David Mazon, 1990 geboren, ist ein fleißiger Anthropologiestudent und zieht 2018 zu Forschungszwecken für ein Jahr von Paris in den Westen Frankreichs, in das Dorf La Pierre-Saint-Christophe, Départment Deux-Sèvres. Dort leben »nach der letzten Volkszählung 649 Einwohner« oder »284 Herdfeuer, wie die Alten sagen würden«. Nach Niort, der »Versicherungshauptstadt« Frankreichs, sind es 15 Kilometer. David wohnt bei dem Landwirtehepaar Mathilde (57) und Gary (62) im hinteren Teil des Hauptgebäudes, den er »das Wilde Denken« nennt (hier die Koordinaten: 46°25’25.4″ Nord, 0°31’29.3″ West). Sofort beginnt er ein »ethnographisches Feldtagebuch« zu führen, in dem er seine Eindrücke, aber auch seine Arbeitsfortschritte dokumentieren möchte. Es ist Dezember und kalt, die Einrichtung eher hausbacken, in der Dusche tummelt sich Ungeziefer. Aber immerhin funktioniert das WLAN. Manchmal liest er Malinowskis »Argonauten des westlichen Pazifik« oder Victor Hugos »1793«.
Mathias Énard beginnt seinen Roman »Das Jahresbankett der Totengräber« mit dem Tagebuch von David. Es dient nicht nur dazu, die anfänglichen, sich dann verblüffend rasch auflösenden Vorurteile des leicht arroganten und mit gesundem Selbstbewusstsein ausgestatteten Pariser Studenten zu illustrieren, sondern auch das Personal des Romans und den Ort selber zu entwickeln. Man lernt Martial Pouvreau kennen, der – idealerweise – die Positionen des Bürgermeisters und Leichenbestatters gleichzeitig ausfüllt, bekommt einen Einblick in das einzige Café des Dorfes, in dem es neben Spirituosen vor allem Anglerzubehör zu kaufen gibt, lernt Lucie kennen, eine 25jährige Biobäuerin und Aktivistin, die mit ihrem leicht verrückten Cousin Arnaud und dem erotomanischen Großvater zusammenlebt, nachdem ihre Beziehung gescheitert ist. Dann gibt es Max, etwa 45, ein Künstler, »ziemlich verbittert«, der seit zehn Jahren im Dorf wohnt. Auch zwei englische Familien hat es dorthin verschlagen. David will sie alle für seine Doktorarbeit interviewen, feilt an dem Fragebogen und sieht sich aus der Ferne einem gewissen Druck durch seinen Doktorvater ausgesetzt. Ein weiteres Problem: Das Begehren zu Lara, seiner Freundin in Paris, die in einer Verwaltungsfachschule lernt. Einmal probiert er sogar die eher übersichtlichen Freuden des Internetsex mit ihr aus.
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