Es existiert schon lange, bricht immer wieder auf. Jetzt ist es wieder da, das Trauma der SPD. Es ist das Trauma der Unzuverlässigkeit, der mangelnden, fehlenden Staatstreue. Betrachtet man nur einmal die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit unglaublicher Frechheit gelang es den restaurativen und konservativen politischen Kräften in der neuen Bunderepublik die SPD als Kommunisten, mindestens jedoch Staatsfeinde hinzustellen. Dass es die SPD-Abgeordneten waren, die den Ermächtigungsgesetzen der Nazis nicht zugestimmt hatten – das wurde vergessen. Die SPD als verkappte Kommunisten – Goebbels’ Propaganda mobilisierte immer noch. »Keine Experimente« warnte man im Wahlkampf 1957 – es gab nie wieder einen größeren Sieg der CDU/CSU. Mit der sozial-liberalen Koalition 1969 und dem Machtverlust fand man sich nicht so ohne Weiteres ab. Willy Brandt wurde durch seine sogenannte Ostpolitik wieder einmal zum vaterlandslosen Gesellen denunziert, nachdem er bereits in den 50er Jahren ob seines Exils von Adenauer diffamiert wurde. Und das ein ehemaliger Kommunist wie Herbert Wehner geläutert sein könnte, das trauten diejenigen, die ein christliches Attribut in ihrem Parteinamen führten, nur ihren eigenen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Mitläufern zu.
Die SPD knickte damals nicht in der Ostpolitik ein, sondern in der Innenpolitik. Man frischte Adenauers Radikalenerlass wieder auf. Keine Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst. Die Kuriositäten des Lokführers, der wegen seiner DKP-Mitgliedschaft entlassen werden sollte, sind Legion. Die Kampagnen gegen die SPD – an vorderster Stelle natürlich Springer – zeigten Wirkung: Die SPD wollte ihre Staatstreue zeigen. Durchgreifen. CDU/CSU sozusagen überholen. Keine Angriffsfläche bieten. Bei den Anhängern Unverständnis; der in der Weimarer Republik von den Linken geprägten Spruch »Wer hat uns verraten / Sozialdemokraten« wurde wieder intoniert. Dabei wollte man nur beruhigen – so schlimm ist es mit den Sozen ja doch nicht.
Als dann 1998 nach 16 Jahren Regierung Helmut Kohl SPD und Grüne übernahmen, gab es wieder eine Situation, in der die SPD gefordert schien. In den USA zweifelte man offen die Bündnisfähigkeiten einer Rot-Grünen Regierung an. Schließlich forderten prominente Grüne immer noch einen NATO-Austritt. Schröder stellte seinen Außenminister Fischer in Washington vor, als müsse man dort zustimmen. Die Nagelprobe kam schnell: Jugoslawien. Deutschland »musste« beim völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien mitmachen, obwohl der militärische Wert der Teilnahme gen Null tendierte. In Deutschland wurde das Mitmachen moralisch begründet. Die Amerikaner waren beruhigt – so schlimm ist es mit den Sozen ja doch nicht.
Und jetzt? Brav hat die SPD allen Euro-Rettungspaketen – mögen sie auch noch so windig sein – zugestimmt. Und dann sagt Angela Merkel, die SPD sei unzuverlässig, was die Europa-Politik angehe. Ein Aufschrei in der SPD. Entrüstung! Hat man doch gerade aus Gründen der Staats- bzw. Europaräson zugestimmt. Man hat Merkel geholfen, die nicht immer eine Kanzlermehrheit hatte. Da ist es wieder – dieses Trauma der Unzuverlässigkeit.
Aber es ist nicht nur das: Einerseits muß sich die SPD im Wahlkampf bremsen, was die Europolitik angeht. Schließlich hat sie immer mit Merkel gestimmt. Dies kostet schon Stimmen. Jetzt wird sie durch Merkels scheinbar beiläufig eingestreute Bemerkung gezwungen, dieses Verhalten auch noch zu rechtfertigen. Damit rückt es mehr in den Fokus, als es der SPD lieb sein kann. Wenn man gelegentlich von Win-Win-Situationen spricht, so ist dies eine Lose-Lose-Situation: Einerseits muss die SPD auf ihre Verantwortung Europa gegenüber bestehen. Andererseits fällt somit für viele Wähler eine potentielle Alternative weg. Die SPD wird nicht nur an ihrem Trauma berührt, sondern auch noch indirekt dafür bestraft. Die SPD und Europa – so schlimm ist es mit den Sozen nicht.
Es ist ein genialer Coup von Merkel. Und es ist ein schmutziger Coup von Merkel.
Oh ja, das ist eine Sauerei, wie Steinmeier sich noch drastischer ausdrückte. Aber mein Mitleid mit den Sozen hält sich in Grenzen. Ein wenig Mitleid mit Steinbrück schon, einfach dafür, dass er sich die Tortur dieser, von vornherein aussichtslosen, Kandidatenrolle angetan hat. Wie sagte Merkel im „Duell“ so zutreffend: „Gerhardt Schröder hat sich um Deutschland verdient gemacht!“ Recht hat sie, denn Schröder hat die SPD auf Jahre hinaus unwählbar gemacht. Das ist gut für die CDU und somit gut für Deutschland. Jetzt bin ich mal gespannt, wie sich die markige Drohung der SPD-Troika, man werde diese Merkel-„Sauerei“ nicht vergessen, bei den demnächst anstehenden Verhandlungen zur Großen Koalition auswirken werden. Ich tippe mal: Gar nicht!
Schade, wir können nicht wetten. Denn ich tippe auch »gar nicht«. Es geht vermutlich etwa so: »Dann nehmen Sie irgendwas zurück« (3’25).