Eigentlich sind es zwei ganz unterschiedliche Geschichten, die der französische Schriftsteller Mathias Enard in seinem neuesten Roman erzählt. Und das spiegelt sich (absichtlich oder nicht?) bereits in der deutschen Übersetzung des Titels. Im Original heißt der Roman Déserter, in der deutschen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller Tanz des Verrats. Zum einen handelt es sich um eine Erzählung in personalem Stil um einen namenlos bleibenden Deserteur, der in einem noch nicht beendeten Krieg oder Bürgerkrieg als eine Art Zwischenstation die Orte seiner Kindheit einkehrt, weil diese auf dem Weg zu einer Grenze liegen, wo er sich stellen will. Und zum anderen erzählt Irina Heudeber, 1951 geboren, die Geschichte ihrer Eltern, dem berühmten Mathematiker Paul Heudeber und der allseits geschätzten sozialdemokratischen Politikerin Maja Scharnhorst und ihren Umgang mit den langen Schatten dieser Persönlichkeiten. Auf einem Kongress zu Ehren ihres 1995 verstorbenen Vaters, der ausgerechnet am 11. September 2001 stattfindet, sieht sie bei einem Abendessen im Restaurant ein Paar, das, wie man ihr erzählt, den »Tanz des Verrats« zeigen, mit dem man durch die Art der Bewegungen entdecken soll, »was der andere einem verschwiegen hat«. Der Tanz schütze die Protagonisten vor der »Schande des Geständnisses« und danach sei alles verziehen. So unterschiedlich die Szenarien auch sein mögen – nach der Lektüre erkennt man, dass der deutsche wie auch der französische Titel auf wundersame Weise auf beide Erzählungen anwendbar ist.
Die Settings wechseln sich, bis auf eine Ausnahme, stetig in 28 Kapiteln ab. Kurz überlegt man, ob es besser wäre, sie separat und nicht nebeneinander zu lesen, entscheidet sich jedoch für die Reihenfolge des Buches. Es beginnt mit dem schmutzigen, nach Scheiße und Blut stinkenden Deserteur, der seit vier Tage alleine unterwegs ist. Seine Schuhe lösen sich auf, Waffe und Munition hat er noch, aber keine Lebensmittel, er sieht aus wie der »letzte Mensch«. Die Stimmung ist unheimlich, »Entsetzen liegt über dem Land«. Die Nacht in der Natur ist ein »gehetztes Raubtier voller Angst« und die »Schreie der Sterne sind eisig.« Es gibt Rückblicke auf den Krieg, auf die tausenden Toten, die er, der »Feigling«, als den er sich jetzt bezeichnet, zu verantworten hat. Das Mitleid, dass der Leser zunächst mit dem Deserteur hat, wird im Laufe der Zeit durch die Andeutungen seiner Taten geringer. Über den »Cairn seiner Kindheit« als Zwischenstation kommt er zu einer Hütte, in der einst mit seinem Vater zusammen war. Immer wieder wird er auf Kindheitserinnerungen zurückgeworfen werden oder, treffender, sich selber zurückwerfen, will dadurch die Kriegsbilder für eine kurze Zeit gebannt werden. Dann gibt es die Begegnung mit einer jungen Bäuerin, die mit einem einäugigen, struppigen Esel unterwegs ist. Die Furcht der Frau, von ihm, dem Mann, vergewaltigt oder gar erschossen zu werden ist groß und der Deserteur denkt tatsächlich darüber nach, sie, die Mitwisserin seiner Flucht, zu töten. Rasch kommt die Kriegs- und Tötungslogik wieder hervor, die einzige Möglichkeit, die das Überleben zu sichern vermag, wie es scheint. Schließlich trennen sich die beiden; aber das ist nur für kurze Zeit.
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