Die Bürgerrechtler der ehemaligen DDR übernahmen einst für sich Adornos Prämisse: Es gibt bzw. gab kein gutes Leben im Schlechten. Dies sollte vor Reinwaschungen, Wehklagen und nachträglichem Widerstandspathos speziell der eigenen intellektuellen Schicht warnen. In »Ein weites Feld« hat Günter Grass diesen Begriff dahingehend umkreist, als er die DDR eine »kommode Diktatur« nennen ließ und einen Sturm der Empörung erntete, schien doch sein ganzes Buch allzu willfährig die zwei Deutschlands als die beiden besseren Alternativen (jeweils) zum jetzt »vereinigten« Deutschland zu sehen.
Die Diskussion ist weder beendet noch überflüssig geworden. Sie weitet sich seit einigen Jahren aus – auf die (literarische) Verarbeitung der Nazi-Zeit. Es gibt seit einiger Zeit neue Bewegungen in dieser: Zunächst die der »jungen Wilden« (u. a. dokumentiert in Maxim Billers Aufsatz »Unschuld mit Grünspan«), die etlichen Nachkriegsbüchern wie beispielsweise Hermann Lenz’ »Neue Zeit« eine Behäbigkeit, ein stilles Einverständnis mit dem Gegebenen, eine literarische Stilisierung des Duckmäusertums breiter Teile der Bevölkerung vorwerfen
Gleichzeitig, fast unbemerkt, aber doch spürbar, begann parallel eine Art Gegenbewegung, die bewusst die Nazi-Vergangenheit unter dem Blickwinkel der Zivilbevölkerung in Bewältigung ihres Alltags sieht. Prominente Vertreter sind W. G. Sebald oder auch Dieter Forte, dessen in dieser Thematik weitergehende Roman »In der Erinnerung« Zustimmung bei Kritik und Publikum fand. Diese Schriftsteller sind meilenweit von dem Versuch einer revisionistischen Geschichtsschreibung entfernt. Die Betrachtung der Alltags- und Lebenswelt in dieser Zeit soll vielmehr Sensibilisierung und einen erweiterten Blick beim Leser erzeugen. Das im Alltag sich befindliche Individuum ist in dem Sinne Opfer, als es keinerlei Alternative zum vorliegenden gibt. Wie gesagt, weit entfernt von einer Hochstilisierung der Opferrolle der Deutschen oder gar des »Volkes“, versuchen diese Romane und Erzählungen die nicht an der Front gesammelten Erlebnisse des Krieges (Bombennächte; Lebensmittelknappheit; Denunziantentum; Unterdrückung – falls überhaupt bemerkt) im Kontext der Geschichtsschreibung zu verankern. In diese Kategorie passt im übrigen auch das Echolot-Projekt von Walter Kempowski.
Etliche Bücher des letztgenannten Genres entfernen sich durch beispielsweise expressionistische Erzählungen von der möglichen Identifikation des Lesers mit einer der Figuren. Das verhindert den nicht erwünschten Effekt einer »Stammtischgesellschaft«, die »gute« Erinnerungen« an eine schlimme Zeit pflegt und in Verharmlosung oder Überstilisierung endet. Die Möglichkeit des Missverständnisses (im Sinne des common sense) ist dann wesentlich geringer. Martin Walsers Erinnerungsbuch »Ein springender Brunnen« wählt diesen Weg nicht. Sein Erzählen ist konventionell, geradezu altmodisch in seiner zuweilen pedantischen Chronologie. Zwar entfernt sich der Dichter von seiner Hauptfigur, in dem er diese mit »Johann« anredet, aber soviel von Johann kann nur Johann selber wissen.
Dabei wäre es müßig nach Übereinstimmungen zwischen Walser und Johann zu suchen und/oder Differenzen auszumachen. Für die literarische Qualität dieses Buches hat dies keinerlei Bedeutung. Natürlich sind die Übereinstimmungen so erdrückend, wie die Unterschiede vielfach sind. Natürlich sind es immer auch Dichtungen, die der Wahrheit unterlaufen. Interessant an diesem Buch sind zwei andere Aspekte: Kann man ein Buch über eine Diktatur so schreiben, wie einem damals diese im Leben, im Alltag erschienen ist? Und: Wäscht diese Sicht nicht nachträglich alles rein?
Walser muss diese beiden Aspekte beim Schreiben gefühlt haben. »Ein springender Brunnen« beginnt mit einem kleinen Essay über die Möglichkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten, ohne das heutige Wissen über die Zeit zwischen 1932 und 1945 schreiben zu können. Der erste Satz ist Programm für das ganze Buch: »Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen ist.« Und: »Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte.« Walser erläutert, dass er erzählen wird, als sei das, was er heute weiß, nicht bekannt. Es ist das Ideal des reinen Erzählens, ohne nachträgliche Verschönerungen oder Dramatisierungen, ohne falsche Mythen oder wissenden Zeigefinger; »naturbelasse« nannte es einmal die Literaturkritikerin Iris Radisch. Walser möchte sich und seine Figuren vor nachträglicher Ent- oder Verstellung jeglicher Art bewahren. Es ist ein Erzählen, welches Beschuldigen genauso unmöglich machen soll wie Entschuldigen. Nicht Reflexion auf das Gewesene, sondern reine Wiedergabe der »Gegenwart«.
Wir kennen das alle: Wir lesen ein Buch zum ersten Mal. Irgendwann wieder. Aber wir lesen es nie mehr so, wie beim ersten Mal. Wir werden es immer am Eindruck des ersten Lesens messen, an den Kritiken, die wir vorher und vor allem nachher gelesen und gehört haben, an unse-ren Befindlichkeiten, als wir es jemals gelesen haben. So ergeht es auch unserem Leben. Mit Erschrecken stellen wir oft fest, wie wir in einer bestimmten Situation des Lebens reagiert haben. Im nachhinein. Später war dann alles klar. Oder später erscheint alles richtig. Oder falsch. Will Walser seine Generation retten? Will er für eine bestimmte Form des Verständnisses werben?
Diese Fragen sind es, die allemal wichtiger sind, als zu monieren, es fehlten eindeutige Hinweise oder gar Verurteilungen auf Konzentrationslager und Judenmord. Es sind die Vertreter der moralischen Rezeptionsgeschichte, die dies einklagen. Und die Vertreter der »Wilden« sehen den Geist des Revisionismus aufleuchten, eine Art Idyllisierung einer Kindheit in der Nazizeit im fernen Wasserburg am Bodensee.
Der Vorwurf der Idyllenmalerei wirft zwei Fragen auf: Ist es Walser gelungen, gemäß seiner Methode zu erzählen und ist es tatsächlich so, dass die Zeit es Nationalsozialismus verharmlost oder gar entschuldigt wird (Kritiker meinten, besonders im dritten Teil hierfür Anzeichen zu finden)? Oder ist es ein sehr genaues, ja geradezu authentisches Erzählstück, welches mit naivem Kinderblick, der aber stets Distanz verrät, nadelstichähnlich dem deutschen Spießbür-ger den Spiegel vorhält und ihn seines Opportunismus entlarvt? Wäre also letztlich Walsers Buch auch wieder der Moralrezeption zuzuordnen, wenn auch anders daherkommend?
Wie in so vielem sind die Urteile auch hier nicht eindeutig oder gar einhellig festzulegen. Einerseits erscheint das Buch über einige Strecken wie eine mundartliche Großvater-Erzählung einer Kindheit, nicht unbedingt aus der »guten, alten Zeit«, aber doch mindestens aus einer anderen Zeit, die vom Leser/Zuhörer mit offenem Mund aufgenommen wird. Nach all den moralisierenden Erzählungen und Romanen der Nachkriegsliteratur mag dies durchaus Neuland für den »gestandenen« Leser sein. Ein Schnitt im Erzähltext ereignet sich nicht, vielmehr scheint alles still und leise vor sich hinzuplätschern. Hier liegt dann eine die Stärke des Buches: Der Eintritt der Mutter in die Partei ist nicht das weihevolle Ereignis oder – retrospektiv betrachtet – das »einschneidende« Erlebnis, sondern ein banaler Vorgang, nicht ohne Hintergrundgedanken (nämlich die örtlichen Parteisitzungen in ihrem Gasthaus stattfinden zu lassen). Das Üben des »deutschen Grußes« bei Jakobs Freund Adolf (!) und die Vorträge von Adolfs Vater ob der »neuen Zeit« (Hermann Lenz!) werden nicht mit nachträglicher Rechtfertigung oder Verharmlosung kommentiert, sondern als sich unmittelbar ereignende Sachverhalte eingebettet (es bleibt – am Rande – eine interessante Frage, wieso Walser das Buch in der Vergangenheitsform erzählt hat und nicht in der Gegenwart).
Am besten wird dieses Prinzip im zweiten Teil deutlich, als ein Zirkus den Ort besucht, unmittelbar nach dem Österreich-Anschluss im Jahr 1938. Walser legt zwei zusätzliche Handlungsstränge an: der eine zeigt seine kindliche Liebe oder Verehrung zum Zirkuskind Anita. Der andere gibt die zunächst gar nicht spürbare Bedrohung und Einschüchterung durch die Nazis der Stadt wieder. An vielen kleinen und kleinsten Stellen vorher vorbereitet und als solches nicht besonders ungewöhnlich, wird auf einmal im Einprügeln auf den »Dummen August«, dessen politischer Disput mit dem Direktor eindeutige regimekritische Anspielungen enthielt, greifbar. Nach der Vorstellung wird er von Unbekannten zusammengeschlagen. Sofort wird das wirkliche Ausmaß der Infiltration und des Bedrohungspotentials spürbar, und zwar besser, als dies mit erhobenem Zeigefinger möglich wäre.
Das Buch ist voll mit solchen Tempowechseln, besonders in den ersten beiden Teilen. In der unmittelbaren Kindheit (im ersten Teil, 1932) wird der Kontrapunkt durch die Figur von Johanns Vater verdeutlicht. Ein geschäftlich auf allen Ebenen scheiternder, intellektuell jedoch auf anderem Niveau stehender Mann, der für den kleinen Johann prägend wird. Er errichtet ihm einen »Wörterbaum«: Wörter, deren Verstehen eine Welt erzeugt, eine andere Welt. »Johann, ich staune« ist Johanns Lieblingssatz des Vaters. Unvergesslich die Szene, in der der Vater Johanns Kopf umschließt und weint. Die Verletzlichkeit des Vaters der Dominanz der Mutter gegenüber und die Weltverzweiflung werden dann sehr dicht.
Der Vater stirbt früh. Dennoch bleibt Johann dem Vater verbunden, entwickelt geradezu kultische Verehrung für Gegenstände, die er von ihm bekommen hat oder gefunden und – vor allem – vor seinem „Wörterbaum“, also etwas Abstraktem. Hier, im zweiten Teil, zeigt sich die Gefahr dieses Unternehmens: Selbstverständlich möchte Walser bereits in der Kindheit, spätestens jedoch in der Jugend die Wurzeln für Johanns spätere Karriere gelegt wissen. Diese wird zwar nicht erwähnt, da es jedoch ziemlich wahrscheinlich ist, dass es sich bei Johann um den Autor selber handelt bzw. weil der Leser im Glauben daran gelassen wird und fahrlässig mit dieser Meinung alleine gelassen wird, entsteht eine Art mythisches Vermächtnis, eine Überstilisierung, eine Art Entrückungs- oder Verzückungserlebnis eines Schriftstellers. Über-spitzt formuliert: Walser erzeugt nicht nur einen »Mythos« des Schriftstellertums, sondern sie-delt den Keim in anrührender Atmosphäre an und entwirft eine Art Fatum. Exakt hier, und nicht etwa in Formulierungen wie »In ihren hohen Stiefeln...sahen sie [die Nazis] aus, als könnten sie tun, was sie wollten«, wird das so sorgfältig aufgebaute Prinzip des Erzählens ohne Wissen des Gewesenen konterkariert: Selbstverständlich besteht kein Zweifel daran, dass der Wörterbaum Synonym für eine Schriftstellerexistenz ist. Aber genau dies wäre sozusagen aus der rückwärtigen Betrachtung aus erzählt (und ‑nebenbei- mit versteckt elitärem Ansatz). Und so geraten dann solch wunderschönen Passagen und Sätze wie »...vergaß er [Johann] fast, was er hier sollte, weil er den Tannen zuhören wollte, wie sie schwiegen unter dem Schnee« im Kontext seines Wach- und Militärdienstes kurz vor Ende des Krieges zu mindestens merkwürdigen Selbststilisierungen.
So geglückt viele Passagen in dem Buch sind, da sie eine wirkliche, manchmal fassbare Atmosphäre schaffen, ja verdichten, so oft bricht Walsers erklärtes Ziel zusammen: Furcht oder gar Angst scheint Johann, der 1945 noch eingezogen wird, nicht zu kennen. Allzu präsent ist dem Erzähler Johanns Überleben. Aber auch das Gegenteil, eine Art Galgenhumor oder Fatalismus oder auch einfach nur Gleichgültigkeit – nichts. Johanns Jahre von 1944–45 bestehen weitest-gehend aus der Entstehungsgeschichte seiner Gedichte (ein Lieblingsthema von Schriftstellern: wann sie nicht schreiben konnten und dann wieder) und pubertärem Masturbieren und dem (sanft) gewalttätigen Werben um die Tochter des Pächters bzw. das Denken daran (Walsers Erzählen der Masturbationen ist dennoch sehr feinfühlig, überhaupt nicht obszön und mag durchaus in Duktus und Zartheit die Stimmung eines Jungen in diesem Alter kennzeichnen. Aber auch hier nennt, benennt Johann »sein Teil« nicht einfach wie alle anderen Kinder, sondern als »Ich bin der ich bin.« Johann soll uns eben als jemand besonders gezeigt werden).
Man hat als Leser keine Angst um Johann, aber er hat auch keine. Selbst in der ergreifendsten Szene des dritten Teils, als der Dorfgendarm, der immer nur die Nachricht eines »gefallenen« Familienmitglieds bringt, durch das Dorf geht, Johann auf einem Apfelbaum sitzt und dessen Weg verfolgt und es irgendwann eindeutig klar ist, daß er in ihr Haus kommt und dort der Mutter die Nachricht vom Tode seines Bruders Josef bringt, selbst hier wird der in zwei, die Sätzen emphatisch ausgedrückte Schmerz der Mutter, in merkwürdiger Abgebrühtheit von Johann (und seinem Erzähler) „berichtet“.
Walser soll – damit kein falscher Ton aufkommt – nicht der »übliche« Vorwurf der Verharmlosung, gar der »Umkehrung« gemacht werden. Das, was ich seinem Buch vorwerfe, ist eine Inkonsequenz seinem eigenen Anspruch gegenüber. ‚Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.’ Genau dies ist es aber: In Walsers Erzählen ist hier schon implizit ein Wissen um das spätere vorhan-den – allemal, wenn in diesem gravitätisch-naiv-spitzbübischen Ton erzählt wird wie es Walser macht. Beim Aufschreiben eines Traumes bemerkt Johann einmal, dass er nun nicht mehr seinen Traum aufgeschrieben hat, sondern nur das „was er für die Bedeutung des Traumes hielt«. Der Traum, so der Erzähler, sei durch das Aufschreiben zerstört worden. Johann schließt daraus, dass er sich nicht der Sprache anvertraut hatte, sondern schrieb, was er hatte schreiben wollen. Hier liegt Walsers Irrtum: Sowenig es möglich ist, einen Traum sozusagen »rein« aufzuschreiben, so unmöglich ist es, »authentisch«, sich rein der Sprache anvertrauend zu erzählen. Das Buch endet mit der pathetischen und auch ein wenig einfachen Floskel »Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen«. Was das bedeutet, bleibt im vagen, undeutlichen.
Es gibt also ein gutes Leben im Schlechten, da ich damals das, was ich heute weiß, nicht ge-wusst habe. Ist aber nicht dies der Punkt, der es möglich macht/machen könnte, das gesamte deutsche Volk »reinzuwaschen«? Wenn wir damals »nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen«, kann man uns denn dann überhaupt verantwortlich machen für das Geschehene? Diese Frage ist nicht nur berechtigt, sondern existentiell in der Bewertung des politischen Verhaltens von Menschen während und nach einer Diktatur.
Vordergründig ist dies Walsers Intention nicht. Bedrohung, Infiltration sind spürbar bis in den Alltag hinein. Über Johann bekommt der Leser ein Bild vom stetigen, manchmal erst über Umwege erfahrbaren Einsickern des Nazitums in die Lebenswelt. Während der Vater anthro-posophische Versammlungen in der Gaststätte abhält, tagt nebenan eine Parteiversammlung der NSDAP. Schärfer könnte der Kontrast nicht ausgedrückt werden. Walser stilisiert die Prägung Johanns durch den Vater zwar gelegentlich etwas hoch, aber genau dies kann ja Reflexi-on auf das Geschehene sein, sozusagen ein Stück Wunschdenken innerhalb der Erinnerung. Im dritten Teil wird die Blockade der Bevölkerung mit der Auseinandersetzung der (eigenen) Vergangenheit und die fast unglaubliche Flexibilität im Umgang damit deutlich. Johanns Freund Adolf sei in britischer Kriegsgefangenschaft, sagt Adolfs Mutter Johann und vom Stolz, den Sproß seinerzeit (im voraus) »Adolf« getauft zu haben (1932), kommt man zum Stolz, ihn mit zweitem Namen »Stefan« getauft zu haben (1945). Johann entspricht sofort der Mutter Wunsch, ihn zukünftig Stefan zu nennen, in dem er ausruft, da habe ja der Stefan Glück gehabt, in diese Gefangenschaft zu kommen.
»Ein springender Brunnen« ist kein Buch, welches die Zustände (Opfer/Täter-Dichotomie) umkehrt. Und das nicht nur, weil es im ihm umgebenden Lebensraum (zunächst) keine Opfer gibt (außer vielleicht den Dummen August). Walsers Weigerung, diese sozusagen nachträglich in eine Erzählung einzubauen, ist nicht nur verständlich, sondern auch ehrlich. Und als Johann nach der ziemlich unspektakulären Heimkehr vom Sterben vieler seiner ehemaligen Schul- und Dorffreunde erfährt, mag für einen Moment beim Leser das Fehlen des moralischen Zeigefingers vermisst werden. Es geht Walser nicht um das Wissen oder Unwissen all der geschehenen Greueltaten. Er richtet nicht – aber er entlastet auch nicht. Menschen werden hier mit all ihren Fehlern, Irrtümern, Infamitäten und Gefährlichkeiten gezeigt. Spürbar ist die Distanz, die der Erzähler letztlich zu allen Figuren hat.
Es wäre ein Fehler zu glauben Walser wolle eine moralische Amnestie. Hiernach steht ihm nicht der Sinn. Er möchte er nur die Kindheit verteidigen (eines seiner Bücher hieß so einmal). Verteidigen vor einer Generation, die letztlich weder Kenntnis noch Ahnung von der Lebenswirklichkeit der Zeit hatte. Dieser Ansatz mag neu und für die rebellische Generation Nachgeborenen unbefriedigend sein. Er wäre falsch, würde man eine »Schlußstrich«-Debatte hieraus ableiten wollen. Er wäre heilsam, könnte man Walsers Buch als einen Beginn einer vorurteilsfreieren und damit auch intensiveren Auseinandersetzung der Alltäglichkeit in einer Diktatur begreifen.