Es war schon ein sehr gewagter Cliffhanger mit dem Martin von Arndts letzter Roman »Rattenlinien« endete. Andreas Eckart, Nervenarzt und in der Weimarer Republik Polizeikommissar in Berlin, später von der Gestapo gefoltert und in die USA geflohen, hatte sich im Herbst 1946 von seinen Freunden und Bekannten zur Teilnahme an der Operation »Rattenlinien« des US-Geheimdienstes CIC in Europa überreden lassen. Hochrangige Nazis und SS-Offiziere versuchten über die Alpen nach Italien um von dort aus per Schiff nach Südamerika zu fliehen. Eckart und US-Special-Agent Dan Vanuzzi bildeten zusammen mit zwei Helfern ein »Greifkommando« und sollten den SS-Obersturmbannführer Gerhard Wagner, der aktiv an Judenerschiessungen beteiligt war, aufspüren damit er vor Gericht gestellt werden konnte. Salopp gesagt, war Eckart ein bisschen zu erfolgreich – er bohrte zu tief, entdeckte dabei Verstrickungen amerikanischer Dienste, die ebenfalls dafür Sorge trugen, ehemalige Nazis sicher entkommen zu lassen. Eckart geriet zwischen die Fronten, wurde festgenommen und hörte nun auf der Zugtoilette die bereits entsicherten Maschinenpistolen der amerikanischen Agenten. Der Leser rätselte über das Schicksal Eckarts.
»Sojus«, der neue Roman von Martin von Arndt, beginnt im Mai 1948 in Israel. Dan Vanuzzi und Ephraim Rosenberg, Eckarts Berliner Assistent aus den 1920er Jahren, der Hans-Rosenthal-gemäss nur mit viel Glück die NS-Diktatur überlebt hatte, treffen sich in Tel Aviv. Vanuzzi ist beim britischen MI6; bei den Amerikanern gilt er als Landesverräter. Beide sorgen sich um ihren Freund Eckart, der in einer psychiatrischen Anstalt in den USA festgehalten wird. Er weiss zu viel, wird sediert, ist von der Außenwelt abgeschlossen.
Sie wollen ihn befreien, schmieden einen kühnen Plan, der auf 70 Seiten ausführlich und spannend erzählt wird (wenngleich der Ausgang durch den weiteren Fortgang der Geschichte praktisch sicher ist). Das Manöver gelingt, Vanuzzi und Rosenberg trennen sich, Eckart geht nach Deutschland, zunächst nach Hamburg, dann München (Berlin ist ihm politisch zu unsicher) und schließlich lernt er die Vorzüge vom immer stark zerstörten Würzburg kennen.
Und dann ist es der 21. Oktober 1956 und wenn meine Zeitrechnung aus »Tage der Nemesis«, dem ersten Eckart-Roman, stimmt, ist er fast 70 Jahre alt, als Dan Vanuzzi wieder in sein Leben tritt. Sechs Jahre nach der Befreiung von den Malträtierungen der Psychiatrie in den USA erzählt er Eckart von einem neuen Unternehmen für den britischen Geheimdienst. Im gegen die sowjetische Vorherrschaft aufstehenden Ungarn sei ein Dossier von einem unbekannten Informanten abzuholen, welches KGB Agenten im Westen enthülle. Bei dieser Gelegenheit erfährt Eckart von Sarkis, seinem Sohn aus der Liaison mit einer armenischen Freiheitskämpferin (die der Leser aus »Tage der Nemesis« kennt).
Sarkis, Kampfname »Sojus«, ist 33 und hatte eine Ausbildung beim sowjetischen KGB absolviert, bevor er sich in Ungarn den Aufständischen anschloss und einer der Rädelsführer wurde. Ein Auszug aus dem Dossier zeigt nun, dass Sojus ein Agent provocateur ist, der die Rebellion anstacheln soll, damit die Sowjets legitimiert werden können, einzugreifen. Mit schlechtem Gewissen, ein wenig Druck und der Entfachung von Neugier gelingt es Vanuzzi, Eckart zur »Operation Achilles« zu überreden. (Über die Doppeldeutigkeit des Operationsnamens wird man später einiges erfahren.)
Bis zum 5. November folgt der Leser nun Tag für Tag den beiden Protagonisten. Es geht von Würzburg über Innsbruck bis hinein ins zum Teil bürgerkriegsähnliche Budapest. Dabei verquickt von Arndt wie schon in seinen beiden anderen Eckart-Romanen historische Fakten und Ereignisse mit den Erlebnissen seiner fiktiven Helden, allerdings ohne in die Doku-Fiction-Falle zu tappen und beispielsweise effekthascherisch Prominente auftreten zu lassen. Der Leser lernt eine Menge über die damaligen Zustände in Budapest, den Hass der Ungarn auf die Russen und der scheinheiligen Politik der Großmächte, die zunächst den Ungarn mit ihren Propagandamedien (u. a. dem Kurzwellensender Radio Free Europe) Hoffnung machten und sie dann im Stich ließen, weil die Lösung der Suez-Krise aus ökonomischen Gründen wichtiger war. In einem instruktiven Nachwort sieht von Arndt, der von den Erzählungen seiner ungarischen Großtanten- und onkel über den Aufstand und die Flucht nach Österreich nachhaltig geprägt wurde, in diesem Handeln der Westmächte die noch heute virulenten Vorurteile und Animositäten der ungarischen Bevölkerung dem »Westen« gegenüber. Hinzu kommt die ebenfalls schwierige historische Aufarbeitung der Erhebung von 1956, dessen Erbe gleich von mehreren politischen Lagern – von nationalistisch bis sozialistisch – beansprucht wird.
Als »Politthriller« deklariert, entsteht auf den rund 200 Seiten, die sich mit der »Operation Achilles« beschäftigen, eine durchgängig starke Spannung. Dabei sind die Fronten nicht immer eindeutig, manches ist überraschend und zwischenzeitlich stellt sich die Frage, ob es das Dossier überhaupt gibt. Nicht immer ist der erste Eindruck der richtige. Auch Sojus’ Rolle, sein Agieren, bleibt unklar. Eckarts Begegnung mit seinem aggressiven und teilweise cholerischen Sohn bringt eine emotionale Note in das Geschehen, die, wie sich später herausstellt, Vanuzzi eiskalt kalkuliert hatte. Es ist nicht der einzige Grund für die Spannungen der beiden Protagonisten, die es auch noch zu bewältigen gilt.
Überhaupt hat hier das Agentendasein nichts glamouröses, es gibt keinen Luxus, kaum Sex, dafür Streifschüsse, Häuserkämpfe und andere Action, die allerdings wohltuend nichts mit den eher lächerlichen sterilen Filmstunts zu tun haben, die einem von einem gewissen (britischen) Filmagenten einfallen. Zudem ist die Handlung intellektuell fordernd. Der im Genre nicht unbedingt so bewanderte Leser genießt besonders die kleinen Passagen der Reflexionen der Protagonisten, etwa wenn Eckart vor der Aktion im heimelig-ruhigen Würzburg am Main beim Abendspaziergang sein Leben rekapituliert oder Vanuzzi in einer Kampfpause in Budapest in seine Kindheit und Jugend abtaucht. In diesen kleinen Ausflügen zeigt sich eine weitere Qualität des Autors: die des Erzählers.
Nein, die Story darf natürlich nicht erzählt werden. Das muss man sich er-lesen. Am besten man macht das gleich mit allen drei Andreas-Eckart-Romanen. Die wirken auch noch, wenn man das Ende kennt.
Ein so guter Erzähler!
Wieso braucht er nur den Aufhänger?
Na jut – auch der Meister JlC hat ihn immer jebraucht.
Aber MvA ist soviel besser als JlC!
Von M.v.Arndt habe ich hier durch die Begleitschreiben erst erfahren. Vielen Dank dafür! Ich habe alle drei Eckart-Romane mit nicht nachlassender Neugier – und teilweise auch von der Sprache und Stil des Autors fasziniert – gelesen.
Seine Geschichten sind nicht nur von einer intellektuellen Nachhaltigkeit geprägt sondern auch von einem ausserordentlichen niveauvollen Erzählstil. Für mich zeigt sich dies beonders in den »Rattenlinien«, wo sich für mich alles – also Tempo, Plot, handelnde Personen – als stimmig und nachvollzienbar darstellt.
In »Sojus« hat für mich M.v.Arndt seine erzählerische Linie etwas verloren, vielleicht wollte er zuviel in diesem Roman.
Eckarts Zeit in der US-PSychiatrie und deren Auswirkungen bzw. Folgen ist fantastisch beschrieben, es fällt mir aber schwer einen Zusammenhang zu den Geschehnissen in Ungarn herzustellen. Wenn man dies weggelassen hätte und stattdessen mehr historische Details und Fakten – wie in den sehr guten Romanen zuvor – hineingebracht hätte, wäre »Sojus« aus meiner Sicht vielleicht noch beeindruckender. Auch die Vater/Sohn-Komponente – die ich erzählerisch als verblüffend schwach empfinde – war aus meiner Sicht verzichtbar.
Sarkis als Agent Provokateur hätte vollkommen ausgereicht. Beide von mir hier erwähnten Punkte verhindern meiner Meinung nach, dass der Roman »Sojus« das Niveau von den Rattenlinien erreicht.
Aber ich jammere hier auf hohem Niveau, dies ist aber der Erzählkunst von M.v.Arndt geschuldet und vielleicht hat mich der Autor mit den den »Rattenlinien« so sehr verwöhnt, dass meine Erwartungshaltung ein wenig anmaßend ist.
Vielleicht haben die ungarischen Wurzeln des Autors mit den entsprechenden emotionalen Spuren ihn daran gehindert, sein schriftstellerisches (sehr hohes) Niveau aus den beiden anderen Eckart-Romanen hier zu wiederholen.
Aber damit kein Mißverständnis versteht: Auch »Sojus« ist ein aussergewöhnlicher Roman und auf jeden Fall lesenswert. Wenn er auch in meinem persönlichen Eckart-Ranking nur den 3. Platz belegt.
Vielen Dank chargesheimer für diesen Kommentar.