Die vornehmliche Haltung des aktuellen Lesers der Bücher von Ernst Jünger in der moralgetränkten (literarischen) Öffentlichkeit ist gebeugt, die Lektüre erfolgt vorzugsweise versteckt, das Reden darüber flüsternd, in stetiger Abgrenzung sowohl gegen Beschimpfungen wie auch unwillkommenen Umarmungen begriffen. In der Nische zwischen einer im Brustton der Unkenntnis vorgebrachten Ablehnungskamarilla und leidlichen, politisch motivierten Vereinnahmungen befindet sich der Jünger-Rezipient in ständiger Achtsamkeit. Wer sicher gehen will, liest lieber Remarque, Im Westen nichts Neues. Dabei erscheint es wie ein Witz, dass Remarque einst die Stahlgewitter, jene literarisierte Form der Kriegstagebücher des Leutnants Jünger aus dem Ersten Weltkrieg, als »präzise, ernst, stark und gewaltig« lobte und eine »wohltuende Sachlichkeit« herausstellte. Aber wer weiß das schon? Beziehungsweise: Wer will das wissen?
Und dann liest man plötzlich so etwas:
- »Ernst Jüngers Kriegstagebücher liefern vielleicht den besten und ehrlichsten Beweis für die Schwierigkeiten, denen das Individuum ausgesetzt ist, wenn es seine moralischen Wertvorstellungen und seinen Wahrheitsbegriff ungebrochen in einer Welt erhalten möchte, in der Wahrheit und Moral jeglichen erkennbaren Ausdruck verloren haben. Trotz des unleugbaren Einflusses, den Jüngers frühe Arbeiten auf bestimmte Mitglieder der nazistischen Intelligenz ausübten, war er vom ersten bis zum letzten Tag des Regimes ein aktiver Nazi-Gegner und bewies damit, daß der etwas altmodische Ehrbegriff, der einst im preußischen Offizierskorps geläufig war, für individuellen Widerstand völlig ausreichte.«
Gemeint sind die 1942 bzw. 1949 veröffentlichten Tagebücher von Ernst Jünger mit dem Titel Strahlungen. Sie entstanden zwischen 1939 und 1948 (die Notizen zwischen 1939 und 1940 wurden 1942 unter dem Titel Gärten und Straßen publiziert). Ernst Jünger war im Zweiten Weltkrieg als Hauptmann in der Wehrmacht tätig; von 1941–44 im Stab des Militärbefehlshabers von Frankreich in Paris.
Angenehm temperiertes Aufsehen
Die Einschätzung aus den Tagebücher heraus getroffen ist – und das dürfte viele erstaunen – von Hannah Arendt. Es findet sich in dem Buch Die Archive des Chronisten des Literaturwissenschaftlers Detlev Schöttker, das unlängst im Wallstein-Verlag erschienen ist. Auf der Tagung der Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellschaft in Bad Saulgau vom 11.–13.4. mit Schwerpunkt »Kälte und Empathie bei den Brüdern Jünger« sorgte es auf dem Diskussionspanel über Schöttkers’ Buch (unter Moderation des FAZ-Korrespondenten Michael Martens) für angenehm temperiertes Aufsehen. Selbst Helmuth Kiesel war es nicht bekannt. Der anwesende Heidegger-Exeget Peter Trawny wusste zwar, dass sich Arendt mit Jünger befasst hatte, kannte diese Stelle jedoch auch nicht. Detlev Schöttker konnte zu den Umständen des Fundstücks nicht befragt werden, da er die Einladung aufgrund einer kurzfristigen Erkrankung absagen musste. Als Quelle wird im Buch etwas lapidar »Hannah Arendt, Besuch in Deutschland. Berlin 1993 (zuerst 1950), S. 47« angegeben. Des Weiteren heißt es, über Jüngers »Ablehnung des NS-Regimes« sei Arendt während eines Besuchs bei Karl Jaspers »informiert worden.«
Der Aufsatz von Hannah Arendt ist im Oktober 1950 im amerikanischen Magazin Commentary unter dem Titel The Aftermath of Nazi Rule: Report from Germany erschienen und kann auf der Webseite des Magazins nachgelesen werden (was Schöttker nicht als Möglichkeit anbietet). Man muss konstatieren, dass Arendts Aussagen zu Jünger nicht nur auf Information, sondern auf Lektüre beruhten. So zitiert sie aus den Strahlungen, bevor sie ihr Urteil abgibt. Eine Stelle ist die Eintragung vom 16. Februar 1942, als Jünger auf Urlaub in Burgdorf eine Unterhaltung mit einem Frisör wiedergibt, der bemerkt, dass die russischen Kriegsgefangenen den Hunden das Futter »wegfressen« würden (Zitat des Frisörs). Jüngers Bemerkung »Oft hat man den Eindruck, daß der deutsche Bürger vom Teufel geritten wird« übersetzt Arendt drastischer mit: »One often has the impression that the German middle classes are possessed by the devil.«
Ist dieser Fund der Höhepunkt des Buches? Schöttker beginnt Die Archive des Chronisten damit, wie Jünger »Tagebücher, Schriften und Korrespondenzen …als Grundlagen eines dokumentarisch-chronistischen Projekts zu Leben, Werk und Zeit« verwendet hat. Aber die Vergleiche etwa mit Kempowskis Echolot, die multiperspektivische und kollektiven Zeitgenossenschaft bietet (unter anderem mit Auszügen aus Jüngers Strahlungen), Uwe Johnsons Jahrestage oder Alexander Kluges Chronik der Gefühle greifen aus verschiedenen Gründen fehl. Die Strahlungen sind eben keine »Einblicke in die Zeitgeschichte«, sondern ortsgebundene, höchst subjektive Beschreibungen und Reflexionen. Und spätestens seit der 2022 herausgebrachten historisch-kritischen Ausgabe ist klar, das Jünger nachträglich an den Aufzeichnungen gefeilt, gestrichen und sie ergänzt hat (und dann einige Korrekturen wieder verwarf). Das später publizierte ist nicht per se das Resultat spontaner Eingaben, die den ersten Affekt wiedergeben. Manchmal war es nur ein Satz, der wie eine Bilanz eingefügt wurde und das Geschriebene bisweilen in einen Aphorismus abgleiten lässt. Einiges diente der Korrektur oder anderer Einsichten, die sich nachträglich ergeben hatten. Schöttker erkennt dies natürlich auch, macht bisweilen einen Hang zur Selbststilisierung Jüngers hin zu »einem komplexen autofiktionalen Selbstporträt« aus, scheint dies aber als eher vernachlässigbar einzustufen. Als Spiegel der Zeit sind sie also nicht tauglich. Aber warum sie auch für »die Biografie Jüngers« nur »bedingt geeignet« erscheinen sollen, bleibt ungeklärt.
Der zweite Fund
Besonders haben es Schöttker die Briefe bzw. die Briefwechsel angetan. Das Konvolut der Jünger-Briefe, dass 1996 vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach erworben wurde, umfasst »etwa 90.000 Schreiben an ihn und etwa 40.000 von ihm in Abschriften oder Durchschriften«. Dazu kommen »etwa 13.000 Briefe von Jünger in anderen Autoren-Nachlässen«. Eine systematische Erfassung und Archivierung fand bisher nicht statt. Literaturwissenschaftler müssen sich nach ihren jeweiligen Schwerpunkten auf die Suche begeben. Schöttker hatte in der Vergangenheit unter anderem Jüngers Briefwechsel mit Gershom Sholem und Dolf Steinberger und eine Auswahl der Briefe mit seiner Frau Gretha, die er im neuen Buch zu einer Art Korrespondentin des Luftkriegs macht, herausgegeben. Hinzu kommt ein Band über die Korrespondenz mit dem Auschwitz-Überlebenden und Holocaustforscher Joseph Wulf, der Jünger immer wieder bewegen wollte, »sich öffentlich für sein Anliegen, die Aufklärung über der NS-Vergangenheit« zu bewegen, herausgegeben. Wulf verehrte Jünger, war aber in seiner Wissenschaftszunft eher Außenseiter. Jünger wich aus und Schöttker stellt fest: »Das öffentliche Eintreten für Wulf aufseiten Jüngers war dagegen nicht der Rede wert.«
Der umfangreichste Teil der Briefe dürfte die Korrespondenz der Brüder Ernst und Friedrich Georg untereinander sein. Es wurde erzählt, dass 2027 eine Auswahl erscheinen soll. Schöttker liefert auch hier einen Appetizer, in dem er aus einem konfrontativ-verzweifelten Brief von Friedrich Georg an seinen Bruder vom 16. Februar 1962 zitiert. Ernst hatte sich überraschend entschlossen, knapp anderthalb Jahre nach dem Tod von Gretha die Archivarin Liselotte Lohrer zu heiraten und der Bruder sieht nun einen Interessenkonflikt zwischen der neu zugedachten Aufgabe Liselottes, das Archiv von Ernst zu betreuen und ihrer Rolle als Ehefrau. Vermutlich sorgte er sich um die Intimität der Korrespondenz mit seinem Bruder. Die bisher gängige Meinung, das Verhältnis der beiden Brüder sei ungetrübt gewesen, wird hier relativiert, denn das Briefzitat lässt zumindest die Androhung der Aufkündigung des Dialogs erahnen. Auch das wäre eine Neuigkeit, wie man in Bad Saulgau feststellte, wobei man allerdings die eher nebulöse Behandlung durch Schöttker kritisierte.
Die Suche nach Entlastung
Im weiteren Verlauf des Buches referiert Schöttker aus Jüngers Archiv über den umfangreichen Apparat der Intellektuellen, mit denen Jünger in Verbindung stand. Man ist über das breite Spektrum der Persönlichkeiten überrascht, die Jünger ungeachtet seiner politischen (im Laufe der Jahrzehnte durchaus wechselvollen) Ansichten schätzte – und vice versa. Da ist etwa der expressionistische Maler Rudolf Schlichter, der nicht nur Jünger portraitierte, sondern auch einmal in ziemlicher Not vor den Nazis eine Art Zeugnis erbat und bekam. Oder der Bolschewist Ernst Niekisch, für den sich Jünger auch einsetzte. Die Freundschaften mit weltanschaulich konträr eingestellten Persönlichkeiten waren häufig inniger und dauerhafter als jene mit zeitweiligen Gesinnungsfreunden (wie etwa Carl Schmitt).
Jünger zog früh etwa auch Walter Benjamin an, was Schöttker rekonstruiert. 1977 verarbeitete er dann seine Benjamin-Lektüre im Roman Eumeswil, wie es heißt, »verdeckt«. Die spanische Ausgabe der Stahlgewitter faszinierte den argentinischen Autor Jose Louis Borges, wie dieser Jünger bei einem Besuch Jahrzehnte später 1982 erzählte. Insgesamt war Jünger trotz des von den Alliierten bis 1949 verhängten Publikationsverbots zunächst ein bekannter und auch geschätzter Autor. Etwas übereifrig versucht Schöttker dies auf die literarische Szene der ab den 1950er Jahren dominierenden Protagonisten der Gruppe 47 auszuweiten, die offiziell Personen wie Friedrich Sieburg oder Jünger eher ächteten. Die meisten hätten allerdings, so die These, Jünger wenn nicht verehrt, so doch mindestens geschätzt, hätten sich aber nicht getraut. Alfred Andersch sei der einzige, der seine Sympathie öffentlich geäußert hätte; von Wolfdietrich Schnurre ist ein Satz überliefert. Schöttker streift die Beschäftigung von Hans Blumenberg mit Jünger, der zwar schwer enttäuscht von Heliopolis war (»in peinlicher Weise mißlungen«), später aber erneut Zugang über die Siebzig verweht-Tagebücher fand und einen grandiosen Text zum 100. Geburtstag in der NZZ schrieb. Bei Blumenberg kann man übrigens Thomas Manns Lob auf Jünger vom 10. Oktober 1945 lesen. Er nennt ihn ein »außergewöhnliches literarisches Talent, das weitaus bedeutendste im heutigen Deutschland« woran die Tatsache, dass er »ein Wegbereiter des Nazismus« gewesen sei und »ein eiskalter Genießer des Barbarismus« nichts ändere. Dieses Zitat findet sich laut Blumenberg im Brief von Thomas Mann an Friedrich Krause. Wesentlich bekannter ist die Formulierung, die Schöttker zitiert. Am 10. Dezember 1945 schreibt Thomas Mann an Agnes E. Meyer, Jünger sei ein »eiskalter Genüssling des Barbarismus« gewesen. Letzteres hat sich verbreitet; die lobenden Worte an Krause nicht.
Je näher der Autor in die Gegenwart rückt und dort Jünger-Apologeten sucht, umso dünner wird die Suppe. Dass sich mit Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser drei prominente Autoren zu Jünger bekannt hätten, ist eine kühne These. Ja, Grass hat 1999 eine kleine, fiktive Szene mit Jünger, Remarque und ihm in Mein Jahrhundert geschrieben. Und Enzensbergers »Es war mir lieber, Jünger aus der Ferne zu bewundern« lese ich eher als eine typisch ironische Volte von HME. Neben Walser wird auch ein Lob von Unseld erwähnt (was seit einigen Tagen vielleicht nicht mehr ganz so opportun scheint).
Ausführlicher geht der Autor auf Bernward Vesper ein und interpretiert das unvollendete Romanmanuskript Die Reise, welches Vesper als »Logbuch« bezeichnet hatte, als Anlehnung an Jünger. Als »letzten Verehrer« macht Schöttker schließlich den 1995 verstorbenen Heiner Müller aus. Die Affinität Müllers zu Jünger ist unstrittig. Die Reflexionen aus Alexander Kluges Fernsehkosmos im Rahmen des dctp-Sendungen erwähnt Schöttker nicht.
Lesenswert ist Schöttkers Buch auch dahingehend, wenn er Jüngers Spätwerk analysiert und ihn zum »neuen Herodot der Zukunft« ausruft.
Kälte und Wärme – und ein anderer Lethen-Text
Auf dem Panel der Tagung der Jünger-Gesellschaft spielten die Exkulpationen Schöttkers keine Rolle. Allzu stark wollte man mit dem abwesenden Autor nicht ins Gericht gehen. Zudem traf sein Buch nicht ganz das Thema »Kälte und Empathie«. Der Fokus lag hier einerseits auf In Stahlgewittern, andererseits auf Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte, in dem überraschenderweise die Stahlgewitter kaum vorkommen und stattdessen vor allem Jüngers Schrift Der Arbeiter untersucht wird. Peter Trawny erklärte, warum Lethens Kältediagnose nicht per se als negativ betrachtet werden muss. Matthias Schöning und Thomas Nehrlich machten deutlich, dass »Kälte«- bzw. »Wärme«-Zuschreibungen keine literarischen Kriterien sind und sich beides in den Stahlgewittern findet: Zum einen der berühmte kalte Blick, der das Geschehen auf dem Schlachtfeld fast dokumentaristisch erfasst, zum anderen der heutzutage befremdliche, heiße »Blutrausch« des Ich-Erzählers bei Angriffen. Und natürlich wurde jene Stelle zitiert, in der Jünger im Angriff auf einen verwundeten englischen Offizier stößt und ihm in Tötungsabsicht die Pistole an die Schläfe hält. Als dieser ihn eine Fotografie mit Frau und seinen Kindern zeigt, lässt Jünger ab und prescht weiter nach vorne. Hier versagen die Dichotomien »kalt« und »heiß« vollständig.
Immerhin beschäftigte sich Albert C. Eibl noch mit der 1923 erschienenen Novelle Sturm, die Jünger im weiteren Verlauf schlicht vergessen hatte und erst in den 1960er Jahren im Gesamtwerk erschienen war. Inmitten der Stahlgewitter-Überarbeitungen und seiner nationalistischen Schriften zeigte sich hier ein schriftstellerischer, auktorial erzählender Jünger. Etwas, was er erst 1939 mit den Marmorklippen wieder aufnehmen wird.
Am Ende wurde nicht ganz falsch die allzu starke Konzentration auf Ernst Jüngers Frühwerk bedauert. Die Klammer bildete natürlich Lethens Verhaltenslehren, also die Fokussierung auf den Arbeiter. Mir kam ein anderer, kaum bekannter Aufsatz von Helmut Lethen in den Sinn: Jüngers Desaster im Kaukasus, erschienen im von Tobia Wimbauer herausgegebenen Buch Anarch im Widerspruch (nur noch antiquarisch erhältlich). Lethens Aufsatz hätte, so heißt es in einer Fußnote, ursprünglich 1996 in einer von Hannes Heer und Jan Philipp Reemtsma herausgegebenen Monografie erscheinen sollen. Dieses Buch kam jedoch nicht zustande.
Lethen analysiert hier die Herkunft des »kalten Blicks« im Dandytum des 19. Jahrhunderts, referiert über Norbert Elias’ »Satisfaktionstyp der Moderne« und deutet aus den Strahlungen heraus Jüngers »Ekel gegen die ›Teilnahme an kollektiven Dingen‹« während des Aufenthalts im Kaukasus ab Oktober 1942, der im Januar 1943 aufgrund des Zusammenbrechens der Front fast fluchtartig beendet wurde. Jünger ahnt, dass der Blick des Arztes, der ihm noch bei der Erschießung des Deserteurs möglich war, bei einer Teilnahme von Massenerschießungen unmöglich ist. Ihm genügen die Schilderungen. Sein Urteil über diese Verbrechen sind in den Kaukasischen Aufzeichnungen (innerhalb der Strahlungen) eindeutig; seine Erschütterung umfassend. Laut Lethen erlebt Jünger hier ein Desaster – sein bürgerlicher Habitus wird dauerhaft beschädigt. Und er wird, so die These, danach für immer verändert sein. Eine nähere Untersuchung dieses Aufsatzes böte sich an.
Die Jünger Gesellschaft
Vor zwei Jahren schockierte Schlucken, ein Schmähtext von Marie Rotkopf, die Jünger Gesellschaft. Man sah sich aber vor allem das Werk Ernst Jüngers verunglimpft. Es gab zahlreiche Austritte, zum Teil auch prominente Namen. Die Lektüre des Textes, die in der Jünger Debatte 7 abgedruckt ist, fällt tatsächlich schwer. Alleine erscheint mir der Furor unangemessen. Die einzig richtige Reaktion wäre ein schallendes Gelächter gewesen, aber soviel Gelassenheit vermochte man nicht aufzubringen (was in der Situation verständlich ist). Aber wer wegen eines verleumderisch-provokativen Textes eine Gesellschaft verlässt, scheint wenig von jener Ambiguitätstoleranz zu besitzen, die sich, wie man beispielsweise in Schöttkers Buch nachlesen kann, die Intellektuellen zu Lebzeiten Ernst Jüngers gegenseitig entgegenbrachten.
In diesem Jahr war es Jan Juhani Steinmanns Weiterführung zu Friedrich Georg Jüngers Die Perfektion der Technik, der für Spannung (und stellenweise sanften Widerspruch) sorgte. Seine »exzessphänomenologischen« Lesarten und Extrapolationen der Technikschrift von 1946 in die Gegenwart hinein waren zum einen anregend, zum anderen verwegen. Am Ende, so habe ich verstanden, hilft uns aus dem Dilemma einer durchtechnisierten Welt, in der der Mensch zum Störobjekt wird, nur Liebe und die Poesie. Steinmann machte es mit einem abschließenden Gedicht vor. Man war am Ende erleichtert, denn danach gab es einen Umtrunk.
Was soll man lesen?
Wie soll man sich heutzutage mit Ernst Jünger beschäftigen? Wie kommt man aus der anfänglich beschriebenen Verteidigungsposition? Dagegen hilft nur: Lektüre!
Wer noch nichts von ihm gelesen hat und sich gegen die gängigen medialen Attribute rüsten möchte, sei Alexander Pscheras vor einigen Jahren erschienenes Buch Geheime Feste empfohlen. Pschera scheut sich im Vorwort nicht, Jünger als einen Vorläufer des »Nature Writing« zu nennen und belegt auf den folgenden 250 Seiten diese These mit nach Motiven wohlsortierten Naturbeschreibungen, souverän und gekonnt aus dem umfangsreichen Œuvre des Dichters destilliert (Quellenangaben am Ende inklusive). Es gibt Exkursionen und Spaziergänge aus den Heimatorten. Dann Impressionen von seinen zahlreichen »subtilen Jagden«, dem Suchen nach Käfern, die erforscht und katalogisiert wurden. Stillleben und Gartenimpressionen. Schließlich die Reisen. Natürlich das Mittelmeer, hier gerät Jünger zeitweise ins Schwärmen, es erinnert an das »mittelmeerische Denken« eines Albert Camus, wenn er berichtet, wie ihm ein Hauch eines göttlichen Zeitalters anfliegt. Hier lebt die Natur und er erlebt sie in einer Mischung aus Forscher-Nüchternheit und dann doch fast kindlichem Staunen.
Danach empfiehlt sich vielleicht die Biographie des Doyens der Jünger-Forschung, Helmuth Kiesel, mit dem schlichten Titel Ernst Jünger. Die mehr als siebenhundert Seiten zeigen den Autor mit allen Facetten, den Verirrungen (hier nimmt Kiesel kein Blatt vor dem Mund) und seinen Wandlungen – vom Kriegshelden zum Verfechter eines »neuen Nationalismus«, dem Gegner des Bürgertums und der Weimarer Demokratie, über den Besatzungsoffizier in Paris, der mit Ekel in den Abgrund der NS-Verbrechen geschaut hatte bis zum Waldgänger und Anarchen, jenen Widerspenstigen, die »sich den Zumutungen und Ansprüchen der Gesellschaft« entziehen, sich absondern und ihre Freiheit jenseits des Kollektivs suchen. Kiesel zeigt neben dem Privatmann den Essayisten, Brief- und Tagebuchschreiber und Schriftsteller Ernst Jünger. Danach weiß man, dass jedes Journalisten-Attribut eine unzulässige Verkürzung darstellt.
Vermutlich wird man dann doch zu den Stahlgewittern greifen. Egal wie man zu den bisweilen sehr aufgepfropften Selbstinszenierungen des Autors steht: Dieses Buch lässt nicht zuletzt in Anbetracht des derzeit tobenden, furchtbaren Krieges in der Ukraine niemanden kalt. Spätestens dann bemerkt man, dass man Ernst Jünger nur lesen kann, wenn man sich mindestens vorübergehend aus der Komfortzone entfernt. Anders geht es nicht.
Danke für den erfrischend unvoreingenommenen Blick auf Ernst Jünger. Ich habe seine Tagebücher (insbes. »Strahlungen« und »Siebzig verweht«) in meiner Jugend und kurz danach mit großem Interesse gelesen. Er betrachtet die Welt aus der Perspektive eines neugierigen Bildungsbürgers mit wissenschaftlichem Background, seine politischen Ansichten sind eher unkonventionell und sicher auch der Zeit verhaftet, aber sein Denken und Schreiben, waren wirklich das Gegenteil von borniert. Die Faszination für die Welt der Käfer ist mir immer ein Rätsel geblieben, aber sie illustriert gut, was für ein hervorragender Beobachter er war. Mich haben damals auch seine grenzüberschreitenden Drogenerfahrungen (»Annäherungen«) , die teils surrealen an Borges erinnernden Traumschilderungen in den Tagebüchern und vor allem sein Frühwerk (»Afrikanische Spiele« und »Das abenteuerliche Herz« ) tief beeindruckt. Er war vielleicht der letzte Kosmopolit à la Goethe und wird ja bis heute im Ausland, und zwar insbes. in Frankreich – Mitterand war erstaunlicherweise ein Fan, ja fast ein Freund – mehr geschätzt als in seinem Heimatland. Übrigens ganz ähnlich wie Nietzsche, zu dem es ja auch sonst noch so einige Parallelen gibt.
Danke für den Kommentar. Jünger ist sicherlich eines nicht: langweilig. Seine revolutionären Verirrungen in den 1920er Jahren, dieses heute merkwürdig anmutend widerständig-loyale in Paris und dann die vollkommene Kehre als Waldgänger respektive Anarch. Letzteres halte ich für eine aktuell adäquate Haltung, wenn man nicht irre werden möchte. Aber es ist natürlich schwer umzusetzen.
Jünger hatte als Kind von seinem Vater einen Insektenkasten geschenkt bekommen und damit »Feuer« gefangen. Nach dem Krieg hatte er ja kurz Zoologie studiert. Bei den Entomologen stieß er, wie ich erfahren habe, fast immer auf Distanz, gar Ablehnung. Man hat es halt dort auch nicht so gerne, wenn ein Autodidakt seine Begeisterung im Dienst der Forschung einzustellen bereit ist, während man selber eher routiert auf die Phänomene schaut. Die Faszination für die Käfer und dieser Drang der Katalogisierung könnte man als Wunsch deuten, wenigstens einen Abschnitt der Welt zu systematisieren, zu ordnen.