Vor drei Jahren erschien Michel Houellebecqs Roman »Serotonin«. Er handelte, kurz zusammengefasst, von Florent, einem sich als Versager empfindenden Mann von 46 Jahren, der in seiner Midlife-Crisis Stationen seines bisherigen Lebens aufsuchte (hauptsächlich Menschen), um sich am Ende in seine selbsthasserfüllten Dystopien einzurichten. Der Roman – sicherlich einer der schwächeren von Houellebecq – lebt von der bisweilen provokativen Zurschaustellung politisch inkorrekter oder besonders pointiert vorgebrachter Thesen seines Protagonisten, der verzweifelt auf der Suche nach einer Nische, einem Glück in dieser Welt zu sein scheint. Dies wird mit der flapsigen Parolen übertüncht, was für die Garde der meisten Houellebecq-Gegner genügt, um ihr Mütchen zu kühlen. Der fast flehentliche Romantizismus der Hauptfigur, der sich beispielsweise im gemeinsamen Freitod der Eltern zeigt (weil einer von ihnen unheilbar an einem Tumor erkrankt ist), wird dabei leicht überlesen.
Nach dem fulminanten Political-Fiction-Roman »Unterwerfung« fiel »Serotonin« vor allem deshalb ab, weil Houellebecq wieder teilweise in seinen seichten Provokationsstil verfallen war. Der neue Roman »Vernichten« (übersetzt von Stephan Kleiner und Bernhard Wilczek), der wieder einmal Anfang Januar wie eine Art verspätetes Weihnachtsgeschenk in die Literaturblase injiziert wird, hat außer ein paar typische Houellebecqiaden wenig mit dem Vorgänger zu tun.
Es ist der 23. November 2026, als Bastien Doutremont, ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes DGSI über mehrere mysteriöse Videos brütet, die zum Teil den Internet-Verkehr überschwemmen. Eines davon zeigt die Guilletonierung des französischen Finanzministers Bruno Juge derart echt, dass man rätselt, wie diese Qualität erreicht wurde, denn in Wirklichkeit ist dieser quicklebendig. Die anderen Videos zeigen eine Aneinanderreihung geometrischer Symbole und einen Eisenbahntunnel.
Der Roman beginnt mit einer Täuschung. Denn die Figur Doutrement kommt im weiteren Verlauf des Romans nur dann ins Spiel, wenn es neue Videos gibt, die diesmal reale terroristische Anschläge auf Handelsschiffe oder eine dänische Samenbank zeigen. Der letzte Angriff, der wieder viral geht, ist auf ein Flüchtlingsschiff. Hier sterben 500 Menschen, was zu einer beispiellosen, weltweiten Solidarität führt.
Aber diese Thriller-Elemente kann man getrost vergessen; nicht zuletzt deswegen, weil es der Autor ebenso handhabt. Denn die Geschichte von Satanisten, Nihilisten, Ökofaschisten oder »Anarcho-Primitivisten«, die für die Aktionen verantwortlich gemacht werden, wird nicht weitergeführt. Houellebecq ist nicht Dan Brown. Der Leser wird nie erfahren, ob die Theorien des Nerd im schmutzigen Trainingsanzug über den nächsten Anschlag zutreffen. Aber immerhin gibt es schöne Graphiken dazu.
Im Ministerkabinett
Im Zentrum von »Vernichten« steht der 49jährige Beamte Paul Raison. Er arbeitet im Ministerkabinett des Finanzministers, jenem Mann, der virtuell geköpft wurde; ist dessen rechte Hand. Paul ist Absolvent einer Eliteuniversität, aber bezeichnet sich selber nicht als Intellektuellen (was im weiteren Verlauf des Romans deutlich wird). Bruno und Paul duzen sich seit einigen Jahren; die Wege des Kennenlernens und Näherkommens werden ausgiebig erzählt. Die Beziehung mit seinem Chef ist die einer respektvollen Freundschaft. Der Minister ist ein Arbeitstier und dabei überraschend uneitel. (Inwieweit er dem amtierenden Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire nachempfunden ist – einem Freund Houellebecqs – ist eher unwichtig). Die Tatsache, dass er nach dem Video unter besonderem Schutz steht, nutzt er dafür, im Ministerium auch zu wohnen, was ihm entgegenkommt, denn um die Ehe steht es schlecht, was ihn nicht besonders betrübt. Er ist mit dem Ministerium und seinen Akten verheiratet. Seine Beziehung zum fast hymnisch beschriebenen Präsidenten (zeithistorisch betrachtet muss es Macron sein, obwohl der Name nie fällt), der am Ende seiner zweiten Amtszeit steht und demzufolge nicht mehr antreten kann, wird als recht gut bezeichnet.
Den vollständigen Text »Positive Erkenntnis« bei Glanz und Elend lesen.
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Es ist eine klasse Rezension (die ich direkt unter ihr leider nicht, hm, nun jà, Netz halt, »liken« kann). Danke. (Und das schreibt einer, der Houellebecqs schon stilistisch nicht ausstehen kann, vor allem aber seinen, wie auch immer nun anscheinend »milde« gewordenen, Nihilismus ablehnt und den seine auf mich stets pubertärmachistisch wirkenden Provokartionen schlichtweg langweilen, vor allem literarästhetisch. Aber Sie deuten ja auch an, daß er kein literarischer Autor sei.)
Das Problem bei einer solch umfassenden, derart genau den Inhalt referierenden Rezension ist allerdings, daß ich nun glaube, Houellebecqs Buch bereits zu kennen – eine Art »Reader’s Digest«-Effekt -, so daß ich nun abermals einen Bogen darum zu beschreiten ... drüberwegsteigen hingegen, das wiederum wird Ihres Textes halber deutlich, läßt es sich nicht mehr.
Die Aussage, dass man nach meinen Texten das Buch nicht mehr lesen muss, höre ich zu oft, als dass ich sie wegwischen könnte. Dennoch: Ich habe nicht den Inhalt genau referiert oder wiedergegeben; ich habe durchaus Stränge ausgelassen und garniere meine These(n) mit ausgewählten Zitaten.
Was ich in der Tat bei einem Roman wie dem von Houellebecq vermeide, sind schlagworthafte Formulierungen, wie sie sich im Feuilleton dann ganz gut machen und von den Verlagen gerne auf ihren Webseiten zitiert werden (ich werde – nicht nur aber auch deshalb – kaum zitiert; Rezensionen der »Kieler Nachrichten« oder ähnlicher Presseerzeugnisse bekommen mehr Aufmerksamkeit).
Ohne auch nur einen Feuilleton-Text zu »Vernichten« gelesen zu haben (nur die Teaser), so war mir schon während der Lektüre klar, dass die Balzac-Vergleiche kommen werden, dass man den »Reaktionär« erwähnen würde. Die Kritiker können nicht anders – sie müssen diese Vergleiche heranziehen, um dem Leser, der zwei oder drei Bücher im Jahr liest, eine Art von Legitimation für den Kauf zu geben. Der kann dann bei seinen Freunden mit dem »Balzac des 21. Jahrhunderts« angeben. Ohne freilich, dass das Gegenüber eine Vorstellung davon haben muss.
Noch ein ergänzender Hinweis zum „Vernichten“:
„[…]–, das Schlimmste war: Sollten die Terroristen vorhaben, die Welt, wie er sie kannte, zu vernichten, die moderne Welt zu vernichten, dann könnte er ihnen das nicht einmal wirklich zum Vorwurf machen.“ (263)
Dann noch eine Korinthe: „Europa“ kommt schon gelegentlich vor, halt eher nebensächlich bzw. herablassend.
Julia Encke in der FAS würde ich gerne vom Feu-Bashing ausgenommen sehen.
Aber: Chapeau für den Text.
@ JL
Zunächst einmal: Schön, von Ihnen wieder zu hören.
Die Stelle, die Sie zitieren, ist in der Tat wichtig. Sie ist mir irgendwie »durchgerutscht«. Vielen Dank.
Natürlich kommt die EU vor, aber eben als absolute, zu vernachlässigende Nebensache. Man könnte übrigens auch etliche Stellen herbeiholen, in den Houellebecq den überstarken Drang Frankreichs, sich als autonom oder gar Weltmacht zu definieren, angreift. Etwa, wenn Bruno Juge glaubt, aus dem Handelskrieg USA/China Vorteile zu ziehen. Eben hier zeigt sich, dass die EU keine Rolle mehr spielt, denn ein solcher Handelskrieg hätte Auswirkungen auf die Union.
Enckes Text kenne ich (noch) nicht. Sie hatte ja vor einiger Zeit ein kenntnisreiches Buch über ihn verfasst.
Ich habe die Bemerkung über den Erzähler noch einmal heraus gesucht: »Paul sucht Ablenkung, er will Geschichten, keine Poesie. Und das ist es, was Michel Houellebecq bietet. Auch er ist kein literarischer Erzähler, war es nie. Er ist ein Geschichtenerzähler, Chronist einer Epoche, ein Aufzeiger gesellschaftlicher Entwicklungen – mit dem Hang zur Dystopie. Seine Figuren sind – ob Loser oder Oberschicht – à la longue an der Moderne und ihren Anforderungen gescheitert, was nicht (nur) an ihnen liegt, sondern (auch) an der Gesellschaft, deren hedonistische Imperative er (bzw. die Figuren) nicht befürwortet. Im Gegenteil: Die Personen bei Houellebecq sind gehemmt durch ökonomische und gesellschaftliche Normierungen, die ihrer freien Entwicklung der Persönlichkeit entgegenstehen.«
Es stimmt, Houellebecq formuliert eine nicht-linke Kritik, aber er glaubt nicht an die Besserung. [Gute Frage: Glaubt die Linke daran?! Warum sind dann so aggressiv?!] Entscheidend für die Literatur, die Politik und das Leben ist das Entwicklungsmotiv, denn ohne Ambition oder Hoffnung sind wir ein Fall für die Würmer. Es ist nicht leicht, das Diktum vom Verfall (Deklinismus) wegzuwischen, denn in der Tat scheint es eine allgemeine »Blockade« zu geben, wonach niemand mehr dort ankommt, wo er/sie eigentlich hin sollte (Wahrnehmung der Anderen). Die Entwicklung der vergesellschafteten Menschen wird von Trugbildern des Hedonismus und der »Authentizität« umlagert, aber die Maschinerie ist unbarmherzig, und man spürt, dass diese hochfliegenden Selbstentwürfe nicht unbedingt eingeplant sind. Der Westen wird von einer Utopie begleitet, stimmt, einer richtigen und einer mörderisch-falschen Utopie, aber was wenn niemand mehr »ankommt« (Topos), und sich dieser Ort vielleicht schon zu unseren Lebzeiten als Legende entpuppt?! Ich denke, darum geht es bei H.
@die_kalte_Sophie
Schöne Interpretation. Houellebecqs Diagnose ist dezidiert »links«. Die Hoffnung ist bei ihm aber nicht in einer ökonomischen Utopie zu finden (das wäre ja die Chance gewesen in diesem Roman – bei dem Minister!), sondern liegt bei ihm in der eigentlich altmodischen Idee von Gemeinschaft, Ehe, Familie – vor allem aber: Liebe. Das macht ihn in den Augen seiner Kritiker zum Reaktionär. (Er gibt dem Affen auch immer wieder Zucker, aber das ist ein anderes Thema.)
Der Mensch ist aber dem Schicksal ausgeliefert. Man mag nicht zählen, wie oft in seinen Romanen geliebte Personen an Krankheiten versterben bzw. sich deshalb das Leben nehmen. Neben dem Romantiker ist Houellebecq auch ein moderner »Tragiker«, wobei dies ja nicht immer weit auseinanderliegt.
Seine Romane empfinde ich immer als typische Plot-Geschichten. Sprachlich sind nicht direkt trivial, aber doch eher mittelmäßig. Sie leben von der inneren Spannung und Unberechenbarkeit ihrer Figuren und dem, was ihnen zustößt. Was ich ihm anrechne ist, dass er seine Gesellschafts- bzw. Systemkritik ohne jeglichen Moralismus und, fast genauso wichtig, zwischen den Zeilen setzt und jeglichen Pamphletismus vermeidet. (Ob er dazu intellektuell in der Lage wäre – das ist die Frage.)