Dabei gibt es sofort Grund zur Kritik. Der eigentlich schöne Buchtitel »Das katholisches Abenteuer« wird durch die flapsig-überflüssige Unterzeile »Eine Provokation« sofort wieder nivelliert (das hätte sich vielleicht dem Leser noch selber erschlossen). Und der hehre Anspruch, hier erzähle jemand von seinem katholischen Glauben in den Zeiten des forsch-plappernden Atheismus wird durch das blöde Cover mit Hörnchen, Dreizack und Heiligenschein konterkariert. Marketing ist wohl alles und Matthias Matussek muss unbedingt als Feuilleton-Krawallbär verkauft werden – drunter geht’s nicht.
Schade, denn da hat jemand durchaus etwas zu sagen. In den besten Augenblicken berührt das Bild des gläubigen Katholiken Matussek in der zynischen Spaßgesellschaft mit ihrer anödende[n] Dauerironie sogar. Wenn er von dem Moment Verwandlung im Gottesdienst erzählt (er ist natürlich Mystiker). Und wenn er die Gemeinde und die Verbundenheit mit ihr wenigstens für einen kurzen Moment zu spüren beginnt. Oder das »Vater Unser«-Gebet Wort für Wort liest und seine Ergriffenheit bemerkbar ist (freilich wäre es bei dieser Gelegenheit interessant gewesen, welchen Wandlungen die Worte in den letzten Jahrzehnten unterworfen waren und warum). Matussek versteht es ernsthaft und dabei ohne paternalistischen Unterton über die Sünde zu referieren. Tatsächlich poltert hier kein Mode-Katholik, der dem Atheismus-Mainstream aus purer Konfrontationslust entgegenpöbelt. Da ist jemand im Katholizismus verwurzelt und vermag dies durchaus zu belegen (sogar für seine Marxismus-Zeit). Und als Sohn eines CDU-Manns im roten Ruhrgebiet ist Matussek geradezu prädestiniert für Diaspora-Situationen. Daher mag er »Don Camillo« so und schlüpft sogar einmal in dessen Rolle.
Verteidigung für den »Kulturspeicher«
Insofern erwartet den Leser eine emphatische Verteidigungsschrift. Der Katholizismus ist längst im Verteidigungsmodus, was einem durch Matusseks furiose Plädoyers für den Fels Kirche in der Brandung des Beliebigkeitsmeers deutlich vorgeführt wird. Matussek hat keine Probleme damit, den Zölibat zu verteidigen, ist gegen Frauen im Priesteramt und erkennt, dass eine demokratische Struktur in der Kirche nicht zweckmäßig ist. Tatsächlich gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass religiöse Gemeinschaften mit strengen Regeln auf Dauer denen mit eher liberalen Geboten überlegen sind. Sind doch auch die Protestanten seit Jahren mit schwindenden Mitgliederzahlen konfrontiert – und die machen doch all das, was die Kritiker fordern. Dabei sind, so Matussek, die meisten Debattenbeiträge zum Thema katholische Kirche eine geradezu beleidigende Unterforderung der Intelligenz. Ähnlich äußert er sich auch für die lauwarmen Frömmigkeitsreden à la »Wort zum Sonntag«.
Matussek hat Recht, wenn er sagt, dass 180-Grad-Wendungen nur um dem Zeitgeist und den publizistischen Gegenpäpsten (Küng, Geißler) zu genügen, billiger Populismus wäre. Und sozialpolitisch stünden Katholiken eh schon weit links. Wie heuchlerisch doch Medien (und bestimmte Institutionen) seien, die Papst und Kirche vor allem bei diesen Themen immer als ethische Referenz herbeizitieren, während ihnen ansonsten zumeist jegliche moralische Reputation abgesprochen wird.
Matussek verficht sogar eine teilweise Zurücknahme der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils, deren Folgen (unter anderem eine Entmystifizierung) er wortgewaltig geißelt. Er plädiert für eine Hinwendung zu einer neuen Ernsthaftigkeit – zur Not auf Kosten eines weiteren Mitgliederschwunds. Und übernimmt damit den Duktus des 2000 verstorbenen Erzbischofs Johannes Dyba: Zur Not gehe es eben wieder in die Katakomben. ‘Weniger ist mehr’ – kommt einem da in den Sinn. Die Frage bleibt jedoch unbeantwortet, ob damit nicht auch die gesellschaftliche Legitimation schwinden würde.
Die katholische Kirche, dieser 2000 Jahre alte Kulturspeicher solle sich, so Matussek, nicht zu Gunsten kurzfristigen Beifalls einer irreversiblen Geschichtslosigkeit hingeben. Anpassung an den Zeitgeist gäbe es schon genug. Hier macht er naturgemäß den weichgespülten Protestantismus aus, der trotz jener Maßnahmen, die man von der katholischen Kirche fordere ebenfalls längst in eine Sinnkrise getaumelt sei. Warum soll ein geschiedener protestantischer Priester eine bessere Eheberatung geben können als sein zölibatär lebendes Pendant, fragt er neckisch. Schließlich gibt es auch keinen Verein, der, nur um neue Mitglieder zu gewinnen, seine Prinzipien einfach verwässert.
Die Welt des Gläubigen ist eine andere als die des Ungläubigen
Matussek erklärt wortgewaltig, warum Wulff irrt, wenn er sagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Er verwirft die lutherische Schreckenstheologie, preist den naiven Kinderglauben als ein Reservoir, so groß wie ein unterirdischer See und berichtet über das Mysterium des Weihrauchschwenkens. Er wettert gegen Wellness-Religiosität und Betriebsnudeln der katholischen Kirche. Er moniert, es werde zuviel über den Glauben gesprochen, statt aus dem Glauben. Der Katholik Matussek bekennt durchaus seine Zweifel an der Auferstehungsgeschichte (schließlich ist der Zweifel das Salz des Katholizismus), verfasst ein flammendes Plädoyer für die Wahrheit, ist angewidert von der Spießigkeit einer Habsuchtsgesellschaft und vertritt die Position des erkenntnistheoretischen Pluralismus (er nennt es nur anders). Er zollt dem Atheisten Camus seinen großen Respekt und findet ein Böll-Zitat, welches den Katholizismus ehrt. Er erkennt degoutante Plünderungen der katholischen Ikonografie und erklärt, warum er den Film »Das Leben des Brian« gut finden kann. Er spricht mit Rüdiger Safranski und besucht Michael Krüger. Er erzählt über Engel und poltert gegen hirnlose Wohlstandsatheisten wie Christopher Hitchens. Er sympathisiert mit der anonymen Ohrenbeichte, die eine Psychoanalyse durchaus ersetzen könne. Und er fragt sich, warum alle Welt Angst vor einer Koranverbrennung hat und niemand eine Bibelverbrennung auch nur mit einer Zeile meldet.
Natürlich ist – um Wittgenstein zu variieren – die Welt des Gläubigen eine andere als die des Ungläubigen. Und so verteidigt er seine Kirche auch, wenn es um die fürchterlichen Missbrauchsverbrechen geht (die er auch Verbrechen nennt). Sein Kronzeuge ist der Kriminologe Christian Pfeiffer, der in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung im März 2010 von einer Täterquote durch katholische Geistliche von 0,1% sprach. Auch wenn solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind, ist es ein Faktum, dass die meisten Verbrechen innerhalb der Familie stattfinden. Worin nun die Attraktivität besteht, kirchliche (und besonders katholische) Würdenträger in den Medien überproportional als Täter herauszustellen – hierzu hätte ich gerne eine These gelesen.
Matusseks trotzige Apologie der Entscheidungsreligion Katholizismus hat seinen Charme. Man liest dieses Pathos als Erholung zum dauerironischen Journalistenkritizismus zunächst ganz gerne. Mit der Zeit entdeckt man allerdings Redundanzen. Schließlich kommt man zum Kapitel mit Reportagen aus dem Ausland – »Gott und die Welt«. Hier wird die Lektüre manchmal ermüdend; die Texte wirken leicht verstaubt. Liegt es daran, dass dem Polemiker das Futter fehlt? Man beginnt zu recherchieren – und siehe da: Matussek hat diese Reportagen aus »Spiegel« bzw. »Spiegel Reporter« übernommen. Dabei wurden Formulierungen, die eine zeitliche Einordnung der Texte ermöglichen könnten, zumeist entfernt oder bearbeitet. Einen Hinweis auf das Entstehungsdatum der Reportagen gibt es allerdings auch nicht. Warum eigentlich nicht?
Viele Reportagen haben mit dem Katholizismus wenig bis nichts mehr zu tun, etwa wenn er von den Evangelikalen in den USA schreibt und die sozialen und politischen Gefahren ausmalt. Das tat Matussek schon 1994 – mit der Reportage, die im Buch unter »Glauben und Sternenbanner« abgedruckt ist. Das Portrait über Al Sharpton ist auch von 1994. Noch älter (von 1992) ist die Reportage über Calvin Butts (aus »42, ein federnder junger Intellektueller mit scharfem Verstand« wurde 2011 ein Intellektueller mit scharfem Verstand. Alles gut und schön. Aber wenn man schon diese Clinton-Zeit wiederaufleben lässt, hätte man zwangsläufig die noch aggressivere Evangelikaliserung unter Bush thematisieren müssen. Das unterbleibt jedoch – vermutlich, weil Matussek damals nicht mehr »Spiegel«-Korrespondent in den USA war.
Vieles wiedererkannt
Die Gespräche mit dem brasilianischen Autor João Ubaldo Ribeiro und dem Pianisten Joãs Carlos Martins sind von 2003. Die Lubawitscher in Brooklyn besuchte er 1992 (ein dürrer Satz erklärt am Ende, dass der »neue Messias« 1994 verstarb) und über den indigenen Katholizismus Boliviens schrieb er 2001.
Fast schüchtern kommentierte Alexander Wallasch in der Rezension in der Süddeutschen Zeitung, dass man meine, »vieles wiederzuerkennen aus seiner jahrzehntelangen journalistischen Arbeit«. Wenigstens ihm schwant da was.
Einmal fündig geworden, entdeckt man auch viele andere Texte, die Matussek für dieses Buch bearbeitet bzw. aneinandergefügt hat. Klar, der »Spiegel« hat ein Kapitel vorabgedruckt. Aber auch der schöne Text über die sieben Todsünden, das Wahrheitsplädoyer, das Gespräch mit Martin Walser, die Reportage über »Geld und Glaube« (Merkels Rede zur Wirtschaftskrise war damals »ganz schmal und unwichtig«; 2011 steht dann eher klein und unwichtig; das nennt man dann wohl Lektorat), Matusseks Auseinandersetzung über Thomas Steinfeld und Patrick Bahners über die Islamkritik in Deutschland, die beiden Verteidigungstexte zum Zölibat (Januar 2011 und Februar 2011) und die emphatisch-klugen Bemerkungen zu Benedikts Jesus-Buch finden sich mit Leichtigkeit im Netz. Das heute noch brisante und hochinteressante Portrait über den Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba (hierzu gibt es eine kleine Einleitung) und die Reportage über die Abtreibungsbefürworter sind von 1999. Aber hätte man nicht 2011 noch einmal nach Fulda fahren können? So bedient sich Matussek bei Matussek – der Verlag verkauft es als »neues Buch«, was es für vielleicht 50% der Texte auch sein mag (sagt ein Nicht-Spiegel-Leser).
Leider geht Matussek zu selten in die Tiefe. So hätte man gerne gewusst, wie man einerseits das theologische Jesus-Bild Benedikts derart loben kann, während man andererseits – vollkommen zu Recht – vom Pasolini-Film über das Matthäus-Evangelium von 1964 der einen sozialrevolutionären Jesus zeigt, schwärmen kann. Und obwohl Matussek manchmal nonchalant bis hin zur Oberflächlichkeit die Vorbehalte gegen die Institution Kirche abbürstet – manchmal bekommt man dann doch eine Ahnung, was mit dem »Abenteuer« gemeint sein könnte. Auch wenn man glaubt (sic!), damit nichts mehr zu tun haben.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
»...wenn man glaubt [sic], damit nichts mehr zu tun zu haben.«
Tatsächlich haben fast alle damit zu tun, siehe den Begriff von der Leit-Kultur, an die man „glauben“ kann oder nicht – der Begriff aber sagt ja schon, dass sie existiert. (Leid-Kultur träfe es da natürlich auch).
Es will da nur kaum jemand noch mal bei sich in die Tiefe gehen. Und mit all den Ungleichzeitigkeiten heute, den Widersprüchen auch, von der verschwiemelten Weihnachtsseligkeit als verkappte Metaphysik-Dienstleistung nach Kalender... bis zur Positionierung durch die Zumutungen des näherrückenden Islam hätte vielleicht jeder so einiges damit zu tun. Aber es würde einem eben auch so was wie eine Mindesternsthaftigkeit abverlangen. Einen Gott brauchte es dazu nicht mehr.
Von den Bourdieu’schen „Distinktionsgewinnen“ durch so etwas wie Religion, bis hin zu den (so gern wie vorschnell als Konservativ bzw. „rechts“) verschrieenen Renegaten wie Mosebach und Strauß und Davila etc. ist mir Katholizismus als „Positition“ jedenfalls fast wieder sympathisch geworden. Und so, wie Sie das Buch zusammenfassen – an dieser Stelle übrigens überhaupt mal meinen Respekt für Ihre Bandbreite auch! -, scheint sich Matussek in ähnlichen Koordinaten zu bewegen, nämlich zwischen dem institutionalisierten Real-Katholizismus (wo „unser“ Papst letztlich auch nur noch ein Vorsitzender ist) und heutigen Glaubens-Verrückten, zwischen Camus (der sehr nahe war an so etwas wie einem Credo quia absurdum) und den südamerikanischen Sozial-Utopisten (a la Jesus im Tempel).
Und von woher soll man sich gegen den Konsens von nihilistischen Ironikern und Nietzschelingen heute noch distanzieren?
Über Machwerkcharakter und Marketing von solchen Markt-Autoren wie Matussek (er nennt seine Antagonisten, Küng et. al. ja selber) braucht man wohl kein Wort mehr zu verlieren. Mein Vater erklärte mir einmal, dass eben solche Leute mit ihren (teils ja der Unterhaltung geschuldeten) Zuspitzungs-Techniken eben wiederum so etwas wie „Orientierung“ vermitteln, populistisch das, was anderswo eben wieder „Lehren“ begründete. Aber zu so was fehlen uns heute eben Ernsthaftigkeit und die Zeit.
Schon seltsam, in was für Allianzen man sich heute finden kann.
Distinktionsgewinn ist mit einem Bekenntnis zum Katholizismus heutzutage nicht mehr zu erringen. Ich glaube sogar, dass man es sich in der Öffentlichkeit erst wieder ab einem gewissen Nimbus »leisten« kann, ohne als esoterische Witzfigur gebrandmarkt zu werden.
Distinktionen
So war das zwar eigentlich nicht gedacht... Aber an den Distinktionsgewinn glaube ich ganz bestimmt doch.
Abgesehen davon, was für einen – hier schon angesprochenen »Kulturspeicher« – und damit ein ganzes Geistesinstrumentarium Glauben darstellen kann (irgendein Glauben, sogar etwa Astrologie), kann er konkrete bis immense Unterschiede auch in der Lebensführung machen. Und diese auch noch kommunizieren. Oder sogar unerklärt lassen. Womit er etwas darstellt, das so oder so das in der profanen Gemeinschaft den Pegel an Konsensnormalität übersteigt. Ich nenne das eine Distinktion.
(Auf den vielleicht auch Ihnen bekannten »Mittwochsgesprächen« kann man das übrigens oft gut beobachten: Da sind die weltlich Aufgeklärten und die Gläubigen immer bald zu unterscheiden. Und – als wäre das nicht denkwürdig genug – es gibt dann auch oft bald erhebliche bis bereichernde Unterschiede in den beiden Argumentationsweisen! Man kann sie natürlich unvereinbar nennen. Man kann sie aber auch anhören, als ob sie einander ergänzten. Der Bescheidwisser muss nicht mal was von der Beseelung des Naiven, der Immer-schon-Aufgeklärte nichts vom ewig Weiterfragenden verstehen. Sie könnten umgekehrterweise dennoch [und seien sie rein phänomenologisch] Distinktionsgewinne daraus erlangen.)
[EDIT: 2011-06-07 13:28]
Zu wenig Tiefe
Im letzten Absatz schreiben Sie aus, warum ich dieses Buch wohl nicht lesen werde. Nicht weil ich der Spaßgesellschaft fröne, mich aus Glaubensversatzstücken bediene, um meine Wellness zu erhöhen oder prinzipiell desinteressiert wäre an Fragen der Transzendenz. Vielmehr zeigt mir die Aufzählung der Themen, dass eine theologische Auseinandersetzung im Fragen des Glaubens hier nicht gesucht wird. Auch mich treibt der Glaube um, wenn auch nicht der katholische, sondern ein protestantischer, eingesogen als ein Kinderglaube, der noch gar nicht angekränkelt war von Lifestyle und Wohlfühl-Liedgut, sondern Bach-Kantate und Luther-Zwingli-Streit. Je mehr ich mich jedoch damit beschäftigte, desto deutlicher wurde mir die Unverfügbarkeit des Glaubens, der nur als Gnade i s t. Von daher ist Toleranz kein Gutmenschengebot, sondern dem gläubigen Menschen notwendig (auch sich selbst gegenüber) – keine »billige« allerdings, sondern eine, die sich bewusst ist der Unüberwindbarkeit von Grenzen – für mich zum Beispiel zum Katholizismus, dessen Heiligenverehrung mir die Großmutter voller Verachtung als Heidentum erklärte. Ich schaue heute friedfertig auf diese Glaubensform, wiewohl sie mir fremd bleibt und bleiben muss.
»Tiefe« (auch in der Fremdheit zu sich selbst) habe ich in Matusseks Texten noch selten entdeckt; sie wird auch nicht gewonnen als »Provokation«.
Zur Rettung von M.M. muss man sagen, dass er diese Tiefe auch gar nicht anstrebt. Insofern frönt er indirekt dem, was er im Buch den anderen vorwirft. Darin liegt dann eine Problematik, weil es eine Disparität beispielsweise zu Leuten wie Dawkins führt, der mindestens vorgibt, seinen Atheismus wissenschaftlich zu »rechtfertigen«.
Interessant ist dieser Perspektivwechsel, der sich in diesem Buch zeigt: Als ich Kind war, hätte ein solches Buch überhaupt kein Erregungspotential gehabt. Inzwischen geht so etwas als »Provokation« durch.
Ja, die »Unverfügbarkeit des Glaubens« zu erzählen wäre ein Ziel – ohne in Frömmelei zu fallen. Vielleicht können Leute wie Mosebach so etwas.
Liebe Melusine,
da befinde ich mich wohl in einer sehr ähnlichen Situation. – In einer protestantischen Gemeinde aufgewachsen, in dessen Gemeindehaus nur ein schlichtes Holzkreuz dieses überhaupt als christlichen Ort auswies und einem Pastor mit scharfer, engagierter und intellektueller Predigt. (Den letzten Rest Katholizismus nahm mir wohl die barocke Geschmacklosigkeit einiger spanischer Kirchen.. – )
Diesen Wunsch Mattuseks nach einer anspruchsvollen, geistig anregenden Ausübung der Religion verspüre ich also ebenso... muss nach der Kritik jedoch bezweifeln, ob er selbst dieser Forderung Genüge täte... Vielleicht muss ich doch mal ernsthaft in irgendwelche Theologiebücher schauen. Edit: das Theologiebuch, das ich da hab, ist wohl von Adolf Schlatter. Und der kritisierte das gnostische Christentum – vielleicht doch zu recht.. Vielleicht schaue ich mir den ollen Wälzer von 1910 doch mal an..) -
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In Matusseks Kritik der Kritik an den Islamkritiker habe ich mal hineingeschaut und ich fand es zum wegschauen:
[..] sind nicht ganz so sehr aus der Luft gegriffen, ebenso wenig wie viele der Argumente Broders oder Keleks, die vielleicht auch Bahners oder Steinfeld einfallen könnten, wenn sie wieder mal zwei Stunden vor Abflug wegen islamistischer Terrorgefahr ihre Zahnpastatuben in Klarsichthüllen durch den Sicherheitscheck tragen müssen, auf Socken, denn die Schuhe liegen auf dem Band.
Wunderbar: Die Stichhaltigkeit der Angst begründe ich also mit der Angst? – Ich erinnere mich hingegen an ein Gespräch mit dem frotzelnden, entspannten Sicherheitspersonal, die sich über die Unsinnigkeit dieser Sicherheitsmaßnahmen genauso amüsierten wie ich... Aber ich esse ja jetzt auch Salat, Gurken und Tomaten.
Ist es nicht pompöser Unfug, angesichts der islamistischen Großwetterlage diejenigen, die auf der Einhaltung von Menschenrechten auch im religiösen Raum bestehen, als »schreibende Eingreiftruppe« zu denunzieren?
Eben Groß-/Kleinwetterlage. Heute regnet´s, morgen scheint wieder die Sonne, gerade das könnte einen doch die Religion lehren, von diesen ganzen Stürmen im Wasserglas abzusehen und den Blick zu wenden auf das größere Ganze.
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(PS. Nächste irrelevante Schnipsel: In Taize war ich einmal, obwohl selbst nicht gläubig, habe ich doch von da den Eindruck mitgenommen, dass es so etwas wie praktisch-aktiv gelebten Glauben gibt.)
@Gregor Keuschnig & Phorkyas
Das Schreiben über Religiosität ist tatsächlich eine Provokation, auch wenn das von der Schreibenden nicht so intendiert war. Ich habe wenig Reaktionen (auch über die Mail-Adresse) zu meinen Blogeinträgen erhalten, die so verletzend waren, wie diejenigen zu meinen »religiösen Bekenntnissen«, von Dummheit bis Intoleranz, Antisemitismus bis Islamphobie wurde mir da alles unterstellt. Allein sich mit dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen, ohne diesen sogleich zu verwerfen, sich für die Geschichte der Kirche(n) zu entschuldigen etc.etc. ruft solche Reaktion scheinbar wie ein Reflex hervor, mindestens bei mir, wo offenbar Leser:innen das nicht erwarteten.
Immer wieder treiben mich zwei Kernfragen christlichen Glaubens um: die Kreuzigung Gottes (das »Selbstofper«? oder die »Sündenvergebung«?) und die Bergpredigt.
»Der Sado-Maso-Gott«
»Hr. Hediger will wissen, wie ich die Bergpredigt verstehe«
Wie diese zwei aus katholischer Perspektive zu deuten sind, das freilich interessierte mich sehr. Ob aber M. Matussek hierauf Antworten sucht und findet, daran zweifele ich.
Herzlichen Gruß
M.
Liebe Melusine,
dazu – besonders auch Ihrer Interpratation der Bergpredigt und den Bemerkungen – schießen mir eine Vielzahl von Dingen durch den Kopf. Verletzende e‑mails habe ich glücklicherweise noch nie erhalten, nicht einmal kritische Kommentare.
Dass jemand schreibt: »Religiöse sind alle eng, Lobster, der einzige der nicht eng war, war seinerzeit Jesus, aber den haben sie ja umgebracht.« – ist wahrscheinlich noch das Harmloseste. Allerdings zeigt das in seiner negativen Zuspitzung schon wieder auf die feine Dialektik, mit der man sich konfrontiert sieht, wenn man denn selbst definieren wollte, was die wahre Religion sei: Von Eckard Krause bin ich da mal über das Tondokument einer Predigt mit dem Titel »Überwinde die Religion« gestolpert, der Jesus Worte so ähnlich interpretierte: als das Ende von Religion (Religion mache uns immer ein schlechtes Gewissen, weil wir die von Ihnen angesprochene Grenze zwischen den Vorstellungen, dem guten Willen zu dem was wir dann tun nicht überwinden können, weil wir immer klein und fehlbar bleiben, könne sie uns klein halten – und Jesu Botschaft sei genau das Ende davon: Gott lasse all die kleinlichen Regeln und Vorschriften der Religion fallen und nehme uns so an, wie wir seien. – Es ist natürlich eine nicht zu übersehende Pointe, dass aus dieser frohen Botschaft wieder »finstere« Religion werden musste...)
Bevor ich meinen Kommentar wieder ganz zerfasere... Finde ich es, um die Worte von oben zu nehmen, »eng»stirnig, engherzig – alle Religiösen schon als engstirnig.. oder gleich als gotteswahnsinnig oder ähnliches zu titulieren. Die Vehemenz mit der das geschieht erscheint mir schon verdächtig,.. so als lauere da nicht schon eine eigene »Religion« oder (Wissenschafts)ideologie...
@MelusineB
Was mir nach der Lektüre Ihrer Texte auffällt: Da gibt es für mich einen Widerspruch. Einerseits fordert man von jemandem wie M. M. (oder, um es neutraler zu formulieren: von einem Gläubigen) eine Art Begründung für seinen Glauben – um dann festzustellen, dass dies letztlich unmöglich ist bzw. derart intim, dass sich jede Form der Diskussion hierüber letztlich verbietet oder mindestens als schwierig erweist.
Typisch kommt man allzu schnell in eine Art von Rechtfertigungshaltung, die dem fordernden »Sag!« entgegengesetzt wird – wohl wissend, dass die Antwort(en) hierauf wiederum genügend »Angriffsfläche« bieten – bis dahin das Konstrukt des Gläubigen zu denunzieren.
Ob Sie auf Ihre Anfragen in den Jesus-Büchern von Ratzinger Antwort finden würden? Keine Ahnung – ich habe sie nicht gelesen. Wenn man böse wäre, könnte man fragen: Aber was wäre gewonnen, die Deutungen der Kirche zu vernehmen? Deutungen, die ja auch – freilich in anderem Rahmen – Änderungen unterworfen sind bzw. sein könnten?
@Phorkyas
Tatsächlich hat mich die Militanz von Dawkins und die Dummheit von Hitchens mehr in das religiöse Lager »getrieben«, als ich dachte. Ich besuche zwar immer noch nicht die Kirche und bin weit entfernt davon, den Dogmen der katholischen Kirchen zu folgen. Aber diese Form des ideologischen Religionsexorzismus (die bei Dawkins in eine Art Naturwissenschaftsfundamentalismus führt) ist einfach nur noch totalitär.
[...]
PS. Melusines Bemerkung, dass es sich bei dem religiösen Bekenntnis, um etwas Innig-Intimes handelt, kann ich aber gut nachvollziehen. Beim Kulturellen kann man da nicht Ähnliches bemerken: das was man schätzt, das was einem etwas bedeutet, das möchte man nicht angegriffen sehen – und wenn es um das Transzendente geht, vielleicht eine Sinngebung der eigenen Existenz, das legt die Latte ja schon unerreichbar hoch (schon in Höhe von Zauberwort, blauer Blume oder Weltformel)
wow – was für eine Fleißarbeit
Lieber Gregor Keuschnig – was für eine Fleißarbeit. Und wie sie schreiben können! Allerdings glaube ich, das Sie mich doch etwas überinterpretieren wenn Sie schreiben, »Fast schüchtern kommentierte Alexander Wallasch in der Rezension in der Süddeutschen Zeitung, dass man meine, »vieles wiederzuerkennen aus seiner jahrzehntelangen journalistischen Arbeit«. Wenigstens ihm schwant da was.« Sicher haben sie mit ihren Recherchen recht, aber ich glaube gar nicht, das sich Matussek hier hätte neu erfinden können, denn auch beispielsweise in »Als wir jung und schön waren« wird ja die Kindheit bereits ausführlich beschrieben. Nur: wie der Buchrücken schon sagt, »...erzählt Matussek auch über sich selbst, über seinen Glauben und wie er wurde, was er ist.« Zwangsläufig kommt so also wieder alles zusammen. Das kann man ja nicht neu erfinden. Und es ermöglicht doch dem Leser sich ihre fleissige und sicher hochaufwändige Notizen- und Recherchearbeit zu ersparen. Viele Grüße
Ihr Wallasch
Vor allem kann der Sammler, der sich die Spiegel-Artikelchen ausgedruckt oder gar aus dem Heft gerissen hatte, diese nun ruhigen Gewissens entsorgen.
Niemand soll etwas »neu erfinden« und es ist wohl wirklich zuviel verlangt, Redundanzen zu vermeiden, wenn in zwei Tagen schon wieder die nächste Diskussionsrunde ansteht. Da stimme ich Ihnen unbedingt zu. Aber es hätte was von einer gewissen Redlichkeit, wenn man dem Leser erklären würde, wann das alles schon mal gedacht und geschrieben wurde. Aber das ist wohl noch altmodischer als der Katholizismus.
Lieber Gregor Keuschnig,
na ja – ich verstehe ja. Der Gutenberg sitzt ihnen noch im Nacken ;))) Aber nein, den hier geht es ja um höchst eigens Erleben und nicht etwa um eine Zweitverwertung, das würde ja bedeuten, das ich meine Werkschau ständig in sich überprüfen müsste. Davon ab fand ich es persönlich einfach auch völlig offensichtlich und unverschleiert, denn um seine Vita macht Matussek ja überhaupt kein Geheimnis. Warum auch? Meisterliche Reportagen und Essays! Das gestehen ihm ja sogar atheistische Gegner zu. Also alles gut! Und alles Gute, Ihr Wallasch
Ps.: »Spiegel-Artikelchen« ? na, um die zu verniedlichen muss man selber erstmal was auf die glühende Platte schmeißen mein Bester ;))
Ps.2 Nun seien Sie mal nicht päpstlicher als der Papst! ;))
Komisch, bei der Aufforderung man solle nicht »päpstlicher sein als der Papst« sein werde ich immer noch ein bisschen päpstlicher.
..dann können Sie ja demnächst etwas virtuellen weißen Rauch hier aufsteigen sehen, wenn Sie die Nachfolge des Literaturpapsts antreten? Nähmen Sie die Wahl an?
Ich stehe ja glücklicherweise gar nicht zur Wahl. (Matussek zeigt ja ganz schön in seinem Buch, dass die Position des Gegenpapstes zumeist die medial lukrativere ist.)
klingt gut, passt aber nciht, da Matussek ja ein echter Papst_Fan ist.
Deswegen könnte er ja auch den Gegenpapst geben. Ah, das gäb´ ein schönes Schisma wie derzueinst 1378 unter Gregor XI. (der leider nicht der Gegenpapst war – das passt dann nicht).
@Wallasch
Schon klar. Aber ich meinte Matussek nicht als Gegenpapst. Er schreibt ja schon deutlich gegen die »Gegenpäpste« Küng und Geißler an, wobei der Küngs Intellektualität klugerweise nicht in Zweifel stellt. Wunderbar die Szene vor (oder nach) einer »Maischberger«-Sendung mit Geißler beim Mettbrötchen... Sie wissen schon.
Matusseks Hommage an JP II geht mir deutlich zu weit. Was er zu Benedikt schreibt, vermag ich sehr gut nachzuvollziehen.
[EDIT: 2011-06-09 09:14]
»Spaßgesellschaft mit ihrer anödende[n] Dauerironie «
Dieser Punkt hat mich angesprochen beim Lesen Ihrer Rezension. Ich bin nicht gläubig. Aber manchmal fühle ich mich als Exot, weil ich nicht jedes Thema für witzfähig halte und weil ich ein Bedürfnis nach ernsthafter Auseinandersetzung mit gewissen Fragen verspüre. Nicht alles ist einfach nur lustig und komisch und eine amüsante Anekdote, die man in geselliger Runde erzählen kann. Doch das scheint eine weit verbreitete Attitüde zu sein: Alles ist irgendwie Comedy, alles ist irgendwie witzig und mit Hilfe der oben erwähnten »Dauerironie« gibt man vor, nie wirklich von etwas betroffen zu sein. Oder mit Roger Willemsen gesprochen, man verbleibt im »Uneigentlichen«. Das ins komische verkehrte ist gar nicht wirklich. Diejenigen, die aus allem eine witzige Story machen, nehmen an den von ihnen beschriebenen Ereignissen nicht wirklich teil – zumindest ist das der Eindruck, den sie erwecken.
Und das finde ich wirklich ätzend, denn ich bin nicht mehr jung genug, um von nichts betroffen zu sein. Aber die »Dauerironie« lässt keinen Raum für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Problemen, sei es die eigene Biografie oder seien es öffentliche Angelegenheiten. Die Ironiker sind genervt, wenn man nicht alles fortwährend ins Lächerliche zieht. Sehr schade.
@Gregor Keuschnigg: Zum Widerspruch
Ja, da ist der Widerspruch – und er ist unauflöslich. Wer vom Glauben spricht, redet von Offenbarung. Das ist per se nicht diskursfähig. Ist deshalb das Reden über Glaubensfragen selbst obsolet?
Ich glaube nicht. Denn in den Erzählungen vom Glauben sind existentielle Menschheitsfragen geborgen, auf die der Glaube Antwort ist oder sein kann. Von daher kann auch dem Nichtgläubigen die Auseinandersetzung mit dem Gläubigen interessant sein: die Frage nach Schuld/ Schuldempfinden, die Frage nach der Vervollkommnung, nach dem Sinn von Geschichte, das Sein/Sollen-Dilemma, nach dem Menschenbild (und dem Bilderverbot)...
Für den Gläubigen ist das Sprechen über den Glauben Selbstvergewisserung und – wie ich hoffe – eine Lehrübung in Toleranz. Denn wo er ehrlich ist, wird er verstehen, dass sein Glaube sich letztlich vernünftiger Begründung entzieht und demütig für sich selbst die Unverfügbarkeit der Glaubensgewissheit erkennen. Deshalb ist Intoleranz gegenüber Andersgläubigen und Nichtgläubigen vor allem auch immer ein Hinweis auf einen Mangel an Glauben.
(Das sei den Fundamentalisten aller Coleur ins Stammbuch geschrieben. Ich nehme gerade ihnen die Glaubengewissheit, die sie behaupten, nicht ab. Verfügten sie tatsächlich über sie, müsste sie dies sanft gegenüber jenen stimmen, denen sie fehlt, statt dass sie diese bekämpften.)
@MelusineB
Man darf allerdings nicht vergessen, dass insbesondere dem Christentum und dem Islam immer auch der Gedanke der Missionierung innewohnte. Dieser mehr oder weniger sanfte Zwang, dem anderen »das Gute« aufzuzwingen, ist freilich immanent auch für andere, weltliche Überzeugungen, die oft mit vehementem Wahrheitsfuror daherkommen.
Glaubensgewissheiten sind immer auch mit Phasen des Zweifelns durchsetzt. Wenn »Andersgläubige« oder »Ungläubige« bekämpft werden, dürfte dies durchaus mit der Angst des eigenen »Glaubensverlustes« erklärt werden können. Einer Angst, die mit dieser Militanz überspielt werden soll.
Reden über Glaubensfragen ist dann fruchtlos, wenn Gadamers Diktum, welches ich zu Beginn meines Textes erwähnt habe, nicht als Möglichkeit verbleibt. Was Nietzsche noch vermochte, ist den heutigen Atheisten qua Selbstbild scheinbar unmöglich geworden. Sie sonnen sich im Angesicht ihres vermeintlich unumstößlichen, perfekt gestylten Weltbildes. Das macht sie ja so langweilig.
Die Ergebnisoffenheit für einen Diskurs oder Diskussion sollte man schon einfordern. Deshalb finde ich (Polit-)Talkshows auch so ennervierend, denn das ist das Gegenteil von Offenheit: keine Zeit und Ruhe ein Argument zu bedenken, wird da nur geholzt. Dementsprechend würde ich meine Erwartungen für ein Gespräch doch etwas herunterschrauben: es wäre schon einmal schön, wenn man überhaupt so weit käme, einander zuzuhören! – Zudem, weiß ich nicht, ob man in diesem Punkt wirklich fordern könnte, dass Gläubige oder Atheisten ihren Glauben mal so eben erschüttern lassen. Schon das Zuhören und sich in den anderen Hineinversetzen wollen kann aber zu interessanten Ergebnissen führen:
So beschrieb eine Freundin ihre Vorstellung von einem personalen Gott als ein Gefühl der letzten Geborgenheit, des Angenommenseins. Was einem auch immer für einen Mist passiert, es gibt für sie noch einen Rückhalt (sie kann nicht tiefer fallen als in seine Hand – Frohe Botschaft in Reinform?). – Ich kann mir hingegen keinen personalen Gott vorstellen, das ist mir schon zu sehr nach unserem eigenen Bilde, für mich muss er abstrakt, unbegreifbar (letztlich auch absurd und fern/nichtexistent) bleiben.
Andere Diskussionen waren jedoch ähnlich fruchtlos wie mit diesen Atheisten – da habe ich gerade ein aufschlussreiches Zitat von Dawkins gefunden:
»Highly intelligent people are mostly atheists,« he says. »Not a single member of either house of Congress admits to being an atheist. It just doesn’t add up. Either they’re stupid, or they’re lying.«
Er kann sich nicht in einen Gläubigen oder auch Agnostiker hineinversetzen – es will einfach nicht in seinen Schädel das einigermaßen intelligente oder intellektuelle Menschen überhaupt an etwas glauben können für das es keine empirische Evidenz gibt – und deshalb müssen da, wo er solche Menschen vermutet, noch mehr Atheisten hocken, die sich verstecken.
(Der Text von wired hatte mir insgesamt überhaupt gefallen, weil der Autor genau ergebnisoffenen diesen Atheismus an sich ausprobieren möchte )
PS. Insofern, Gregor Keuschnig, würde ich nicht sagen, dass es Zweifel oder »Angst [sei], die mit dieser Militanz überspielt werden soll«, sondern dass es denen Fundamentalisten eben an der Fähigkeit mangelt sich in andere hineinzuversetzen bzw. die Möglichkeit einer anderen Position außer der eigenen überhaupt einzusehen oder zuzulassen.
@Phorkyas
Ja, es kann sein, dass Sie richtig liegen, wenn Sie mangelnde Empathie konstatieren.
Dawkins’ atheistischer Feldzug ist m. E. in seiner Vehemenz nur durch seinen Haß auf die amerikanischen Evangelikalen zu erklären. Eine andere Deutung fällt mir nicht ein.
Was einem auch immer für einen Mist passiert, es gibt für sie noch einen Rückhalt
Einer der schönsten Filme der Coen-Brüder A serious man handelt von einem Physik-Professor, der fest im Leben steht, sich seiner Dinge in Leben und Religion gewiss ist. Sein Bruder dagegen, der sich bei ihm einquartiert hat, ist das Paradebeispiel eines Verlierers, der sich in kabbalistische Abgründe rettet, seitenweise Hefte mit unsinnig erscheinenden Symbolen vollkritzelt.
Später, das reale Leben entgleitet ihm langsam aber sicher, steht der Hauptdarsteller vor der mit physikalischen Formeln beschriebenen Tafel der Uni und versucht die Heisenbergsche Unschärferelation zu erklären. Als die Kamera aufzoomt, sieht man einen immer größer werdenden Wust von weiteren Gleichungen, die ebenso wenig einen Sinn zu ergeben scheinen wie vorher die kabbalistischen Albträume.
Letztendlich sind beide durch ihre Ansprüche verloren und nur die Menschen im Film, die das Leben ohne groß nachzudenken so nehmen wie es ist, haben die häufig ersehnte Selbstgewissheit. Oder anders formuliert: Je weniger ich weiß, desto größer ist die Rolle, die ich in meiner Welt spiele.
@Gregor Keuschnig
Bei Dawkins haben Sie sich glaube ich etwas verbissen und verwenden den armen Mann nur noch als Folie für alle fiesen Eigenschaften der Primitiv-Atheisten. Damit werden Sie ihm nicht gerecht. Zumindest den Unterschied zwischen der Kritik der real existierenden Religionen und der philosophischen Herangehensweise sollten Sie machen. Ich würde nochmal auf seinen Film The Root of all Evil hinweisen. Die Angriff sind auch dort scharf, aber dokumentiert.
@Peter42
Kann sein. Glaube ich aber nicht. Dawkins’ radikaler Atheismus ist Fakt; er ist zweifellos begründeter als das Geseire von Hitchens. Seine »Kritik« an der Religionen ist ausschließlich auf die monotheistischen Religionen fokussiert. Damit schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe: Die von ihm so verhassten Evangelikalen (in den USA) und den (fundamentalistischen) Islam. Das ist ziemlich durchsichtig und keineswegs eine fiese Unterstellung meinerseits.
@Peter42: Mit diesem Film der Coens konnte ich leider nicht so viel anfangen, vermutlich trug dazu auch bei, dass ich mich als Physiker gerade nicht mit der Hauptperson identifizieren (gut, zugegebenermaßen sind die meisten Figuren der Coens eher schräge Typen, aber so übel wie ihnen dieses mal mitgespielt wurde und wie sie auch vorher dem Spott der Niedrigkeit ausgesetzt wurden, kam es mir fast schon aggressiv oder brutal vor, wie sie mit ihren eigenen Figuren umspringen.. und löste auch so bei mir keine Beteiligung oder Mitgefühl aus).
Wie Sie diejenigen, die ihr Leben einfach so genießen wie es ist, die gegenüberstellen, die grübeln und verzweifeln, das erinnerte mich an diese Gegenüberstellung von Lebenstüchtigen und fragwürdiger, reflektierender Künstlerfigur, wie z.B. bei Thomas Mann (Tonio Kröger,..). Dieser Widerspruch der beiden Sphären ist meiner Meinung nach aber Teil jeder Individuation, des erwachenden Bewusstseins. Man fängt an über seine Umwelt und sich selbst zu sinnieren.. und der Wunsch zurück in die gedankenlose Unwissenheit ist letztlich regressiv (wenn Sie es mit dem alten Mythos sagen wollen: in das Paradies [der Kindheit] können wir nicht zurück).
Wie also wird das Individuum erlöst? Springt es aus seinen Gedankenkreisen einfach ins Absurde/Göttliche? Was könnte der Angelpunkt sein, über sich selbst hinaussteigen zu können? – Hier könnten die Künstler auch die Antwort geben: das Werk, ein Roman. (s. z.B. Bulgakows Meister) – Ein religiöser Mensch würde solchen Formen der Selbsttranszendierung vielleicht wieder skeptisch gegenüber stehen (müssen) – Mit diesem pflichtbewussten Streben, wie es sich bei Bulgakow findet, und das seine Rückbindung in eine Tradition und Geschichte nicht vergisst könnte Herr Keuschnig vielleicht wieder einen Bogen schlagen zu Herrn Sloterdijks Üben.
Was ich hier nur anmerken möchte, ist, dass der Coen-Film vielleicht eine so trostlose, negative Wirkung auf mich hatte, weil er seinen Figuren solch eine Transzendenz konsequent verweigert. Für sie gibt es keine Flucht aus dieser ewig-niedrigen Kleinvorstadt. (Wie im Naturalismus gibt es dann keine Flucht mehr aus der Immanenz?-)
Genug. – Diese Dawkins-Digression wollte ich eigentlich vermieden haben, aber da wir nun schon einmal da sind: Für mich ist es nicht so sehr ein Fehlen von Empathie, sondern »intellektuelle Ehrlichkeit«, wie sie Sam Harris zum Beispiel von anderen einfordert. So einfach: »Es gibt nur Naturalismus und wer nicht für uns ist, der muss ein (feindlicher) Supranaturalist sein«, so einfach ist es nun einmal nicht. – Immerhin erkennt er die kulturgeschichtliche Relevanz der Mythen ja an, aber vielleicht sollte er einmal einen Blick werfen auf die Verheißungen der Wissenschaft und Aufklärung. Deren Licht-Metaphorik z.B. sich mit dem gnostischen Christentum oder Platon vergleichen ließe oder die Verheißung im Buch der Natur zu lesen, welches in der Sprache der Mathematik geschrieben sei: Ist das nicht auch eine Art Fortschreibung der Buchreligionen mit ihren heiligen Schriften?
@Phorkyas
Ja, ins Paradies, darauf wollte ich hinaus, gibt es tatsächlich keinen Weg mehr zurück. Wer einmal vom Baum der Erkenntnis genascht hat, der ist auf immer vertrieben. Manche Tür die man aufgemacht hat, kriegt man nicht mehr zu, so gerne man es auch hätte. Und der Zweifel bleibt, dass Leib und Seele nicht unter einen Hut passen, wie man es auch dreht und wendet. Warum aber, sollte die Akzeptanz, dass es für Menschen unbeantwortbare Fragen gibt, nicht Erlösung sein. Man steht wieder wie das Kind in der Ebene, hat aber den Berg hinter sich gelassen und wird ebenso.
Bei Matussek habe ich aber das Gefühl, dass es genau das ist, was ihn treibt. Dass ihn wohliges Schaudern erfasst, wenn er in seinen Kindheitserinnerungen badet, als die Welt noch nicht so profan war. So einfach (regressiv) schätze ich den Mann, nach allem was ich von ihm gehört und gelesen habe, leider ein. Wenn er die katholische Kirche als Kulturspeicher erkennt, gilt dies aber ebenso für die Unkultur. Als er mit der Rassel um den Weihnachtbaum lief, stand die Kritik der reinen Vernunft noch auf der Liste der verbotenen Bücher.
P.S.
Die von Matussek beschriebene Abscheu vor der anödenden Dauerironie (von Ratzinger schon lange verteufelt), teile ich aber vollständig.
Anödende Dauerironie
Was bleibt einem anderes, wenn man die Fehler und Probleme des Projekts Moderne sieht, spürt und erfährt, aber hinter sie nicht zurück kann und will, weil es ein anderes Bewusstsein erfordert? Wie soll man, außer spielerisch und ironisch leben können oder wollen? Das Nicht-mehr-ernst-nehmen scheint mir manchmal die einzige Möglichkeit zu sein.
@Metepsilonema
Aber wirklich immer? Gibt es irgendwann nur noch Trost in dieser Pseudo-Dampfhammerironie, die alles niederwalzt, was sich vor einem aufbaut?
@Metepsilonema: Genau an diesem Punkt wollte ich auch schon einhaken, weil ich es ähnlich sehe wie du.
Oben hatte Milo auch seine Zustimmung ausgedrückt (aber noch keine Antwort erhalten). Ich glaube, da verhaken sich Glaube und Postmoderne. Oder meint man nicht, wenn man gegen diese Dauerironie zielt eigentlich, die postmoderne Beliebikgeit, ihren Relativismus? Gegen diese setzt der Glaube natürlich etwas Absolutes, Hartes, während der Postmoderne nur noch spielt und nichts mehr ernst nimmt, mit dem er spielt. (Also das ist das Motiv, das ich hier vermute). – OK, sinngemäß schriebst du das ja auch schon, metepsilonema. Und genau da wollte ich auch zustimmen: Gott erhalt mir meinen Sarkasmus, wie soll ich das hier sonst aushalten.
@Gregor/Phorkyas
Nein, ich sehe das eher als Notlösung, als Behelf. Anders wäre es mir lieber, weil weder das Spielerische noch die Ironie dem Leben in jeder Hinsicht gerecht werden können (schon deshalb, weil der Ernst eines seiner Themen ist). Nur: Wohin soll ich? In den Stahlpanzer von Moderne oder Katholizismus?
Ja, genau: Wie sollte man es sonst aushalten (obwohl man es eigentlich ernst nehmen sollte/wollte).
Anödende Dauerironie
Zunächst einmal kritisch: Man sollte mit Etiketten wie »Spaßgesellschaft« und »Postmoderne« vorsichtig umgehen. Beide beschreiben nicht die gesellschaftliche Realität. Es sind sehr grob gestrickte Deutungsmuster, die der Wirklichkeit pauschal übergestülpt werden. Sie enthalten außerdem einen konservativen Grundzug. Man diagnostiziert einen Verlust z.B. an Werten, beschreibt einen vermeintlichen »Sündenfall«, mit dem eine negative Gesellschaftsentwicklung begonnen hat. Orientiert wird sich dann an eine Zeit vor dem »Sündenfall«, als die Welt noch in Ordnung war. Dass die »Spaßgesellschaft« weitestgehend fiktiv ist, eine Erfindung von Feuilletonisten, bleibt unerkannt. Die Gesellschaft ist bei weitem vielfältiger.
Dennoch gibt es die Attitüde der Dauerironie. Sie ist eine Form, Betroffenheit zu vermeiden. Der Ironiker lacht über sich und die erlittenen Schicksalsschläge. Er leidet nicht. Das ist möglicherweise eine eher jugendliche Attitüde. Man muss noch daran glauben können, dass man biografisch noch nicht festgelegt ist. Man muss die Hoffnung haben, dass gescheiterte Lieben und Karrieren sich durch neue Anläufe vollständig korrigieren lassen. Und man baut darauf, dass das eigentliche Leben noch vor einem liegt. Erst dann kann die Vergangenheit zu einer witzigen Anekdote reduziert werden.
Soziologisch gesehen mag das ein Versuch sein, sich den Ungleichheiten der aktuellen Gesellschaft zu entziehen. Wer nicht betroffen ist, weil er dauernd über alles lacht, der lebt auch nicht in Konflikten oder er ist auch nicht dauerhaft durch strukturelle Probleme gezeichnet. Der Dauerironiker versucht die sich verschärfenden Schieflagen der Gesellschaft wegzulachen. Damit entzieht er sich auch der politischen Stellungnahme. Er tut so, als würde ihn etwa die Entwicklung des Arbeitsmarktes hin zu Entgrenzung, Zeitverträgen und Leiharbeit nicht wirklich betreffen und als könne er sein Leben immer noch souverän gestalten. Dass seine Lebensumstände womöglich weitreichend durch politische und ökonomische Entscheidungen vorgezeichnet sind, will er nicht wahrhaben. Er müsste sich eingestehen, dass er manchen Dingen machtlos gegenübersteht, dass viele seiner Hoffnungen Illusionen sind und dass er das entweder erdulden oder bekämpfen müsste. Für das eigene Selbstkonzept als flexibler Individualist ist das natürlich Gift.
Das Thema Religion (siehe Mattusek) ist dann auch nur eine Form, sich wieder Sinnfragen zu widmen. Aber es fängt schon im Kleinen an. Schließlich müssen die eigene Biografie und die sich mit den Jahren verengenden Optionen auch gedeutet werden. Mattusek plädiert für seine Vorstellung von einer »richtigen« Gesellschaft und von einem »guten Leben«. Aber diese Themen sind nicht notwendig religiös. Nur entzieht sich der Dauerironiker diesen Fragen geschickt, aber es wirkt letztlich wie eine Flucht vor den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens. Schließlich behauptet der Dauerironiker, dass der gesellschaftliche Wandel bei ihm nichts in Frage stellen könne. Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Tatsächlich wird andauernd die Lebensplanung vieler Menschen sehr in Frage gestellt. Und dann müsste man sich eigentlich wieder entsinnen, dass man Interessen und Werte hat, die kein Witz und mehr als nur gute Partyunterhaltung sind.
Die »Dauerironie« ist eine Vorstufe des Zynismus. Der Zyniker ist der gescheiterte Moralist; der Ironiker ist auf dem Wege dahin. Das ist m. E. nur begrenzt ein Duktus der Jugend; es zeigt sich in allen Alters- und Lebenslagen.
Ironie und Zynismus sind, wenn sie mehr oder weniger dauerhaft auf gesellschaftliche und politische Phänomene angewandt werden, Ausdruck der Überforderung mit der Komplexität der Welt. Das ist zumindest eine Beobachtung, die ich an und bei mir selber mache: In dem Maße, wie ich mit einer Sache nicht mehr gewachsen bin und dies auch nicht mehr möchte, ironisiere ich sie. Schließlich verkauft man ja seine Großmutter für eine gut gesetzte Pointe (sic!).
Ich glaube nicht, dass die »Spaßgesellschaft« eine Erfindung des Feuilletons ist. Sie ist Produkt aus der apathischen Kohl-Zeit der Vor-Wiedervereinigungs- und Post-Nachrüstungs-Ära. Zwischen 1989 und 1991 und dann wieder zwischen 1998 und 1999 und nach dem 11. September 2001 gab es für kurze Zeiten im gesellschaftlich-soziologischen Klima eine kleine Flaute im allgemeinen Ironie- und Zynismusmodus. Das zum Teil abrupte Scheitern der sich neu zeigenden Perspektiven trug dann nur noch zu dessen Aufschwung bei.
Fatal ist tatsächlich die Tendenz der gegenseitigen Überbietung. Wenn man dagegen Thomas Manns Romane liest, die in der Germanistik immer noch als fein-ironische Meisterwerke gelten, vermag sich einem Zeitgenossen dieses Urteil kaum noch zu erschließen.
@Milo
Mir ist es wichtig zwischen der externen Wertung und der »Verursachung« zu trennen, oder besser: Beide Ebenen betrachten. Ich kann den ironischen Blick verurteilen und ich kann zu verstehen versuchen warum er existiert.
Vorsicht und Etiketten: Ja. Auch weil solche Zuschreibungen auf Grund ihrer reduzierten Betrachtung als »Kampfbegriffe« verwendet werden. Kritik an Vergnügen und Spass ist nicht neu.
Einen konservativen Grundzug enthält die Postmoderne nicht (zumindest wenn man ihn als eine Festschreibung des Gegenwärtigen versteht und das Wort als nachmodern, als Überwindung der Moderne deutet).
Der Ironiker nimmt nichts ernst, er bringt alles in Schwebe, aber eben auch sich selbst – Ironie bringt keine Systemstabilität mit sich, da möchte ich widersprechen. Sie ist ähnlich wie der Galgenhumor eine Verteidigungs- oder »Überlebensstrategie«. Sie macht das Leben erträglicher, manchmal.
Nur damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin kein Dauerironiker und ich werde sie auch nicht verteidigen, weil ich gerne etwas besseres hätte und oft habe ich das auch – manchmal aber nicht. Was das gute Leben, für mich, ausmacht, oder ausmachen könnte, glaube ich zu wissen. Aber die Umsetzung! Und dann wieder: Der Zweifel.
@Metepsilonema
Der Link funktioniert irgendwie nicht...nur bei mir?
Bilder und Metaphern
@Milo:
Erst ein kleines Training, in dieser Diskussionsrunde hat mich soweit gebracht einen solchen Begriff wie Postmoderne zu verwenden – vorher hätte ich gesagt: der/die existiert nicht
Sie sehen etwas schlechtes in der Dauerironie. Die wollen metepsilonema und ich auch gar nicht verteidigen. Mir geht es nur darum auch eine positive Bestimmung von Ironie zuzulassen:
Sie schreiben, der Ironiker
»müss[]e sich eingestehen, dass er manchen Dingen machtlos gegenübersteht, dass viele seiner Hoffnungen Illusionen sind und dass er das entweder erdulden oder bekämpfen müsste.«
Dem stimme ich ja beinahe zu, nur meine ich, dass es gerade die Ironie sein kann, die es zu lässt dass wir die Widersprüche (hier auch: der modernen Welt) noch ertragen. Vielleicht ist das schon ein Fehler, vielleicht sollten wir sie nicht ertragen und schreiend oder weinend herumlaufen. Anders als ein religiöser Mensch muss ich aber nicht die Augen davor verschließen. Auf die Theodizee-Frage, die Frage nach dem Unrecht in der Welt, zuckt der nämlich nur mit den Schultern: die Wege des Herrn sind unergründlich. Die Gegensätze werden einfach eingeebnet.
Wie Herr Keuschnig schreibt: Der Zyniker ist der gescheiterte Moralist – Wenigstens hat er es versucht. Bei Religion sehe ich das Problem, dass man sich schon als Besitzer bestimmter Werte wähnt, ohne dass man über die Werte nachgedacht hat, noch ob man sie besitzt – ohne dass man persönlich dafür gekämpft, sie errungen hat. Der Zyniker leidet zumindest noch daran, dass die Welt auf die Werte scheißt.
Aus diesem anderen Winkel sähe es nun so aus dass die »Flucht vor den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens« nicht der Ironiker sondern der Religiöse begeht. Vielleicht ist der Winkel verkippt, vielleicht sind diese und alle Zuschreibungen nur Unsinn.
@Gregor
Bei mir klappt’s. Hier nochmal.
#39 – @Phorkyas
Naja, das Argument, der Religiöse wähne sich im »Besitz« bestimmter Werte ist eine der Hauptlinien der aktuellen Religionskritik. Aber nur weil jemand nach bestimmten Werten sein Leben ausrichtet – und vielleicht (aber das wissen wir nicht) über die Werte nicht nachgedacht hat – muss das Leben noch nicht »falsch« sein.
In diesem Postulat liegt schon die Aussage: Ironiker -> Zyniker = reflektierender Mensch, aber leider verzweifelt. Religiöser = dummer Nachbeter von übernommenen Formeln. (Ich vereinfache und spitze zu – aber nur ein bisschen). Diese Weltsicht ist mir zu einfach. Es gibt keinen Grund, den Religiösen a priori zu diskreditieren. Sein Glauben kann sich aus Reflexion und Empathie für die Welt gebildet haben. Selbst der naive Kinderglauben ist nicht per se zu verurteilen.
(Es gibt natürlich auch keinen Grund, den Atheisten mit religiösen Werten zu konfrontieren. Der Kompromiss der Moderne lautete: Die Auslagerung des Religiösen in den »Privatbereich«. Die Sache ist jedoch problematisch, da die Überschneidungen zwischen religiösen und sozialen Markern grösser sind, als man gemeinhin denkt. Die scheinbar sinnvollste Lösung, der Laizismus, funktioniert daher nur mit einer gewissen autoritären Handlung, die andererseits mit dem Recht der freien Religionsausübung kollidiert. Ein typisch postmodernes Phänomen: Denn der Atheist hat auch das Recht, mit jeglichen religiöse Anspielungen verschont zu werden. Niemand würde ihn jedoch zwingen wollen, Weihnachten zu arbeiten.)
Ich glaube, dass Dauerironie/Zynismus und Religiosität unterschiedliche Reaktionsmuster auf die Komplexität von Welt sind (es gibt allerdings noch andere Modi). Ich würde aber aber nicht das Fass einer Bewertung für die eine oder andere Weltbewältigungsmethode aufmachen wollen. Interessant wird es aber, wenn, wie Matussek das suggeriert, die »Dauerironie« zum kanonisierten Duktus von Sprache auch und vor allem in den Medien wird. Ernsthaftigkeit, ja Pathos, sind innerhalb dieser sich immer mehr perpetuierenden Ironieproduktion mindestens verdächtig. Das Modewort mehrerer Generationen von Jugendlichen lautete nicht ohne Grund »cool«. Es war als Mittel zwischen Pathos und einer sich im Zynismus bequem eingerichteten Gesellschaft gedacht. Jeder Eifer stand (und steht) unter Generalverdacht.
@Gregor:
Ich vereinfache und spitze zu – aber nur ein bisschen
Sie treffen voll ins Schwarze. Dass man da herauslesen könnte, ich hielte Religiöse für unreflektiert, war meinerseits eine zuspitzende Reaktion auf das gegenteilige Schema:
Ironiker -> nimmt nichts ernst, lässt nichts an sich heran -> kennt keine Sinnfragen, sein Leben hat keine Substanz
(Das ist in Kierkegaards Entweder/Oder der Unterschied zwischen Ästhetem und Ethiker. Während ersterer im Moment lebt, alles darauf ausrichtet den Genuss der einzelnen Augenblicke zu steigern und Gesellschaften mit seinem Witz erheitert, hat das ethische Leben bestand in der Zeit. Der Ethiker entscheidet, handelt und sein Leben hat so Ankerpunkte in der Zeit, während der Ästhet in zufälligen Momenten umhertreibt -
Die Gegenüberstellungen hier erinnerten mich ein wenig daran. Später nahm Kierkegaard noch das Stadium/Existenzmodus der Religion hinzu. – Wenn man so will, sind diese Zuschreibungen, Verallgemeinerungen nicht so eindeutig. Ich glaube ein Mensch hat meist teil an mehreren dieser Stadien/Modi..)
Es gibt keinen Grund, den Religiösen a priori zu diskreditieren.
Darum ging es mir nicht. Ich meinte eine spezielle Form des Religiösen, die sich areligiösen Menschen schon überlegen fühlt, weil sie sich ja im Besitz der Werte glaubt, diese jedoch rein formal auffasst: Die Regeln und Bräuche werden befolgt wegen ihrer schönen Weihrauchfassade. (Auch diese Zuspitzung ist wieder problematisch: wie will ich mir anmaßen, ob jemand den Gehalt der Regeln und Religion erfasst hat, oder nur der Form nach verfolgt – wie will ich überhaupt die Essenz der Werte bestimmen wollen, deren Erkennen ich anderen abschreiben möchte?)
[PS. Wo wir von Ethik sprechen, sollten wir da nicht auch von der Letztbegründung sprechen. Könnte man nicht auch sagen, dass hier der/ ein Unterschied liegt: der Religiöse reagiert auf dieses Problem mit einer Setzung, während der Ironiker an der Unlösbarkeit festhält?]
@phorkyas
Mein Einwand war nicht gegen Sie gerichtet. Ich neige gelegentlich dazu, auch die Verwissenschaftlichung der Welt als eine Art »Gegenreligion« zu sehen. Insbesondere die Neurobiologie, die der Philosophie an den Kragen möchte, agiert da sehr anmaßend. Sie reduziert gleichzeitig den Menschen als einen biologistischen Apparat – und betreibt damit exakt das Spiel religiöser Fundamentalisten (nur von der anderen Seite), die das Individuum auch nur als Werkzeug Gottes sehen wollen.
Die Dichotomie Ethiker vs. Ästhetiker ist interessant, wobei die Rollen nicht mehr so eindeutig definiert sein dürften. Inzwischen kann es auch areligiöse Ethiker geben, die es natürlich ein bisschen schwieriger haben, da ihnen die letztbegründende Instanz fehlt, auf die sie sich berufen können. Ich glaube, Kant hat das versucht, in dem er Gott weitgehend »aus dem Geschäft« gelassen hat. Wobei der (Dauer-)Ironiker heutiger Prägung gerade dieses Vertrauen Kants in die Sittlichkeit nicht mehr besitzt.
Was sich an unserer Diskussion zeigt: Das Religiöse ist eindeutig auf dem Rückzug. Früher musste das nicht-religiöse gerechtfertigt werden – heute ist es fast umgekehrt. Beides halte ich für problematisch. Lagerdenken befriedigt zwar vorübergehend, aber löst Probleme nicht.
Ihre These zur Letztbegründung halte ich mindestens als vorläufige Überlegung für sehr schlüssig.
Inzwischen kann es auch areligiöse Ethiker geben, die es natürlich ein bisschen schwieriger haben, da ihnen die letztbegründende Instanz fehlt, auf die sie sich berufen können.
Das halte ich für einen Kardinalfehler der historisch kirchlich dominierten Ethik.
Warum muss ich immer auf den unmenschlichen Hobbes’schen Naturzustand rekurrieren, wenn das religiöse Korrektiv weg fällt? Der evolutive Urzustand des Menschen hat nichts mit der Alle gegen Alle-Mentalität von Hobbes zu tun, sondern mit einer funktionierenden Kleingruppe, die schon deshalb Menschenrechte manifestiert, weil jedes Mitglied der Gruppe wichtig und schwer zu ersetzen war. In den anerkannten Menschenrechten steckt viel mehr Evolution, als viele wahr haben wollen.
Auch wenn ich langsam ermüdend werde: Das Problem ist und bleibt der Übergang von evolutionär gelerntem, funtionierendem Kleingruppenverhalten zu einer Gesellschaft, die immer wieder Anlass bietet verfeindete Gruppen zu bilden. Das steckt einfach in unseren Genen. Egal wie aufgeblasen die Unterschiede sind, ob Christ vs Moslem, Schalke vs BVB oder Windows vs Linux, der Mechanismus dahinter ist so einfach wie fatal. Es ist unsere Natur in Konkurrenz zu welschen Gruppen zu gehen und zivilisatorische Patina bleibt nur erhalten, wenn sie liebevoll gepflegt wird. Die aktuelle europäische Lage zeigt dies wieder, wie mit der Lupe betrachtet.
Die wohl kleinste Einheit ist wohl die Familie. Ist diese aber nicht immer noch von Gesellschaft oder Staat besonders geschützt/gefördert oder zumindest beachtet?
Rechtlich z.B. gibt es zwar keine Sippenhaft mehr aber umgekehrt z.B. das Zeugnisverweigerungsrecht. Selbst wenn man es also als konservativ verbrämt »Familie« mit einer positiven Wertigkeit zu belegen, so respektiert der Staat da etwas.
Versuche ich mögliche Einwände zu strukturieren:
1) Es gibt auf allen Ebenen, Größenordnungen Gruppenzugehörigkeiten. Warum sollten die kleinen, »alten« Gruppen als »gut« ausgezeichnet sein? Warum sollen irgendwelche archaischen Stämme, die sich kloppen, besser sein als z.B. heutige Firmen, die vielleicht Steuern hinterziehen, Mitarbeiter mobben, aber zumindest meist keine Atombomben bauen?
2) Sie schreiben von der Konkurrenz der Gruppen – ist das aber nicht gerade Evolution, oder soziale Umgestaltung? Das Eigene für das Wahre und Richtige zu halten, findet sich doch überall. Sie scheinen es als gefährlich anzusehen, wenn diese Ideen/Zusammenschlüsse eine ganze Nation erfassen (oder größere Gruppen) und in dem Bewusstsein der einzige Träger des Lichts zu sein ordentlich Lunte legen (wer weiß wie nahe wir ’62 am Doomsday vorbeigeschrappt sind?). – Da stimme ich zu, aber solange der Selbsterhaltungstrieb ideologisch nicht völlig ausgeknipst ist, besinnt man sich hoffentlich wieder.
3) Zwar mag es richtig sein, den Hobbes’chen Naturzustand zu kritisieren (den aber auch keiner der Diskutanden ins Feld führte?), nur sind (Religions-)geschichte und Evolution sehr eng verwoben. Seit Anbeginn gibt es Mythen, Riten und Regeln für die Gemeinschaft – vielleicht waren sie vorteilhaft für das Überleben, aber wenn Sie in evolutionsbiologischer Weise nur diesen Vorteil heraustellen dann lassen Sie den Inhalt der sinnstiftenden Erzählungen außen vor. – Und ebenso das ganze Bündel an kontingenten, historischen, soziologischen,.. Einflüssen, die die rechtlichen, moralischen Strukturen bedingen, in denen wir heute leben?
4) Wollen Sie die ganze Ethik auch evolutionsbiogisch fundieren? Von kirchlicher Seite würde da sicherlich eingewendet, dass dann, wenn nur noch die Regeln akzeptiert werden, die gerade vorliegen weil sie sich in der natürlichen Selektion durchgesetzt hätten, dies in Relativismus münde: wenn neue Regeln auf den Plan treten, so akzeptierte man diese genauso? – Oder anders ausgedrückt, die Ethik würde sich zu klein machen, weil sie keinen Überbau, »universelles« Fundament hätte (über das man freilich diskutieren müsste, ob das überhaupt nötig/möglich ist).
Als »gut« auszeichnen, ist die falsche Sichtweise. Hinnehmen, das dies die Haut ist, in der wir stecken und verstehen, wäre besser. Und das Kloppen archaischer Stämme, war im Gegensatz zu heute die absolute Ausnahme. Als sich erste Menschen in der Levante nieder ließen und größere Ansammlungen von Menschen entstanden, war die Evolution des Menschen im wesentlichen abgeschlossen. Ab einer bestimmten Größe einer Gruppe, beginnen wir uns unwohl zu fühlen und suchen wieder den Halt in einer Subgruppe, die sich schnell über den Gegensatz zu einer anderen Gruppe definiert.
Es gibt eine alte Fernsehserie Das Tier Mensch von Desmond Morris, in der er u.a. gleichartiges menschliches Verhalten in unterschiedlichen Kulturkreisen und sogar im Tierreich parallel stellt. Man muss manchmal sehr genau hinsehen, dass völlig unterschiedliche Phänomenologie den gleichen Motor hat.
Das Nationbuilding basiert da meiner bescheidenen Meinung nach auf ganz anderen Mechanismen. Dazu muss man versuchen die Gruppe über einen Mythos als Gleiche zu beschreiben, der alle Unterschiede so gut wie möglich nivelliert. In der Praxis funktioniert dies natürlich nur bedingt und muss immer wieder aufgefrischt werden. Im Fußballstadion und z.B. in Nürnberg gibt/gab es diese temporären Sonderfälle.
Wenn man Ethik als die rationale Variante, der emotionalen Moral sieht, würde ich dort gerade den Unterschied machen und Ethik sollte über unsere evolutionsbiogische Moral hinaus gehen. Bisher sehe ich aber noch geringe Unterschiede. Oder versuchen Sie mal in einer beliebigen Fußgängerzone die Thesen von Peter Singer zu vermitteln. Und an welcher Stelle wäre religiöse Ethik in dieser Darstellung anzusiedeln? Matussek ist da, glaube ich, wieder auf dem Weg in die Subgruppe.
Versuch gegen die Müdigkeit
@Peter42
Wer hat hier auf den Hobbes rekurriert? Niemand. Es ging um die Frage einer Legitimation moralischer Imperative, die sich nicht in Zirkelschlüssen oder profanem Vorteilsdenken erschöpft. Und Ihre Problemanalyse der Überforderung des Individuums mit einer »Gesellschaft« ist ja auch nur noch ein Rekurs auf eine archaische Stammeskultur, die so zumeist nur in den Idyllen der westlichen Aussteiger existierte, die ihren Lévi-Strauss nur äußerst selektiv gelesen hatten.
Wie dünn die zivilisatorische Patina ist, zeigt die neueste Gewaltforschung. jemand wie Reemtsma hat sicherlich Recht, wenn er sagt, dass eine Gesellschaft (genauer: eine Entität) nur wenige Tage ohne Ordnung in Barbarei abstürzt (vgl. auch den Gaiser, der Ihnen natürlich politisch nicht liegt [und mir auch nicht; dennoch...]).
Aus heutiger Sicht erscheint eine Delegation der moralischen Über-Instanz an ein überirdisches Wesen – Gott – eine Ausflucht aus der Realität. Damit bin ich sofort einverstanden. Aber alle aus dem säkularen argumentierenden Gesellschaftsentwürfe sind entweder gescheitert oder in höchstem Maße fragil – wenigstens so fragil, wie die auf religiöse Werte aufbauenden. Das ist natürlich kein Grund, eine Theokratie einzuführen.
Ich bleibe dabei: Nietzsches Spruch vom toten Gott ist nicht Wunschdenken, sondern zunächst einmal Zustandsbeschreibung. Aber ein Zurück gibt es nicht mehr (nur kurze Revivals, die aber schnell verpuffen). Die Alternative ist derzeit nicht lukrativ genug für alle. Auch hier stößt der Universalismus auf Grenzen. Warum auch nicht.
@Phorkyas
Zu Ihrem Punkt 4 – die aktuelle »tagesschau«: Frau Merkel vor CDU-Parteimitgliedern, die ob der Kurs- und Werteverschiebungen in der Partei konsterniert sind. Merkel (sinngemäß): ‘Wenn sich die Situationen ändert, muss sich auch die Politik ändern.’ – Da hätten wir Ihre Relativismus-Befürchtung. Die ist ja in Wirklichkeit längst Praxis. Sexualpraktiken, die vor 40 Jahren noch unter Strafe standen, sind längst legalisiert. Bald wird das Inzest-Verbot aufgehoben werden. Es ist m. E. nur eine Frage der Zeit, dass die heute als pädophil geltenden Personen in einigen Jahrzehnten als »normal« gelten (sofern Einvernehmen existiert).
Ich bewerte das gar nicht. Ich stelle nur fest, dass der Wandel bestimmter Werte generationenweise stattfindet. Gleichzeitig werden die Menschen immer älter. Das heisst: Die Veränderungen von Werten passieren nicht mehr konsensuell-evolutionär (vulgo: langsam), sondern institutionell (nach Interessenlagen).
@Peter42: Hinnehmen, das dies die Haut ist, in der wir stecken und verstehen, wäre besser.
Ja, aber zu dieser Haut, gehört doch auch unsere Geschichte. Wenn man annähme, wie dies vielleicht bei Ihnen durchklingt, dass sich in den Jahrtausenden an dem genetischen Material des Menschen nicht viel getan hat, was macht dann den Unterschied der Zeiten und Gesellschaften? Auch die Geschichte aus der sie erwachsen möchte ich meinen. – Da finde ich es sehr vielsagend, wie man sich zur eigenen Geschichte positioniert. Dieses Verdikt vom »Finstersein«, das da über das Mittelalter verhängt wurde, und mit dem wir uns etwas heller (brighter!) und erleuchteter vorkommen können. Ein Film wie »Das weiße Band« verlegt dieses dämonisch-aufgeladene Mittelalter dann gleich in das Dorf knapp vor unsere Haustür (auch bei Marquez findet sich dieser Hass auf diesen finster-dörflichen Katholizismus – bei Arundhita Roy auf das Kastensystem)... und sie haben ja auch recht mit ihrer Kritik,.. aber gehört das alles nicht auch zu unseren historischen Haut? So wie die Scholastik zur Aufklärung gehört (darauf weist Matussek hier zu recht auch wieder hin)
[PS. @Keuschnig zu dem Ästhetik/Ethiker Stadien müsste ich noch altes Material haben – wenn ich es wiederfinde, und nich allzu peinlich ist, werde ich es noch einstellen]
...was macht dann den Unterschied der Zeiten und Gesellschaften?
Das habe ich mich schon oft gefragt. Schauen Sie, was in Deutschland nach Hegel, Fichte, Schelling, Goethe, Schiller etc. für ein Wechselbad über sechs, sieben Generationen statt gefunden hat. Darauf würde ich nicht bauen wollen. Gut, in England ist das Fundament sicherer und hat mehr Stürme ausgehalten, aber würden Sie jedem Nachbarn in Zeiten ohne materiellen Überfluss einen historisch gewachsenen Wertekanon unterstellen? Herr Keuschnig hat ja schon Reemtsma zitiert. Ich möchte gar nicht kritisieren, nur feststellen. Und von Lösungen weiß ich schon gar nichts. Ich halte die Welt nur für deutlich fragiler, als Sie gerade unserer Generation erscheint.
Zu Matussek: Sein letzter Satz (Jesus hat seine Kirche auf Menschen gebaut, und Menschen sind fehlbar, damit haben wir zu leben) verdeutlicht sein Problem. Man definiert ein Regelwerk und wer dagegen verstößt, fehlt. Das ist eine simple Tautologie. Unsere Gene sind aber real und gegen Naturgesetze kann man nicht verstoßen.
@Peter42
Unsere Gene sind aber real und gegen Naturgesetze kann man nicht verstoßen.
Weder Gene noch Naturgesetze sind Realität, sondern menschliche Konstrukte, Krücken, Konzepte, Theorien über die Welt. Aber eben nicht sie selbst.
(Und ganz ähnlich verhält es sich mit Gottesvorstellungen, wenn wir einmal davon ausgehen, dass es ihn tatsächlich gibt.)
Ich hatte noch kurz überlegt, ob ich einen Solipsismus-Disclaimer o.ä. setzen soll. Aber falsch verstehen kann man immer, wenn man will. Mit ein wenig gutem Willen hätte man erkennen können, dass eine Religion die Fliegen zur Pflicht eines Gläubigen macht, eher gemieden würde. Aber Christen z.B. legen gelegentlich falsch Zeugnis ab. Gene sind zwar nicht das Ding an sich, aber ausreichend real.
@Peter42: Schauen Sie, was in Deutschland nach Hegel, Fichte, Schelling, Goethe, Schiller etc. für ein Wechselbad über sechs, sieben Generationen statt gefunden hat. Darauf würde ich nicht bauen wollen. Gut, in England ist das Fundament sicherer und hat mehr Stürme ausgehalten,
Aus evolutionärer Sicht müsste Sie das doch im Gegenteil beruhigen: Dass sich eine Gesellschaft wandelt zeigt doch ihre Lebendigkeit. Eine Gesellschaft oder Art, die so starr geworden ist, dass sie sich nicht mehr wandeln kann, die ist doch viel mehr der Gefahr ausgesetzt zu verfallen oder auszusterben, weil sie mit der sich ändernden Umgebung nicht mehr mitdriften kann.
(Allerdings weiß ich nicht, ob ich zustimmen soll, dass es ein solches ideengeschichtliches Wechselbad gegeben habe. Es gibt doch große, grobe Traditionslinien: der Neukantianismus hat z.B. noch bis ins 20. Jahrhundert gewirkt, und der Positivismus ist ja auch nicht aus der leeren Luft entstanden usw. – Was die Lebensumstände anbelangt natürlich: Ja, da gab es große Änderungen.)
würden Sie jedem Nachbarn in Zeiten ohne materiellen Überfluss einen historisch gewachsenen Wertekanon unterstellen
Ich weiß es nicht, könnte mir aber z.B. eine Korrelation vorstellen, dass ärmere Menschen eher gläubig sind (was nun nicht heißt, dass sie die Tradition ihrer Werte besser kennten oder gar bessere Menschen wären). -
Figuriert bei der Kritik an der Dauerironie nicht so eine Art Gesellschaftskritik im Hintergrund?
Besser, wir fälschen die Kindheit wie Haut. Besser, gereinigtes Milchpulver nehmen, das, klinisch getestet, zufallslos nährt, hygenisiert für die kommende Nahrung, vorzubereiten die coolen und smarten Ironiker, die uneingelassem im Alltag, nur spöttisch zu lieben verstehen, karriereverpflichtet. So gehn sie, unangefaßt von der Zeit, durch die Zeiten, geschichtslos den Nutz kalkulierend, durch nichts aus dem Gleis derProductionzu werfen und alternd vom Gleichmut umsorgt, dem in Residencesalimentierten. Alban Nikolai Herbst »Das bleibende Thier – Bamberger Elegien«
Wie soll ich es anfangen? – Vielleicht fängt ja doch jemand anders an...
@Peter42
Wenn Sie etwas weglassen oder verkürzen, ist das nicht meine Schuld. Wieso kommen Sie auf den Solipsismus? Und real genug: Wofür?
Achso, nochwas,was mich heute schon den ganzen Tag beschäftigt. Vielleicht wissen Sie mehr:
Diese neue deutsche Übersetzung (endlich!) von Hemingways Paris-Buch A MOVEABLE FEAST hat fast 320 Seiten. Das englische Original hat aber nur 140 Seiten; jedenfalls meine 35 Jahre alte Taschenbuchausgabe.
Ist diese »Urfassung« tatsächlich um so vieles länger? Oder ist mein Taschenbuch sehr klein gedruckt und Rowohlts Neuausgabe SEHR groß?
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Ist diese »Urfassung« eigentlich nur ein jurisistischer Trick, um endlich die oft falsche fünfziger-Jahre-Übersetzung (Joystick = »Freudenspender«) doch noch zu ersetzen?
#53 Phorkyas
Die Kritik an der Dauerironie wird zuweilen von denen am vehementesten aufgebracht, die erst durch dauerironische Diskursführungen reüssiert haben. Danach lässt es sich dann ganz bequem in Richtung Gesellschaftskritik »aussteigen«. Ich sage nicht, dass das Matussek macht, aber es ist doch häufig zu beobachten, dass dem Post-Zyniker irgendwann der eigene Zynismus schon wieder langweilt.
Ist das dann Dekadenz?
Ich befürchte ich komme nicht ganz mit (hatte und hab´ ja auch noch mit der Postmoderne meine Schwierigkeiten, die da akrobatisch durch die Meta-Ebenen turnt http://xkcd.com/917/ )
dauerironische Diskursführungen – mein philosophischer Mitbewohner brachte es vielleicht auf den Punkt: Relativismus – schon Plato´s Verdreschen der Sophisten ist die Gegenposition zu einem Relativismus.. und vielleicht ist das auch so bei Moderne contra Postmoderne (und immer hindurch durch die Zeiten).
Was ich nicht ganz verstehe: Selbst wenn der Zyniker seines Zynismus überdrüssig wird (=Post-Zyniker?), so kann er doch nicht aus seiner Dauerironie heraus. Selbst wenn er seine Ironie ironisierte wird daraus nicht Ernst. Zu welcher Meta-Ebene er sich auch schwingt, er kommt nie irgendwohin... (Ist die Postmoderne also verzweifelt?)
Aber vielleicht ist das auch nur das, was anti-relativistische Gegenposition sagen will (also Herr Matussek u.a.): komm zurück auf den absoluten, gesicherten Boden?
@Phorkyas
Meine Hilfsthese – es war eher eine Frage – geht dahin: Der »Post-Zyniker« (oder auch »Post-Ironiker«) verfällt in eine Art überirdischer Gelassenheit. Seine verzweiflung an der Welt, die ihm zum Zyniker werden liess, weicht einer bestimmten Form des Hedonismus; verquickt mit Toleranz und Großzügigkeit. Er weiss, die Dinge nicht mehr ändern zu können und verzweifelt daran nicht mehr. Daher fällt auch die Ironie von ihm ab wie eine überstandene Krankheit.
Der Glauben, also das Religiöse, kann ihm einen Ausweg geben. Im nachhinein wird dann auch das Rebellentum gegen Eltern und die abweichenden Lebensentwürfe (Matussek: Sympathien mit dem Marxismus) als Kontinuum empfunden. Das Leben spielt sich dabei nicht in einer postmodernen Beliebigkeit ab, sondern nimmt Rekurs auf verklärte, zurückliegende Zeiten. Der Zyniker mutiert zum Menschen, der dankbar für das Leben ist. Daher werden Leute im Alter auch konservativer.
Erst jetzt, nachdem meine Besprechung gesendet wurde, habe ich Ihre Besprechung dank des Hinweises auf Face-Book gelesen.
Schade, sie wäre mir hilfreich gewesen, obwohl ich das Buch weiterhin wohl peinlicher finde.
Mit guten Wünschen
Rainer Kampling
[Anmerkung G.K.: Diese Mail erhielt ich von Prof. Kampling auf eine Linksetzung bei Facebook zu seinem Beitrag im »Deutschlandradio Kultur«: »Der neue leidenschaftliche Katholik«. Die Veröffentlichung der Mail wurde mir gestattet.]