so­was« to­tal am Arsch vor­bei. Si­cher­lich scha­de für mich, und Schan­de über mein Haupt, ich weiß. Aber Freud und Leid deut­scher Li­te­ra­ten in­ter­es­sie­ren mich ein­fach nicht die Boh­ne. Dann doch eher Ly­rik von z.B. Ror Wolf: DA hab’ ich mei­nen Sprach-Spaß dran.
    Da­für aber: eins rauf mit Map­pe bei den mei­sten, ach was: bei al­len Keuschning’schen Web­log-Kom­men­ta­ren hier und dort. DIE les ich im­mer mit zu­stim­men­dem Ver­gnü­gen. Äh... die sind ja auch viel kür­zer.

  2. Wo steht, dass das Buch über »Freud und Leid deut­scher Li­te­ra­ten« han­delt?

    Trö­sten Sie sich: Es liest eh’ kaum ei­ner. Wer kur­zes le­sen will – da­für gibt’s ja Klap­pen­tex­te.

  3. Dan­ke für die aus­führ­li­che Be­spre­chung. Ich le­se das Buch auch ge­ra­de und bin eben­falls sehr be­ein­druckt. Die Pres­se war beim Er­schei­nen des Bu­ches da­mals ja ge­teil­ter Mei­nung...