Spätherbst 1961. Der italienischstämmige 54jährige US-Amerikaner Dan Vanuzzi, mit ganz vielen »Ex«-Titeln (Ex-US-Army, Ex-CIC, Ex-Mossad), schlägt sich wörtlichen Sinn als Boxer Ted Jackson seit mehr als drei Jahren durch das Leben, und zwar in Essen, im Ruhrgebiet. Vanuzzi sieht jünger aus als er ist und er ist fit. Aber es ist kein Traumjob. Eigentlich war er so etwas wie ein »unabhängiger Informationsbeschaffer«, der ab und an von westlichen Geheimdiensten Aufträge bekam, mit denen man sich nicht selber abgeben wollte. Mit ihm der junge, rothaarige Ungarn-Flüchtling Ödön, der ihn während der Kämpfe coacht. Der Kampf ist zumeist Show. Buchmacher bestimmen, wer wann wie gewinnt und verliert. Wehe, man richtet sich nicht danach. Das ist der Einstieg in Martin von Arndts neuestem Polit-Spionageroman mit dem biblisch anmutenden Titel »Wie wir töten, wie wir sterben«.
In diese leicht aussichtslose Szenerie hinein wird er von zwei (zugegeben dubiosen) Franzosen angesprochen, die zwei Algerier, die sich in Deutschland im Exil aufhalten, suchen und Vanuzzi beauftragen, diese zu fassen und ihnen zu übergeben. Es sind Kämpfer der Unabhängigkeitsbewegung FLN, die den Franzosen in Algerien zu schaffen machen und wahlweise als Kommunisten oder Terroristen dargestellt werden. Ihnen werden Massaker gegen Franzosen und algerische Zivilisten nachgesagt. Vieles bleibt unklar, aber da die beiden die Geheimdienstregeln beherrschen und Vanuzzi und Ödön Geld brauchen, nimmt er an.
Fast gleichzeitig observiert Ephraim Rosenberg, inzwischen »über sechzig«, mit zwei Kollegen das Bundeshaus in Bonn. Angestachelt durch den Erfolg, den Chefbürokraten des Holocaust, Adolf Eichmann, in Argentinien verhaftet und vor ein israelisches Gericht gestellt zu haben, widmet sich Rosenberg im Auftrag des »Instituts« (dem Mossad) nun dem ehemaligen Lagerführer von Buchenwald und späteren Lagerkommandanten von Majdanek, Arthur Hermann Florstedt, und seinem Adjutanten Hermod Kaiser, aufzuspüren. Beide Protagonisten sind offiziell entnazifiziert und damit formal »juristisch unbelangbar«. Ein brisanter Auftrag, denn Deutschland ist nicht Argentinien.
Dem Leser von Martin von Arndts Thrillern sind die Hauptpersonen wohlbekannt. Ephraim Rosenberg war der »Lieblingsassistent« von Andreas Eckart. Beide gerieten 1921 in Berlin durch einen Mordfall in die Verwicklungen türkisch-armenischer Geheimdienste und deutscher Außenpolitik (»Tage der Nemesis«, 2014). 25 Jahre später, 1946, arbeiteten Rosenberg und Eckart zum ersten Mal mit Dan Vanuzzi in der Operation »Rattenlinien« zusammen und versuchten zu verhindern, dass ehemalige Nazis über die Alpen nach Südamerika fliehen konnten (»Rattenlinien«, 2016). Und 1956 gelang es Rosenberg und Vanuzzi zusammen mit dem jungen Ödon wichtige Dokumente aus dem kommunistischen Ungarn zu schmuggeln; die Emanzipation Ungarns vom sowjetischen Block scheiterte trotzdem. Von Arndt ließ dort damals Andreas Eckart im Kampf mit einem kommunistischen Agenten sterben (»Sojus«, 2019).
Wer die vorherigen Romane nicht kennt, muss keine Sorgen haben. Die Protagonisten werden eingehend charakterisiert. Beide sind keine schillernden Agenten; wer hier gängige Klischees sucht, muss weitergehen. Da ist das Raubein mit weichem Kern Vanuzzi, der keine gesicherte Zukunft zu haben scheint. Und eben jener Rosenberg, der mit seinen zwei Kindern und Frau in Israel gelebt hat. Aber er leidet, macht sein Überleben macht zu seiner Schuld, weil alle Verwandten im Holocaust umgekommen sind. Er kehrt zurück ins Land der Täter und beginnt Hölderlin und Kleist zu lesen: »Beide waren sie an den Deutschen verzweifelt.« Weiter heißt es: »Und nun, so schien es, war die Reihe an Rosenberg.« Von Arndts Erzählungen über den Seelenzustand von Rosenberg sind ergreifend, erinnern an die Verzweiflung vieler Überlebenden, an Jean Améry beispielsweise oder auch Paul Celan.
Nun also Vanuzzi und Rosenberg auf getrennten Pfaden, nichts voneinander wissend. Und doch kommen die beiden auf wundersame Weise zusammen, arbeiten kurz gegen- dann miteinander, weil – wider Erwarten – beide Fälle etwas Gemeinsames haben. Ein weiterer, allerdings stiller Akteur ist das Ruhrgebiet im Spätherbst 1961, als der Smog so »dicht und drückend« ist, dass man »keine dreißig Meter weit sehen konnte« und von Arndt zeigt in kleinen Splittern, dass er auch das literarische Stimmungsbild beherrscht:
»Krähen flogen tief über die Felder. In breiten Ackerfurchen stand das Brackwasser knöcheltief. Der Himmel war mit einer dichten Wolkendecke überzogen, ein einziges Graublau ohne klare Umrisse. Nur in der Ferne erkannte er am Horizont einen schwach orangefarben leuchtenden Streifen, eine deutlich abgegrenzte Linie, ab und an unterbrochen durch den Rauch von Fabrikschloten, der kerzengerade aufstieg und beim Betrachter ein unklares Gefühl von Sehnsucht erweckte.«
En passant erfährt der Leser einiges über Algerien und die französische Kolonialpolitik (mit leichter Sympathie-Schlagseite für die Befreier) und die Fragilität der Regierung de Gaulle zu Beginn der 1960er Jahren. Im Epilog wird ausgeführt, dass mit dem Rückzug der Franzosen die Leiden der Bevölkerung nicht aufgehört haben, weil nun die unterschiedlichen Befreiungsorganisationen einen Bürgerkrieg beginnen und am Ende eine Diktatur übernimmt.
Von Arndt gelingt es in souveräner Manier, garniert mit einer Prise Ironie, viele, durchaus bisweilen verblüffende Verwicklungen zu erzählen, die hier natürlich nicht verraten werden. Gezeigt wird auch, wie der dünn der Faden ist, um Geheimdienstarbeit mit Moral zu verbinden. Am Ende gibt es einen spannenden »Hamlet«-Showdown und dann passiert das fast schon für unmöglich Gehaltene: »Sonne, dachte Vanuzzi, zum ersten Mal seit Wochen!«
Und dann wartet man schon gespannt, wie es wo und mit wem weitergeht.