Sechs qualitativ unterschiedliche Essays von Mark Greif sind im Band »Bluescreen« versammelt. »Ein Argument vor sechs Hintergründen« heißt es ein bisschen monströs im Untertitel, wobei man sich am Ende der Lektüre fragt, welches Argument denn wohl gemeint ist, außer vielleicht jenes, dass alles irgendwie was mit Medien zu tun hat und das Bluescreen-Verfahren des Fernsehens Assoziationen mit dem Himmel wecken könnte (daher vermutlich auch der progressive Gedanke, dem Büchlein eine gelb-oranges Cover zu verpassen). Greifs Stärke ist eindeutig nicht die Analytik, was er jedoch – anders als so manch anderer Essayist – leider nicht mit einer gewissen Sprachmächtigkeit zu kompensieren vermag. Auch die Assoziationen, die er entwickelt, sind bedauerlicherweise nur begrenzt geistvoll.
Aber der Reihe nach. Zwei Essays fallen deutlich ab und sind letztlich nur argumentationsfreie Thesenaufsätze. In »Gesetzgebung aus dem Bauch heraus oder: Umverteilung« greift der Autor zunächst das ritualisierte Ventilieren von Ansichten zu allem und jedem als Meinungshuberei an, um dann selber in solche zu verfallen und mit einer als surreal bezeichneten Gesetzgebung dem Individualismus das Wort zu reden, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu fordern (10.000 Dollar/Jahr) und alle Einkommen über 100.000 Dollar im Jahr zu 100% zu besteuern. Dabei nennt er außer seinem Gerechtigkeitsempfinden leider keine Gründe und so bleibt nur ein immerhin gut gemeinter Text. Und in seinem Aufsatz über Youtube spielt er mit der These, dass das Leben ohne Internet früher angenehmer gewesen sei und moniert am Ende, dass Youtube kein sauber verwaltetes chronologisches Archiv vorweisen kann und damit genau so gedächtnislos sei wie das Fernsehen.
Gehaltvoller ist da schon sein Essay über das, was er »anästhetische Ideologien« nennt: Wenn Menschen plötzlich das Bedürfnis verspüren, die Häufigkeit oder Intensität der Erfahrung zu reduzieren, dann hängt dieses Unbehagen offenkundig eng mit der ästhetischen Überreizung durch fiktionale und reale politische Dramen zusammen, die uns permanent präsentiert werden. Die Methoden, die Intensität der Erfahrungen zu reduzieren, nennt Greif anästhetische Ideologien und dockt nach einem kurzen Ausflug bei Platon, Aristoteles und Sokrates bei Epikur und Epiktet an. Für viele Amerikaner mag ein solcher Ausflug in die griechische Antike vielleicht Neuland sein, aber ein bisschen mehr hatte man sich schon erwartet.
Im Widerspruch zu diesem Plädoyer für einen medialen Eskapismus (im Zeitalter von dessen Unmöglichkeit) steht Greifs affirmativer Aufsatz über das »Reality-TV«. Zwar konstatiert er, dass im Fernsehen alle versuchen würden, jemand anderes zu spielen, doch dabei fühlen sie zugleich weiterhin die Fesseln des Prosaischen, des Ungenügenden, ja der ganz banalen Höflichkeit, so dass Konformität zum Chaos gerät und Imitation zur Idiosynkrasie. Dennoch ist das Urteil positiv: Reality-TV biete über alle Klassengrenzen hinweg einen Einblick in die Realität. Es ermögliche unser Urteilsvermögen zu erproben und zu schärfen. Den Unterschied zwischen der »Realität« und der vom Medium künstlich evozierten Realität erkennt Greif offensichtlich nicht. Ja, es [das Format] ist billig, es ist unmoralisch, es tut nicht einmal so, als ginge es um irgendwelche höheren Werte, es wird stark zensiert – und doch kann es lehrreicher, wahrhaftiger und amerikanischer sein als fast alles, was wir sonst zu sehen bekommen. Auf die Idee, dass ein Medium nicht ausschließlich dazu da sein sollte, »Realität« und sei diese auch noch so fiktiv abzubilden, kommt er nicht.
Wirkten schon die Verweise auf das US-amerikanische Reality-TV zuweilen recht exotisch (die Hinweise des Übersetzers sind sparsam), so wird der Aufsatz über die Bemühungen, dem »Rap« Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, zum ambivalenten Ereignis. Greif zitiert ausgiebig aus Rap-Texten, die naturgemäß in englischer Sprache verfasst sind und auch entsprechend abgedruckt werden. Leider gibt es nicht einmal den Versuch, diese Sprachspiele durch eine Übersetzung ins Deutsche auch nur annährungsweise nachvollziehbar zu machen. Dabei erfährt man durchaus einiges über die Geschichte des Rap in den USA und die unaufhörlich fortschreitende Kommerzialisierung – die in krassem Widerspruch zu dessen Anfängen steht. Greifs Text verfängt sich jedoch zuweilen in einer Art Bußpredigt und es wirkt schon arg aufgesetzt wenn er gebetsmühlenartig bedauert allzu lange am »Postpunk« festgehalten zu haben (den er zwischendurch dann doch als »authentisch« und »antikapitalistisch« feiert), statt die Feinheiten der Rap-Poetik erkannt zu haben. Zur Wiedergutmachung intoniert er jetzt Rap-Texte mit Emphase in der U‑Bahn, wobei er dann – durchaus peinlich berührt – das Wort »Nigga« (oder »Nigger«) aus politisch korrekten Gründen weglässt und nicht einmal stumm mitsingt – jemand könnte ja von den Lippen lesen. In diesen selbstbezogenen Stellen ist dieser Essay vom seifigen Charme der PC-Spießigkeit. (Dass es sich um eine Satire handelt, erscheint ausgeschlossen.)
Der interessanteste Aufsatz ist der über die sogenannten »Sexkinder« und die bigotte Moral, die sich aus dem Widerspruch zwischen unverhohlen erotischer Ikonografie junger Erwachsener in der Öffentlichkeit und der gleichzeitigen strengen Tabuisierung der Sexualität mit diesen Protagonisten ergibt. Greif holt weit aus. Die sexuelle Liberalisierung der 1960er und 70er Jahre ist für ihn zunächst und vor allem ein rhetorischer Akt gewesen, der am Ende oft genug das Gegenteil dessen bewirkt hat, was intendiert war. Sexuelle Befreiung mutierte zum Mitmachzwang; Liberalisierungen hoben zwar die soziale Ächtung von Praktiken auf, denen die Menschen ohnehin nachgingen, aber dass gerade in den USA heftige Unterschiede in eine »offiziöse« Darstellungswelt und dem kruden Alltagsleben auftun, scheint er entweder nicht wahrhaben zu wollen oder nicht wahrnehmen zu können. Eine Folge dieser rasanten Entwicklungen sei, so die These, dass es nur schwer möglich ist, ohne Häme oder Mitleid bekennend sexfrei zu leben. Indem jedoch das Verhältnis zum Sexuellen ständig Diskursgegenstand wird (bis in das Private hinein), ist ein unbefangener Umgang gar nicht möglich. Aus Befreiung wird ein subtiles Diktat. Dazu stehen auch die Formen der »Neuen Jungfräulichkeit« bei (weiblichen) Teenagern nicht im Widerspruch – wobei Greif hier zumeist nur Projektionen oder Beruhigungspillen von Erwachsenen entdeckt.
Es ist weder besonders neu noch originell, wenn konstatiert wird, dass gerade erst das Verbot die sexuelle Faszination für Sexkinder produziert (wobei ausdrücklich zwischen erotischer Anziehung pubertierender Kinder und pädophilen Neigungen Kindern gegenüber unterschieden wird; für letzteres hat auch Greif kein Verständnis). Wir erleben den Hochsommer der Sexkinder. Nabokov hat allenfalls ihren Frühling gesehen, so Greifs Diagnose. Dabei gehe es in Wirklichkeit um die Attraktivität von Jugendlichkeit und um den physischen Aspekt der Erinnerung daran, also eine Art Regression in die eigene Kindheit und Jugend, die man in derartiger Freiheit nicht habe erleben können oder dürfen. Denn während der junge Mensch noch nie alt gewesen ist, war der alte Menschen schon einmal jung. Die Dämonisierung (und Bestrafung) derjenigen, die auf diese »Sexkinder« in unzulässiger Weise reagieren (nämlich mit Erregung) erklärt er so: Wenn die Moral den sexuellen Wert der Jugendlichkeit – mit all ihren bedrohlichen Nebeneffekten – prinzipiell akzeptiert, muss sie sich voller Rachedurst auf jenen einen Punkt fokussieren, an dem die Widersprüche sichtbar werden, und diejenigen überhart bestrafen, die der Jugend allzu sehr nachjagen oder dies in einem allzu wörtlichen Sinn tun.
Leider sind die Argumentationslinien manchmal nicht besonders stringent. So heißt es einmal leicht optimistisch: Es ist noch nicht zu spät, um die Trivialisierung der Sexualität und die Abschaffung des Jugendkultes auf die Agenda einer humanen Zivilisation zu setzen. Im nächsten Satz widerspricht sich der Autor dann sofort: Zugleich bin ich jedoch überzeugt, dass wir diese Gelegenheit verpasst haben. Ein Übersetzungsfehler? Der hierauf folgende Satz schränkt dann wieder ein: Zumindest gehe ich davon aus, dass ich selbst davon nicht mehr profitieren werde. Abgesehen davon wäre es interessant zu erfahren, worin der Profit liegen würde. Der Essay endet dann mit dem Appell an eine Haltung überlegener Dekadenz, umgeben von der Dunkelheit des Alters, das Licht der Jugend scheuend: Nehmt die Herausforderung an! Moderne, noch eine letzte Anstrengung, wenn wir wirklich Befreier sein wollen. Aber was, wenn einem vor diesen Befreiern im gleichem Maße graut wie vor deren Gegnern?
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Anästhetische Ideologien: Warum eigentlich Ideologien und was ist damit genau gemeint? Jeder Versuch sich der Informationsflut zu entziehen?
Nur eine kleine, nebensächliche Anmerkung: Die Farbgebung der edition suhrkamp richtet sich nach der Bandnummer, nicht nach dem Inhalt.
@Geyst: Danke für den Hinweis. Dachte mir schon, dass es hierfür eine Erklärung gibt. (Ich ändere meine flapsige Formulierung nicht – soll man mein Banausentum ruhig sehen.)
@metepsilonema: Kurz geantwortet: Ja. – Den Begriff der »Ideologie« sieht Greif weniger negativ konnotiert als wir (sozusagen weniger ideologisch). Wobei er Wert darauf legt, dass diese »Flucht« (meine Vokabel) vor der »ästhetischen Überreizung friweillig, also: einsichtig geschieht. Ansonsten drohe Depression.