Vor einem Jahr trat Christian Wulff vom Amt des Bundespräsidenten zurück. Über mehr als zwei Monate prasselte damals das mediale Dauerfeuer auf einen amtierenden Bundespräsidenten ein. Michael Götschenberg, Leiter des Hauptstadtbüros von RBB, MDR, Radio Bremen und des Saarländischen Rundfunks, bemüht sich in seinem Buch »Der böse Wulff?« aber nicht nur um die Aufarbeitung der diversen Wulff-Affären (die gelegentlich auch nur lächerliche Affärchen waren), sondern untersucht die Umstände vor bzw. bei der Wahl Wulffs und gibt einen Überblick über die 598 Tage der Präsidentschaft. Dabei zieht er was die Amtszeit angeht ein überaus positives Fazit und mag so gar nicht in die negativen Stimmen der Journalistik einstimmen, die, wie man heute nachlesen kann und Götschenberg auch zeigt, durch die Dynamik der Umstände eingefärbt waren (und immer noch sind).
Des Autors positives Fazit speist sich von zwei Seiten. Zum einen hebt er die Erklärungen Wulffs zu »Bunten Republik Deutschland« heraus. Schon als Ministerpräsident habe er mit der Nominierung von Aygül Özkan zur niedersächsischen Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration ein Signal gesetzt, dass sich schließlich in der kontrovers diskutierten Rede zum 3. Oktober 2010 gezeigt habe. Götschenberg zeichnet dieses Kontinuum in Wulffs Gesellschaftsverständnisses glaubhaft nach. Er berichtet vom auch privat freundschaftlichen Verhältnis zum türkischen Präsidenten Gül. Wulff gilt heute noch bei Migranten in Deutschland als »ihr« Präsident. Damit bewegte sich Wulff jedoch eher im »rot-grünen« als im »schwarz-gelben« Lager. Am Ende wurde sogar die Begegnung mit den Angehörigen der NSU-Opfer vorgezogen, um, so Götschenberg, eventuellen Turbulenzen auszuweichen. Parallel zur Integration der in Deutschland lebenden Muslime hatte Wulff mit dem Befund, dass Judentum gehöre »zweifelsfrei« zu Deutschland eine ähnlich positive Resonanz beim Zentralrat der Juden hervorgerufen. Im November 2010 reiste Wulff mit seiner damals 17jährigen Tochter Annalena nach Israel, wenige Monate später besuchte er Auschwitz. Ein Jahr danach erhielt Wulff den »Leo-Baeck-Preis«, eine Auszeichnung für Menschen, die sich in »herausragender Weise für die jüdische Gemeinschaft eingesetzt haben«. Wulff soll erstaunt gewesen sein, er habe doch noch »gar nichts geleistet«, so kolportiert Götschenberg aus dem Umfeld dessen erste Reaktion.
Gleichzeitig vergibt er Wulff (und seiner Frau) beste Noten, was die Außendarstellung auf Reisen angeht. Wulff habe nie ein Minimalprogramm absolviert, habe immer auch »unbequeme« Termine wahrgenommen. Dabei habe er sowohl protokollarisch als auch menschlich überzeugt. Mehrmals kommt er auf das gute Verhältnis zur Türkei und Israel zu sprechen, betont Wulffs Feingefühl. Dass er in der Türkei dann auch gleiche Rechte für die Christen eingefordert habe, bemerkt Götschenberg positiv – nach der Rede vom 3. Oktober habe das jeder verstanden.
Erst im dritten Wahlgang
Die Löwengruben für Wulff lauerten in Deutschland. Schon die Findung des Kandidaten nach dem überraschenden Rücktritt Horst Köhlers zeigt sich im Nachhinein als schlechtes Omen. Götschenberg erzählt den Hintergrund, wie SPD und Grüne sehr schnell auf Gauck kamen und wie Merkel damit überrumpelt wurde. Er zeigt, wie beide Seiten die Findung des Kandidaten als parteipolitisches Spiel aufzäumten. Die Regierungskoalition war im Frühsommer 2010 im Stimmungstief; die FDP sortierte sich gerade neu. Der Rücktritt Köhlers galt allgemein als Niederlage für Merkel. Die SPD glaubte, mit einem überparteilichen Kandidaten punkten zu können. Aber Merkel hatte längst Kontakte zu Christian Wulff geknüpft. Währenddessen glaubte die Öffentlichkeit, Frau von der Leyen sei eine heiße Anwärterin. Tatsächlich war sie, wie Götschenberg herausgefunden hat, niemals ernsthaft im Gespräch. Als Wulff dann durch die Kanzlerin zum Kandidaten ernannt wurde (die FDP schloss sich ohne Diskussion Merkels Vorschlag an) nutzte die SPD die positive Stimmung für den ehemaligen Bürgerrechtler Joachim Gauck aus, um Wulff als farblosen Berufspolitiker darzustellen, der von Merkels Gnaden zum Bundespräsidenten weggelobt werden soll. Die drei Wahlgänge am 30.6.2010 – und das trotz Mehrheit in der Bundesversammlung – hatten Wulff, so suggeriert Götschenberg, zusätzlich einen Dämpfer gegeben, zumal dies als Denkzettel für die Kanzlerin interpretiert wurde. Interessant am Rande: Die Medien nehmen nach dem dritten Wahlgang nur zur Kenntnis, dass Wulff gewählt war (es reichte die einfache Mehrheit) – das er die absolute Mehrheit erreichte, hörte man kaum.
Götschenberg mutmaßt, dass diese Diskussionen an Wulff nicht spurlos vorübergegangen waren. Er attestiert ihm als Ministerpräsident eine gute Arbeit und zitiert hierfür einige Umfragen. Diese »Umfrageristis« ist eine Schwäche des Buches. Bei allen möglichen Gelegenheiten streut Götschenberg Ergebnisse von Umfragen ein, um seine Thesen zu belegen. Das führt gelegentlich dazu, dass sich Stimmungsbilder sogar widersprechen, was er dann jedoch im Stil der sogenannten Umfrageexperten auch noch erklärt. Tatsächlich kann man hieraus maximal sehr kurzfriste Stimmungstrends ablesen, die aber mit hohen Fehlerquoten belastet sind. Hinzu kommen die Feinheiten der zum Teil tendenziösen Fragestellungen, die geeignet sind, »gewünschte« Resultate zu erreichen. Die Vermutung, dass die Bevölkerung trotz des medialen Gegenwinds auch noch im Januar 2012 bereit gewesen wäre Wulff eine »zweite Chance« zu geben führte wohl zur abermaligen journalistischen Aufrüstung, die sich dann zum Teil an lächerlichen scheinbaren »Vorteilsnahmen« abarbeitete.
Schwerer Start
Ausgiebig wird geschildert wie schwer Wulff ins Amt hineinfand. Dass er dies später auf eine fehlende »Karenzzeit« zurückführte, versteht Götschenberg, ist aber Journalist genug um zu analysieren, dass dies eine ungünstige Formulierung Wulffs gewesen war, obwohl die Tatsache an sich zutraf. Als Wulff in zwei innenpolitischen Personalfragen durchaus markant positionierte (soll der Duisburger Oberbürgermeister Sauerland nach der Love-Parade-Katastrophe zurücktreten und ist Thilo Sarrazin als Bundesbankmitglied nach seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« noch tragbar) und dafür von den Parteien mehr oder weniger sanft in die Schranken gewiesen wurde, stieg die Verunsicherung Wulffs weiter an. Die 100 Tage-Schonfrist galt für ihn nicht. Sehr früh begann man zu fragen, wo denn die Stellungnahmen des Bundespräsidenten zu den drängenden Fragen der Zeit (Eurokrise, Integration) blieben. Da kam der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, gerade Recht. Es sollte Wulffs berühmteste Rede werden. Wegen des Satzes, dass »auch der Islam inzwischen zu Deutschland« gehört, gab es massive Kritik.
Erstaunlich Götschenbergs Interpretation, die »Unschärfe der Formulierung« als »Provokation durch die Zuspitzung« sei »durchaus kalkuliert« gewesen, weil Wulff eine Diskussion habe anstoßen wollen. Dabei bezieht sich Götschenberg wie so oft in diesem Buch auf ehemalige Mitarbeiter, die jedoch – wie er zu Beginn erläutert – allesamt anonym bleiben wollten. Die Diskussion um die Rede, die sich im wesentlichen um einen Satz drehte, wird nur in Bezug auf die kritischen Stimmen in CDU/CSU angerissen (die der Autor – überraschend oder polemisch? – die »eigene politische Familie« nennt). Die auch stattgefundene Diskussion jenseits von Parteigrenzen erwähnt er nicht mit einem Wort.
Danach »verliert sich [Christian Wulff]…im Alltagsgeschäft der Pflicht und vernachlässigt die Kür«. Er hastete zwar immer noch von Termin zu Termin, aber es waren zumeist Begegnungen jenseits der Wahrnehmungsschwelle überregionaler Medien. Entsprechend fielen dann auch nach einiger Zeit die Kommentare aus. Insbesondere der »Spiegel« machte aus seiner »unübersehbaren Geringschätzung« für die Person Wulff keinen Hehl. Hinzu kam, dass der Bundespräsident den Leitmedien (inklusive »Bild«!) keine Interviews gab, sich scheinbar vor der Presse abzuschotten schien. Götschenberg zeigt in bei der Besprechung dieser Phase der Amtszeit Wulffs auf sehr instruktive Weise die Problematik des Amtes des Bundespräsidenten an sich, der einerseits Äußerungen zu gesellschaftspolitischen Phänomenen und Problemen vornehmen soll, andererseits jedoch infolge informeller Regeln fast gezwungen ist, das politische Alltagsgeschäft nicht zu kommentieren oder gar Einfluss zu nehmen: »Grundsätzlich wird es für den Bundespräsident generell schwieriger, den Spagat zwischen der gebotenen Zurückhaltung gegenüber der Tagespolitik und der Forderung nach mehr Einmischung zu schaffen.« In Zeiten sozialer Netzwerke und deren wachsender Bedeutung zeigt sich dieses »Spannungsfeld« noch markanter als vorher. Zunächst scheint diese Argumentation durchaus treffend. Aber es bleibt natürlich schon die Frage, warum ein Bundespräsidialamt bzw. dessen PR-Apparat (Olaf Glaeseker sollte ja später zu einer gewissen Berühmtheit kommen) nicht auf die Idee gekommen ist, Wulffs Reden beispielsweise über Twitter und/oder Facebook zu verlinken. Stattdessen dümpelten sie auf der offiziellen Webseite des Bundespräsidenten; weitgehend unbeachtet. So wurde die viel später zu einem gewissen Ruhm gekommene Lindauer Rede zur Eurokrise am 24.8.2011 erst post festum einem größeren Kreis bekannt. Die Parteien beeilten sich damals schnell, die »Einmischung« in Belange der EZB abzulehnen und Wulff schien durch sein Schweigen diese Kritik anzunehmen.
Wie heuchlerisch diese Einwände waren, zeigte sich dann im weiteren Verlauf der Eurokrise: inzwischen ist die Autonomie der EZB nur noch ein lächerliches Schmierentheater. Dabei stellt Götschenberg klar, dass die Rede Wulffs zwar durchaus Angriffsflächen bietet und unzulässige Verallgemeinerungen enthält. Auch die nachträglich im Internet kursierenden Verschwörungstheorien, Wulff habe wegen dieser Rede sozusagen zurücktreten müssen, verweist er ins Reich der Märchen. Aber die viel erwartete (und geforderte) Rede zur Eurokrise hatte Wulff gehalten. Wulff äußerte sich – wie auch immer – zu aktuellen Problemen der Zeit. Aber hartnäckig bis zum Schluss konnte sich die Mär halten, Wulff habe »keine bedeutende Rede« (Nils Minkmar) während seiner Amtszeit gehalten, was nicht nur einer Denunziation gleichkommt sondern auch die Vorgänger Wulffs (womöglich aus Unkenntnis) übermäßig idealisiert.
Medienoffensive nach einem Jahr
Nach einem Jahr Präsidentschaft entschloss man sich zur Medienoffensive. Christian Wulff gab mehrere Interviews, die fast parallel in den Medien publiziert wurden. Sehr zum Ärger von »Bild« gab es ein Interview mit »Bild am Sonntag« – jenem Organ, dass ein Jahr vorher emphatisch Partei für Joachim Gauck ergriffen hatte. Bereits ein halbes Jahr vorher hatte der »Spiegel« »im Hintergrund« begonnen, den Hauskauf Wulffs zu untersuchen. Auch »Bild« und der »Stern« recherchierten, wobei man damals noch davon ausging, Carsten Maschmeyer sei der Financier gewesen.
Götschenberg widmet die zweite Hälfte seines Buches der Abläufe um die »Krise« um Christian Wulff. Dabei liefert er durchaus neue Aspekte, was womöglich daran liegt, dass er Quellen konsultieren konnte, denen er Anonymität zusicherte. Insofern sind etliche der Angaben nicht direkt überprüfbar; sie werden sich womöglich erst später als wahr oder falsch herausstellen. Dennoch sind seine Erkenntnisse teilweise sehr interessant. Einen Grund für die Distanzierung von Wulff und »Bild« sieht Götschenberg in einem kleinen Detail. Im September 2011 wollte der Bundespräsident nach Afghanistan fliegen und den dortigen Truppen einen Besuch abstatten. Wie üblich blieb der Termin aus Furcht vor Terroranschlägen in der Öffentlichkeit geheim. Als dann einen Tag vorher Anschläge in Kabul stattfanden, wurde der Termin abgesagt. Götschenberg: »Die Suche nach einem neuen Termin dauerte jedoch länger als gedacht, sodass der ‘Spiegel’ schließlich doch Wind von der Geschichte bekam. Drei Wochen nach dem geplatzten Reisetermin berichtete der ‘Spiegel’ über die abgesagte Afghanistanreise«. Wie pervers die Kategorien im Journalismus inzwischen geworden sind, zeigt sich darin, dass offensichtlich sogar eine abgesagte Reise einen gewissen Nachrichtenwert besitzt. Weiter wird ausgeführt: »Noch vor dem ‘Spiegel’ hatte die ‘Bild’-Zeitung von der Geschichte erfahren und beim Bundespräsidialamt auf den Busch geklopft. Dort bat man ‘Bild’ nicht über die geplante Reise zu berichten, und bot der Zeitung einen Handel an: Als Gegenleistung für den Verzicht auf die Geschichte stellte Präsidentensprecher Glaeseker ‘Bild’ in Aussicht, dann mitreisen zu können, wenn die Reise nachgeholt würde«. Als dann, knapp eine Woche später, kurzfristig die Reise angesetzt wird, ist Glaeseker in Urlaub und niemand weiß von diesem Deal. »Bild« ist nicht dabei; als Kai Diekmann dies in einer Sitzung eröffnet bekommt, schweigt er. »‘Nichts sagt so viel, wie wenn Diekmann schweigt’«, so zitiert Götschenberg einen »Teilnehmer der Sitzung«. (So weit sind wir also gekommen, dass die Allüren eines Parvenüs, die man ansonsten nur aus Mafia-Filmen kennt, Relevanz besitzen.)
Warum hakt »Bild« nach?
Vier Wochen vorher hatte der Bundesgerichtshof dem klagenden »Spiegel« recht gegeben: Journalisten durften das Grundbuch des Hauses der Familie Wulff in Großburgwedel einsehen. Zunächst machte sich die Enttäuschung breit: Carsten Maschmeyer, inzwischen zum Medien-Schurken avanciert, hat nichts mit der Sache zu tun. Die »BW-Bank« wird als Kreditgeber aufgeführt. Im Gegensatz zum »Spiegel« bleibt »Bild« an der Sache dran. »Bild« konfrontiert Glaeseker mit seinen Recherchen und dieser antwortet am 30. November 2011. Damals soll selbst Glaeseker, so Götschenberg, nichts vom vorgeschalteten Privatkredit Wulffs mit Frau Geerkens gewusst haben. Das Verhältnis zwischen Wulff und seinem Pressesprecher hatte bereits 2008 einen »Knacks« bekommen (der im Buch angedeutet wird). Seit dieser Zeit wurde das Verhältnis Glaeseker / Wulff rein dienstlich weitergeführt; Privates behielt Wulff für sich. Als sich Wulff am 22.12. von Glaeseker trennte, stürzte dieser in ein tiefes Loch. Am Rande schildert Götschenberg, wie Wulff auch später Glaeseker, der nicht mit Ehrensold und Büroausstattung abgesichert ist, fallen lässt.
Ungelöst bleibt die sich dem Leser stellende Frage, warum »Bild« derart hartnäckig insistierte. Was nicht gefragt wird im Buch: Wusste »Bild«, dass die »BW-Bank« erst später die Hausfinanzierung übernommen hatte? Wenn ja, wer hat die Information geliefert? Gab es etwa eine Indiskretion in der »BW-Bank« (die in der Causa VW vs. Porsche eine wichtige Rolle gespielt hatte und Wulff seit dieser Zeit sehr gut bekannt gewesen sein muss)?
Eine Woche später, am 6. Dezember 2011 bekommt »Bild« von Glaeseker den privaten Kreditvertrag über 500.000 Euro zwischen Christian Wulff und Edith Geerkens gezeigt. Glaeseker will ausgehandelt haben, dass »Bild« die Kreditgeberin nicht nennt, »Bild« bestreitet dies später. Am 12. Dezember droht Glaeseker »Bild« »sämtliche Rechtsschutzmöglichkeiten« an, »falls datenschutzrelevante Belange oder Persönlichkeitsrechte durch eine Veröffentlichung verletzt werden sollten.« Aber da hatte man längst Blut gerochen: In der Redaktion stieß man auf die Aussage Wulffs vom 18.2.2010 vor dem niedersächsischen Landtag, in der er jegliche Geschäftsbeziehung zu Egon Geerkens bestritt. Formal hatte zwar Frau Geerkens den Kredit gewährt, aber im weiteren Verlauf der Affäre zeigte sich, dass man richtig vermutete und Egon Geerkens sehr wohl die Fäden in der Hand gehalten hatte.
Götschenberg beschreibt das Kommunikationsverhalten des Bundespräsidenten und des Bundespräsidialamts als eine Kette von Pannen und Katastrophen. Immer wieder verstrickt sich Wulff in kleinere Widersprüche, gibt immer nur das zu, was ihm nachgewiesen kann und/oder lässt sich zu unnötigen Versprechungen hinreißen, die er nicht oder nur wieder mit neuen Komplikationen erfüllen kann. Als er am 4. Januar 2012 im berühmt gewordenen Fernsehinterview volle Transparenz im Internet was die Beantwortung von mehr als 400 Fragen durch seine Anwälte verspricht, dann jedoch nicht zuletzt aus Datenschutzgründen zunächst nur eine Zusammenfassung erscheint, wird ihm dies abermals als »Salamitaktik« ausgelegt. Was die Medien bis zuletzt verschweigen: Die »FAZ«, an vorderster Stelle der Wulff-Kritik, verweigerte die Veröffentlichungen der Fragen und Antworten, die sie betrafen. »Frankfurter Rundschau«, »Berliner Zeitung« und andere Zeitungen der DuMont-Firmengruppe schränkten ihre Zustimmungserklärung ein, »Stern« und »Spiegel« »nahmen einzelne Fragen heraus«. Etliche derer, die »volle Transparenz« einforderten, schraubten hinter den Kulissen am Gegenteil.
Was Wulff auch macht – alles ist falsch. Stellt er sich der Öffentlichkeit in ARD und ZDF beschweren sich Printjournalisten sowie die Privatsender. Sollte der Bundespräsident etwa vor einem »Tribunal« (Götschenberg) gestellt werden? Delegiert Wulff die Sache an Anwälte – um, wie Götschenberg bemerkt – nicht das personell hierfür nicht ausgestattete Bundespräsidialamt mit der Klärung seiner privaten Angelegenheiten zu belasten, wird ihm dies ebenfalls negativ ausgelegt. Aber Götschenberg stellt auch klar: Wulff macht wirklich große Fehler. Als er eine Urlaubsliste vorlegt, fehlt der später entscheidend werdende Urlaub mit David Groenewold auf Sylt. Die verzögerte Publikation im Internet wurde schon erwähnt. Als Kai Diekmann Wulff bittet, die Abschrift seiner Mailbox-Nachricht zu veröffentlichen, verweist der Bundespräsident auf seine Entschuldigung, die Diekmann auch angenommen habe. Damit begeht Wulff den schweren strategischen Fehler, dass sich nun jeder aus den vorsätzlich von »Bild« gestreuten »Indiskretionen« bedienen kann. Wulff manövriert sich selbst für seine Freunde immer mehr ins Abseits. Eine Twitter-Nachricht vom 10. Januar 2012 des damaligen Bundesgeschäftsführers der CDU Peter Altmaier, der Wulff zunächst in diversen Talkshows immer verteidigt hatte, dient Götschenberg als Zeichen: »Wünsche mir, dass Christian seine Anwälte an die Leine legt und die Fragen/Antworten ins Netz stellt«. Von nun an übernahm Peter Hintze, ebenfalls ein Merkel-Vertrauter aber ohne offizielles Amt, in den Medien Wulffs »Verteidigung«. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik wenn am Ende ausgerechnet Peter Hintze, ohne es zu wollen, durch die Veröffentlichung eines Dokuments, welches Wulff entlasten sollte, zum Sargnagel seiner Präsidentschaft wird.
Auslassungen und Ungenauigkeiten
Götschenberg beschreibt die Vorgänge zunächst sehr genau. Irgendwann drohte die mediale Erregung abzuflauen (abermals werden Umfragen, die Wulff eine »zweite Chance« geben wollen, herangezogen). Abstruse »Verwerfungen« werden jetzt herangezogen: Ein geschenktes Bobby-Car etwa oder kostenlos zur Verfügung gestellte Kleider von Designern für Bettina Wulff. Erstaunlich, dass eine Angelegenheit, die nicht so ohne weiteres vom Tisch zu wischen ist, gar nicht im Buch erwähnt wird: Die Maschmeyer-Finanzierung der Werbung des Buches von Hugo Müller-Vogg über und mit Christian Wulff. Eine bemerkenswerte Auslassung.
Und es ist nicht der einzige Kritikpunkt. Die sogenannte Mailbox-Affäre, die zu Beginn des Jahres 2012 die Aufmerksamkeit von der Hausfinanzierung (die medial doch eher unergiebig war) ablöst, wird nicht präzise und leider auch unvollständig rekapituliert. Als Wulff am 12.11.2011 auf Kai Diekmanns Mailbox scheinbar inkriminierende Sätze spricht, die, so die lange gültige Diktion, die Pressefreiheit der Bundesrepublik bedrohten oder mindestens einen Angriff auf diese darstellen sollten, weiß dies Olaf Glaeseker zunächst nicht, wie Götschenberg berichtet. Obwohl Glasekerer Wulff gebeten habe, Diekmann anzurufen – er komme mit »Bild« nicht weiter. Ist es möglich, dass Wulff Glaeseker nichts von seinem Ausbruch am Telefon erzählt hatte? Worum ging es? »Bild« wollte einen Bericht zur Hausfinanzierung Wulffs am nächsten Tag bringen. Wulff war aber auf Staatsbesuch in Kuwait und den arabischen Emiraten. Der Mailverkehr zwischen »Bild« und dem Bundespräsidialamt, den »Bild« später veröffentlicht, zeigt, dass man den Umstand der Reise nicht gelten ließ. Obwohl »Bild« den Darlehensvertrag kannte, setzte man Glaeseker massiv unter Druck; Wortwahl und Duktus der veröffentlichten Fragen lassen zuweilen vermuten, »Bild« sei eine Staatsanwaltschaft. Die Gründe für diesen massiven Druck liegen auf der Hand: »Bild« will als Erster die Geschichte bringen. Mittlerweile sind auch »Spiegel« und »Stern« an der Sache dran und sie verfügen wohl über ähnliche Informationen (auch wenn sie den Vertrag sicherlich nicht kannten). »Bild« steht selber unter Druck. In der Studie »Bild und Wulff – Ziemlich beste Partner« von HansJürgen Arlt und Wolfgang Storz [pdf], die Götschenberg ausführlich zitiert, wird die These aufgestellt, »Bild« sei ein »Getriebener« gewesen und musste sich als erster »Enthüller« präsentieren, da man jahrelang Wulff (und seine Frau) mit einer »Jubelberichterstattung« begleitet habe. »Bild« wäre von anderen Medien gescholten worden, ob dieser »Geschäftsbeziehung« zu Wulff nicht am Ball geblieben zu sein.
In der Logik der Medien mag die Charakterisierung der »getriebenen« »Bild« stimmen. Aber wie sieht es mit der These der »Geschäftsbeziehung« zwischen Wulff und »Bild« aus, die längst überall kanonisiert ist? Dabei weist die Studie von Arlt/Storz nicht nur methodische Mängel auf (die man dort auch durchaus zugibt), sondern blendet elementare Entwicklungen aus. Zum einen werden Artikel von »Bild«, »bild.de« und »Bild am Sonntag« in einen Topf geworfen. Das hängt damit zusammen, dass man sich schlicht dem Archiv von »bild.de« bedient hat. Dort werden alle Artikel der drei Medien subsummiert. Zwar ist dann in den einzelnen Artikeln beim Abruf die Differenz zur »Bild am Sonntag«-Redaktion sichtbar, aber in die Auswertung schaffte es dieser Unterschied nur sehr selten. Ansonsten hätte auffallen müssen, dass »Bild am Sonntag« 2010 mit der Schlagzeile »Yes, we Gauck« explizit Partei für Joachim Gauck als Bundespräsident nahm. So eindeutig war die Unterstützung also nicht. Und nach der »Islam«-Rede Wulffs vom 3. Oktober 2010 waren es sowohl »Bild« wie auch »Bild am Sonntag«, die massiv gegen Wulffs Prämisse, der Islam gehöre inzwischen zu Deutschland, Stimmung machte. Das kann man beispielsweise hier, hier und hier nachlesen. Insbesondere Kritiker aus den Reihen von CDU/CSU – bis hinein in die Fraktionsspitze der CDU – bekamen in »Bild« ein Forum für ihren Widerspruch.
Dies zeigt, dass »Bild« an einen politischen Bundespräsidenten Christian Wulff, der sich progressiv jenseits festgefügter Parteimuster bewegte, nicht interessiert war; Diekmann und seine Redaktion wollten einen Hochglanz-Präsidenten mit aparter Frau und süßen Kindern. Sobald eine für die gängige »Bild« ‑Leserschaft abseitige sozialpolitische These geäußert wurde (die man in der Tat diskutieren kann), schwenkte »Bild« um. Dies tat zunächst der Affinität zum »Glamour«-Wulff keinen Abbruch. Und noch in den Zeiten, als Christian Wulff systematisch angegriffen wurde, lobte man Bettina Wulffs Auftritte im Stile der »Yellow Press«. Diese Doppelzüngigkeit ist viel zu wenig untersucht worden. Interessant ist, dass Wulff diese Unterscheidungen selber vornimmt. Im Rahmen des Interviews mit Ulrich Deppendorf und Bettina Schausten am 4. Januar 2012 kann man anhand seiner Antworten die Persönlichkeitsspaltungen erkennen. Mal redet er als Bundespräsident von sich, dann über sich und schließlich auch als »Privatperson«. Ob bewusst oder nicht betrieb »Bild« sehr lange auch dieses Spiel: Der politische Mensch Wulff mit seinen für CDU-Verhältnisse eher progressiven Ansichten interessierte nur so lange, bis sich dieses Bild im Rahmen einer »Home-Story« vermarkten ließ. Als Wulffs Aussagen politische Konsequenzen hätte zeigen können – der Islam sollte ein gleichrangiger kultureller Bestandteil Deutschlands sein – nahm man Abstand von Wulff.
Mailbox-Affäre – Am Nasenring von »Bild« durch die mediale Arena
Die Kalkulation von »Bild« – aber beileibe nicht nur von »Bild« alleine: Wenn es mehr Ruhm, Auflage oder auch einfach nur Aufmerksamkeit bringt, eine bisher hoffierte Person zu demontieren, dann wird sie eben demontiert. Das ist beileibe kein Markenzeichen von »Springer«; insofern ist der berühmt-berüchtigte Döpfner-Satz vom Fahrstuhl nach oben und nach unten inzwischen längst gängige Journalistenpraxis. Sobald auch nur eine Spore eines Skandals zu entdecken ist, werden informelle Allianzen für null und nichtig erklärt. Der Skandal muss nur tragen, d. h. einer möglichst großen Masse der Bevölkerung als solcher erscheinen. Als die Hausfinanzierung sich (fast) als Rohrkrepierer entwickelte bzw. zu »kompliziert« zu werden drohte, hatte »Bild« längst einen zweiten Pfeil im Köcher: den ominöse Mailbox-Text.
Ob man will oder nicht: Nachträglich zeigt sich die Behandlung dieser Angelegenheit durch »Bild« als Meisterstück machiavellistischen Agierens: Durch geschicktes Taktieren im Hintergrund skandalisierten andere den Vorgang und arbeiten damit für »Bild«. Das Blatt wurde zum »Opfer« deklariert – etwas, was in der gesamten Geschichte der Zeitung noch nie gegeben hatte. Es ist schon ein dreistes Stück, das ausgerechnet die größte Dreckschleuder Deutschlands plötzlich als Gralshüter der Pressefreiheit erschien. Genau das erreichte man, in dem man die Nachricht nicht öffentlich machte, sondern neben einigen, wenigen »Bild« – Redakteuren zwei externen Journalisten ausschnittweise zur Kenntnis gab.
Götschenberg weist darauf hin, dass dies die Aussage von »Bild« ist. Wer die beiden Journalisten waren, gibt man nicht bekannt. Leider begeht der Autor nun eine kleine, erste Ungenauigkeit. Er weist auf einen Artikel der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« vom 31.12.2011 hin, in dem »ein erster Hinweis« mit Zitaten aus der Mailbox-Nachricht gestanden habe. (Am Rande: Es ist schon sehr nervig, dass Götschenberg die Namen der Journalisten immer erst ab Ebene Chefredakteur-Herausgeber-Ressortleiter nennt und damit ein sehr hierarchisches Denken zeigt.) Gemeint ist ein Artikel von Eckart Lohse mit dem Titel »Im Schatten der Wahrheit«. Lohse verwendet etliche der von nun an immer wieder kolportierten Phrasen, die Wulff verwendet haben soll (»endgültiger Bruch«, »Kriegführen«, »Rubikon« überschritten).
Das mit dem »ersten Hinweis« ist jedoch ungenau. Tatsächlich hatte Nils Minkmar in einer »Frühkritik« über eine Günther Jauch-Talkshow bereits am 19.12.2011 geschrieben: »In Journalistenkreisen erzählt man sich von umständlichen, gewundenen Mailboxansagen bei Medienchefs, in denen der Bundespräsident bald drohend, bald bittend noch vor Veröffentlichung interveniert.« Minkmar, der sich zu einem veritablen Wulff-Kritiker entwickelte, erklärte in der ARD-Sendung »Beckmann« vom 12. Januar 2012 etwas nebulös, ihm seien Teile der Mailbox-Nachricht zugespielt worden (dies ist von mir, G. K., aus dem Gedächtnis zitiert). Die Nachfrage Beckmanns, ob es eine schriftliche Version gegeben hatte, verneinte Minkmar. Vielleicht war Nils Minkmar einer der beiden externen Journalisten? Zumindest war er der erste, der diesen Anruf überhaupt erwähnte – freilich derart versteckt, dass kaum jemand darauf reagierte.
Erst die Zitate vom 31.12. von Lohse sorgten für Aufsehen. Insbesondere die »Süddeutsche Zeitung« und der »Spiegel« legten sich ins Zeug. Überall gärte die Befürchtung, Wulff habe die Pressefreiheit angreifen wollen. Nahrung erhält diese Sicht, als auch bekannt wird, dass Wulff Matthias Döpfner angerufen hatte. Als dieser auf die Autonomie der Redaktion hinwies, versuchte Wulff noch Friede Springer zu erreichen. Diesen Versuch, erstmals vom »Cicero« berichtet, erwähnt Götschenberg merkwürdigerweise gar nicht, was doch arg verwundert.
Wulff musste sich nun erklären; der Strom der Vorwürfe hielt an, obwohl kaum jemand den vollständigen Wortlaut von Wulffs Nachricht kannte. Es stand Aussage gegen Aussage als Wulff beteuerte, er habe nicht die Veröffentlichung über die Hausfinanzierung verhindern, sondern nur den Zeitpunkt verschieben wollen. Man sollte, so Wulff über seine Intention, noch einen Tag warten bis er wieder zurück von seiner Reise sei. Diekmann widersprach dieser Darstellung. Es ist bezeichnend, dass man inzwischen eher geneigt war, dem Chefredakteur eines Lügenblatts zu glauben als Christian Wulff, dem amtierenden Bundespräsidenten. Dass sich die Koordinaten hier zu Gunsten »Bild« verschoben hatten, spricht Bände für den praktizierten blinden Meutenjournalismus in der Wulff-Affäre.
Mit großer Geste offerierte Diekmann schließlich, er wolle die Nachricht veröffentlichen, aber nur, wenn Wulff dem zustimme. Nach einiger Überlegung lehnte er ab, was Götschenberg damit begründet, dass Wulff nicht mehr genau wusste, was er tatsächlich gesagt hatte. Offiziell bemühte er ein sehr kurzes Gespräch, in dem Wulff sich bei Diekmann entschuldigt hatte. Dieser hatte die Entschuldigung angenommen. Damit war, so Wulff, die Sache erledigt. Aber Wulff rechnete nicht mit der strategischen Schläue Diekmanns. Dieser setzte den nur im Ungefähren kreisenden Text als Waffe gegen Wulff ein. Unvergessen für mich in diesem Zusammenhang der Auftritt von Mascolo (»Spiegel« ) und Blome (»Bild« ) in der ARD-Sendung »Günther Jauch« vom 8. Januar 2012, in der sich Mascolo vor der Kamera die Zitate aus dem Wutanruf Wulffs von Blome beglaubigen lässt – die einzige Quelle des »Spiegel« war das gefilterte Material von »Bild« (selbstverständlich folgten auch einige pflichtschuldig-distanzierende Sätze Mascolos, aber da war der Köder schon gefressen).
»Bild« führte die sogenannten Leitmedien am Nasenring durch die mediale Arena, stellte sich als »Opfer« dar und wühlte weiter. Arlt/Storz weisen darauf hin, dass Wulffs »Verwerfungen« sich in der »Jubel-Phase« der »Bild«-Berichterstattung ereignet hatten. »Bild« wird Heuchelei vorgeworfen – ein Vorwurf, der durchaus gerechtfertigt ist, aber auch reichlich banal. Schließlich recherchieren Journalisten immer Ereignisse aus der Vergangenheit und dass sie zum Zeitpunkt ihrer vielleicht positiven Berichterstattung von bestimmten Sachverhalten keine Kenntnis hatten, darf sie nachher nicht davon abhalten, diese zu erforschen. Die Heuchelei der »Bild« liegt nicht darin, dass sie gegen Wulff recherchiert hat, sondern wie sie ihre Sicht der Dinge anderen Medien gegenüber präsentiert hat. Der Skandal ist dann, wie sich die Journalisten dieser Medien von »Bild« zu willigen Handlangern instrumentalisierten ließen.
Wulff, der waidwunde Präsident
Längst hatte sich die Angelegenheit derart entwickelt, dass Wulff, der waidwunde Präsident, nicht mehr »davonkommen« durfte. Warum und wie es schließlich dazu kam beschreibt Götschenberg anschaulich: am Ende stürzte Wulff über ein paar Hundert Euro Hotelkosten anlässlich eines Sylt-Urlaubs. Nicht ganz ausgegoren ist das Kapitel, wenn der mediale Druck auf die Justiz abgesprochen wird, wie man überhaupt zwischenzeitlich das Gefühl eines eher »sanft« recherchierten und geschriebenen Buches hat, in dem Götschenberg zwar eine übermäßige und gelegentlich übermotivierte Berichterstattung contra Wulff thematisieren möchte und gleichzeitig betont, wie Wulff durch desaströses Management und schwere strategische Fehler selber zu seinem Sturz beitrug. Bei allen Quellen, die Götschenberg gehabt haben mag (und die alle anonym bleiben) – von »Bild« scheint niemand dabei gewesen zu sein. So fällt seine Recherche zur Rolle von »Bild« eher mager aus. Und während er die Schriftergüsse von Bettina Wulff mit durchaus spitzen Fingern zitiert, erwähnt er noch nicht einmal, dass der Text der Mailbox-Nachricht anscheinend seit Dezember 2012 vorliegt (in bzw. zu einem Kunstwerk verarbeitet). Wenn dieser Text der Realität entspricht, dann kann Kai Diekmann als Lügner bezeichnet werden, als er behauptete, Wulff habe die Veröffentlichung der Recherchen generell untersagen wollen. Vielleicht glaubte Wulff, dass auch die ehrabschneidenden Gerüchte um Bettina Wulffs Vergangenheit Gegenstand der »Bild« ‑Untersuchungen gewesen seien – dies kann man aus zwei Passagen durchaus herauslesen. Dann erscheinen die rechtlichen Drohungen und die martialische Sprache durchaus in einem anderen Licht.
Aber wie hat sich die Politik verhalten? Götschenberg schreibt, dass Wulff häufig mit Angela Merkel in Kontakt war. Sie soll bis zum Schluss an einer Fortsetzung seiner Präsidentschaft interessiert gewesen sein. Nicht zuletzt deshalb, weil sie nach Horst Köhler nicht schon wieder einen Kandidaten habe »verschleißen« wollte. Sie habe mit ihren öffentlichen Äußerungen zu Wulff mehrfach die Distanz verlassen, die man gemeinhin zwischen zwei »Verfassungsorganen« erwarte, so Götschenberg. Wenn das stimmt, dann erübrigt sich aber seine Kritik, die »Politik« habe Wulff nicht ausreichend beigestanden. Und: Was ist ein Bundespräsident am Ende als moralische Instanz wert, wenn er der permanenten Unterstützung diverser Fraktions- oder Regierungssprecher bedarf?
Am Ende stünde Christian Wulff nach »dreißig Jahren in der Politik« vor einem Trümmerfeld, so lautet der letzte Satz in diesem Buch. Aber es ist nicht nur der »Ehrensold«, der mein Mitleid hierfür in engen Grenzen hält. Und doch bleibt ein sehr schaler Nachgeschmack, was die einzelnen Erregungsstufen in den Medien angeht. Man hat nach dem Buch mehr als vorher den Eindruck, dass es am Ende gar nicht mehr um Wulff oder dessen Verhalten ging. Es war längst ein Machtspiel geworden, das Wulff nicht zuletzt aufgrund seines verkorksten Krisenmanagements nicht gewinnen konnte. Journalisten erprobten ihre Muskeln. Nur scheinbar hat es den richtigen Sieger gegeben, zumal die »Transparenz«, die die Journalisten von Wulff einforderten für sich selber – wie immer – nicht galt. Das wurde natürlich nicht thematisiert – zu eng waren die Spielchen über Bande zwischen »Bild«, »Frankfurter Allgemeine«-Gruppe, »SZ«, »Stern« und »Spiegel«. Nur ganz selten wurde dieses Verhalten damals generell befragt, wie etwa bei Stefan Niggemeier hier und hier.
Götschenbergs Buch bemüht sich um eine neutrale Darstellung, was hinsichtlich Wulffs kurzer Amtszeit durchaus gelingt. Aber als Medienkritik taugt das Buch nur begrenzt; am Ende scheint der Autor zu stark im Betrieb verankert. Andere Kritikpunkte wurden schon vorgebracht. Am Ende gibt es nicht einmal ein Literaturverzeichnis; der Leser muss sich die Artikel mühsam selber aus dem Internet heraussaugen.
Die Wahrheit ist zumutbar? Sie ist viel zu mühselig! (Wenn sie nicht sowieso immer schon nur eine Version, d.h. Teil des Desinformation d.h. der Fiktion ist.)
So notwendig das Nachrecherchieren wohl ist, am Ende ist es doch nie vollständig genug, um die unbefriedigt bleibende Beschäftigung damit aufzuwiegen (selbst wenn einem das bewusst ist, bleibt es frustrierend).
Auch hier könnte man den Ransmayr-Satz anbringen: Geschichte ereignet sich nicht, sie wird erzählt. (Insofern kann ich selber dann auch wieder meinen Frieden damit machen: Hat sie, »die [neuere] Wahrheit« mich wenigstens unterhalten?)
Aber seit Jahren habe ich auch diesen Satz im Kopf (ich weiß nicht von wem er ursprünglich ist): Wer sich in die Öffentlichkeit begibt kommt darin um.
Obwohl oder weil jeder weiß, wie es eben kompliziert ist, wird kaum jemand das in Anwendung bringen und verlangt also doch verständliche, d.h. einfache Lösungen. Nicht mal unserer Nachrichtenlagen, unseres »Wissens« werden wir Herr.
Ich neige immer mehr der Sloterdijk-Theorie der identitätsstiftenden »Erregungsgemeinschaften« zu. Nur noch in der Hyperventilation entwickeln wir ein »wir«.Ob der Skandal nun ein nicht gegebener Elfmeter ist, falsch deklarierte Lebensmittel oder ein unsensibler Bundespräsident. Interessant, dass die Laufzeit eines Skandals immer kürzer wird. Insofern wird der Nachblick auf die sogenannten Affären, die sich länger gehalten haben, schon interessant. Bei Wulff ging es Mitte November mit dem Hauskredit los. Kurz nach Weihnachten wurde dann die Mailbox-Nachricht thematisiert. Das dauerte bis etwa Mitte Januar. Danach wusste man nicht so recht, wie es weiterging, bis dann schließlich der Sylt-Urlaub dran war.
Nachträglich habe ich fast immer das Gefühl, einer eher schlechten Theateraufführung zugeschaut zu haben. Ich bewerte dann auch meine Blog-Beiträge durchaus kritisch. Im vorliegenden Fall war mir von Anfang an das Verhalten von »Bild« und das blinde Draufstürzen der anderen Medien suspekt. Eben ganz schlechtes Theater, was aber in der Dauerberieselung, der ich mich dann doch aussetze, merkwürdigerweise nicht immer aufscheint.
Ich finde, man müßte auch einen Blog gründen, der die Untiefen von Journalisten und deren Bigotterie thematisiert.