Mit Ernst Jün­ger aus der Kom­fort­zo­ne

Die vor­nehm­li­che Hal­tung des ak­tu­el­len Le­sers der Bü­cher von Ernst Jün­ger in der mo­ral­ge­tränk­ten (li­te­ra­ri­schen) Öf­fent­lich­keit ist ge­beugt, die Lek­tü­re er­folgt vor­zugs­wei­se ver­steckt, das Re­den dar­über flü­sternd, in ste­ti­ger Ab­gren­zung so­wohl ge­gen Be­schimp­fun­gen wie auch un­will­kom­me­nen Um­ar­mun­gen be­grif­fen. In der Ni­sche zwi­schen ei­ner im Brust­ton der Un­kennt­nis vor­ge­brach­ten Ab­leh­nungs­ka­ma­ril­la und leid­li­chen, po­li­tisch mo­ti­vier­ten Ver­ein­nah­mun­gen be­fin­det sich der Jün­ger-Re­zi­pi­ent in stän­di­ger Acht­sam­keit. Wer si­cher ge­hen will, liest lie­ber Re­mar­que, Im We­sten nichts Neu­es. Da­bei er­scheint es wie ein Witz, dass Re­mar­que einst die Stahl­ge­wit­ter, je­ne li­te­r­a­ri­sier­te Form der Kriegs­ta­ge­bü­cher des Leut­nants Jün­ger aus dem Er­sten Welt­krieg, als »prä­zi­se, ernst, stark und ge­wal­tig« lob­te und ei­ne »wohl­tu­en­de Sach­lich­keit« her­aus­stell­te. Aber wer weiß das schon? Be­zie­hungs­wei­se: Wer will das wis­sen?

Und dann liest man plötz­lich so et­was:

  • »Ernst Jün­gers Kriegs­ta­ge­bü­cher lie­fern viel­leicht den be­sten und ehr­lich­sten Be­weis für die Schwie­rig­kei­ten, de­nen das In­di­vi­du­um aus­ge­setzt ist, wenn es sei­ne mo­ra­li­schen Wert­vor­stel­lun­gen und sei­nen Wahr­heits­be­griff un­ge­bro­chen in ei­ner Welt er­hal­ten möch­te, in der Wahr­heit und Mo­ral jeg­li­chen er­kenn­ba­ren Aus­druck ver­lo­ren ha­ben. Trotz des un­leug­ba­ren Ein­flus­ses, den Jün­gers frü­he Ar­bei­ten auf be­stimm­te Mit­glie­der der na­zi­sti­schen In­tel­li­genz aus­üb­ten, war er vom er­sten bis zum letz­ten Tag des Re­gimes ein ak­ti­ver Na­zi-Geg­ner und be­wies da­mit, daß der et­was alt­mo­di­sche Ehr­be­griff, der einst im preu­ßi­schen Of­fi­ziers­korps ge­läu­fig war, für in­di­vi­du­el­len Wi­der­stand völ­lig aus­reich­te.«

Detlev Schöttker: Die Archive des Chronisten

Det­lev Schött­ker: Die
Ar­chi­ve des Chro­ni­sten

Ge­meint sind die 1942 bzw. 1949 ver­öf­fent­lich­ten Ta­ge­bü­cher von Ernst Jün­ger mit dem Ti­tel Strah­lun­gen. Sie ent­stan­den zwi­schen 1939 und 1948 (die No­ti­zen zwi­schen 1939 und 1940 wur­den 1942 un­ter dem Ti­tel Gär­ten und Stra­ßen pu­bli­ziert). Ernst Jün­ger war im Zwei­ten Welt­krieg als Haupt­mann in der Wehr­macht tä­tig; von 1941–44 im Stab des Mi­li­tär­be­fehls­ha­bers von Frank­reich in Pa­ris.

An­ge­nehm tem­pe­rier­tes Auf­se­hen

Die Ein­schät­zung aus den Ta­ge­bü­cher her­aus ge­trof­fen ist – und das dürf­te vie­le er­stau­nen – von Han­nah Are­ndt. Es fin­det sich in dem Buch Die Ar­chi­ve des Chro­ni­sten des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Det­lev Schött­ker, das un­längst im Wall­stein-Ver­lag er­schie­nen ist. Auf der Ta­gung der Ernst und Fried­rich Ge­org Jün­ger Ge­sell­schaft in Bad Saul­gau vom 11.–13.4. mit Schwer­punkt »Käl­te und Em­pa­thie bei den Brü­dern Jün­ger« sorg­te es auf dem Dis­kus­si­on­s­pa­nel über Schött­kers’ Buch (un­ter Mo­de­ra­ti­on des FAZ-Kor­re­spon­den­ten Mi­cha­el Mar­tens) für an­ge­nehm tem­pe­rier­tes Auf­se­hen. Selbst Hel­muth Kie­sel war es nicht be­kannt. Der an­we­sen­de Heid­eg­ger-Ex­eget Pe­ter Traw­ny wuss­te zwar, dass sich Are­ndt mit Jün­ger be­fasst hat­te, kann­te die­se Stel­le je­doch auch nicht. Det­lev Schött­ker konn­te zu den Um­stän­den des Fund­stücks nicht be­fragt wer­den, da er die Ein­la­dung auf­grund ei­ner kurz­fri­sti­gen Er­kran­kung ab­sa­gen muss­te. Als Quel­le wird im Buch et­was la­pi­dar »Han­nah Are­ndt, Be­such in Deutsch­land. Ber­lin 1993 (zu­erst 1950), S. 47« an­ge­ge­ben. Des Wei­te­ren heißt es, über Jün­gers »Ab­leh­nung des NS-Re­gimes« sei Are­ndt wäh­rend ei­nes Be­suchs bei Karl Jas­pers »in­for­miert wor­den.«

Helmuth Kiesel: Ernst Jünger

Hel­muth Kie­sel:
Ernst Jün­ger

Der Auf­satz von Han­nah Are­ndt ist im Ok­to­ber 1950 im ame­ri­ka­ni­schen Ma­ga­zin Com­men­ta­ry un­ter dem Ti­tel The Af­ter­math of Na­zi Ru­le: Re­port from Ger­ma­ny er­schie­nen und kann auf der Web­sei­te des Ma­ga­zins nach­ge­le­sen wer­den (was Schött­ker nicht als Mög­lich­keit an­bie­tet). Man muss kon­sta­tie­ren, dass Are­ndts Aus­sa­gen zu Jün­ger nicht nur auf In­for­ma­ti­on, son­dern auf Lek­tü­re be­ruh­ten. So zi­tiert sie aus den Strah­lun­gen, be­vor sie ihr Ur­teil ab­gibt. Ei­ne Stel­le ist die Ein­tra­gung vom 16. Fe­bru­ar 1942, als Jün­ger auf Ur­laub in Burg­dorf ei­ne Un­ter­hal­tung mit ei­nem Fri­sör wie­der­gibt, der be­merkt, dass die rus­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen den Hun­den das Fut­ter »weg­fres­sen« wür­den (Zi­tat des Fri­sörs). Jün­gers Be­mer­kung »Oft hat man den Ein­druck, daß der deut­sche Bür­ger vom Teu­fel ge­rit­ten wird« über­setzt Are­ndt dra­sti­scher mit: »One of­ten has the im­pres­si­on that the Ger­man midd­le clas­ses are pos­s­es­sed by the de­vil.«

Ist die­ser Fund der Hö­he­punkt des Bu­ches? Schött­ker be­ginnt Die Ar­chi­ve des Chro­ni­sten da­mit, wie Jün­ger »Ta­ge­bü­cher, Schrif­ten und Kor­re­spon­den­zen …als Grund­la­gen ei­nes do­ku­men­ta­risch-chro­ni­sti­schen Pro­jekts zu Le­ben, Werk und Zeit« ver­wen­det hat. Aber die Ver­glei­che et­wa mit Kem­pow­skis Echo­lot, die mul­ti­per­spek­ti­vi­sche und kol­lek­ti­ven Zeit­ge­nos­sen­schaft bie­tet (un­ter an­de­rem mit Aus­zü­gen aus Jün­gers Strah­lun­gen), Uwe John­sons Jah­res­ta­ge oder Alex­an­der Klu­ges Chro­nik der Ge­füh­le grei­fen aus ver­schie­de­nen Grün­den fehl. Die Strah­lun­gen sind eben kei­ne »Ein­blicke in die Zeit­ge­schich­te«, son­dern orts­ge­bun­de­ne, höchst sub­jek­ti­ve Be­schrei­bun­gen und Re­fle­xio­nen. Und spä­te­stens seit der 2022 her­aus­ge­brach­ten hi­sto­risch-kri­ti­schen Aus­ga­be ist klar, das Jün­ger nach­träg­lich an den Auf­zeich­nun­gen ge­feilt, ge­stri­chen und sie er­gänzt hat (und dann ei­ni­ge Kor­rek­tu­ren wie­der ver­warf). Das spä­ter pu­bli­zier­te ist nicht per se das Re­sul­tat spon­ta­ner Ein­ga­ben, die den er­sten Af­fekt wie­der­ge­ben. Manch­mal war es nur ein Satz, der wie ei­ne Bi­lanz ein­ge­fügt wur­de und das Ge­schrie­be­ne bis­wei­len in ei­nen Apho­ris­mus ab­glei­ten lässt. Ei­ni­ges dien­te der Kor­rek­tur oder an­de­rer Ein­sich­ten, die sich nach­träg­lich er­ge­ben hat­ten. Schött­ker er­kennt dies na­tür­lich auch, macht bis­wei­len ei­nen Hang zur Selbst­sti­li­sie­rung Jün­gers hin zu »ei­nem kom­ple­xen au­to­fik­tio­na­len Selbst­por­trät« aus, scheint dies aber als eher ver­nach­läs­sig­bar ein­zu­stu­fen. Als Spie­gel der Zeit sind sie al­so nicht taug­lich. Aber war­um sie auch für »die Bio­gra­fie Jün­gers« nur »be­dingt ge­eig­net« er­schei­nen sol­len, bleibt un­ge­klärt.

Der zwei­te Fund

Be­son­ders ha­ben es Schött­ker die Brie­fe bzw. die Brief­wech­sel an­ge­tan. Das Kon­vo­lut der Jün­ger-Brie­fe, dass 1996 vom Deut­schen Li­te­ra­tur­ar­chiv in Mar­bach er­wor­ben wur­de, um­fasst »et­wa 90.000 Schrei­ben an ihn und et­wa 40.000 von ihm in Ab­schrif­ten oder Durch­schrif­ten«. Da­zu kom­men »et­wa 13.000 Brie­fe von Jün­ger in an­de­ren Au­toren-Nach­läs­sen«. Ei­ne sy­ste­ma­ti­sche Er­fas­sung und Ar­chi­vie­rung fand bis­her nicht statt. Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler müs­sen sich nach ih­ren je­wei­li­gen Schwer­punk­ten auf die Su­che be­ge­ben. Schött­ker hat­te in der Ver­gan­gen­heit un­ter an­de­rem Jün­gers Brief­wech­sel mit Gers­hom Sholem und Dolf Stein­ber­ger und ei­ne Aus­wahl der Brie­fe mit sei­ner Frau Gre­tha, die er im neu­en Buch zu ei­ner Art Kor­re­spon­den­tin des Luft­kriegs macht, her­aus­ge­ge­ben. Hin­zu kommt ein Band über die Kor­re­spon­denz mit dem Ausch­witz-Über­le­ben­den und Ho­lo­caust­for­scher Jo­seph Wulf, der Jün­ger im­mer wie­der be­we­gen woll­te, »sich öf­fent­lich für sein An­lie­gen, die Auf­klä­rung über der NS-Ver­gan­gen­heit« zu be­we­gen, her­aus­ge­ge­ben. Wulf ver­ehr­te Jün­ger, war aber in sei­ner Wis­sen­schafts­zunft eher Au­ßen­sei­ter. Jün­ger wich aus und Schött­ker stellt fest: »Das öf­fent­li­che Ein­tre­ten für Wulf auf­sei­ten Jün­gers war da­ge­gen nicht der Re­de wert.«

Der um­fang­reich­ste Teil der Brie­fe dürf­te die Kor­re­spon­denz der Brü­der Ernst und Fried­rich Ge­org un­ter­ein­an­der sein. Es wur­de er­zählt, dass 2027 ei­ne Aus­wahl er­schei­nen soll. Schött­ker lie­fert auch hier ei­nen Ap­pe­ti­zer, in dem er aus ei­nem kon­fron­ta­tiv-ver­zwei­fel­ten Brief von Fried­rich Ge­org an sei­nen Bru­der vom 16. Fe­bru­ar 1962 zi­tiert. Ernst hat­te sich über­ra­schend ent­schlos­sen, knapp an­dert­halb Jah­re nach dem Tod von Gre­tha die Ar­chi­va­rin Li­se­lot­te Loh­rer zu hei­ra­ten und der Bru­der sieht nun ei­nen In­ter­es­sen­kon­flikt zwi­schen der neu zu­ge­dach­ten Auf­ga­be Li­se­lot­tes, das Ar­chiv von Ernst zu be­treu­en und ih­rer Rol­le als Ehe­frau. Ver­mut­lich sorg­te er sich um die In­ti­mi­tät der Kor­re­spon­denz mit sei­nem Bru­der. Die bis­her gän­gi­ge Mei­nung, das Ver­hält­nis der bei­den Brü­der sei un­ge­trübt ge­we­sen, wird hier re­la­ti­viert, denn das Brief­zi­tat lässt zu­min­dest die An­dro­hung der Auf­kün­di­gung des Dia­logs er­ah­nen. Auch das wä­re ei­ne Neu­ig­keit, wie man in Bad Saul­gau fest­stell­te, wo­bei man al­ler­dings die eher ne­bu­lö­se Be­hand­lung durch Schött­ker kri­ti­sier­te.

Die Su­che nach Ent­la­stung

Im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches re­fe­riert Schött­ker aus Jün­gers Ar­chiv über den um­fang­rei­chen Ap­pa­rat der In­tel­lek­tu­el­len, mit de­nen Jün­ger in Ver­bin­dung stand. Man ist über das brei­te Spek­trum der Per­sön­lich­kei­ten über­rascht, die Jün­ger un­ge­ach­tet sei­ner po­li­ti­schen (im Lau­fe der Jahr­zehn­te durch­aus wech­sel­vol­len) An­sich­ten schätz­te – und vice ver­sa. Da ist et­wa der ex­pres­sio­ni­sti­sche Ma­ler Ru­dolf Schlich­ter, der nicht nur Jün­ger por­trai­tier­te, son­dern auch ein­mal in ziem­li­cher Not vor den Na­zis ei­ne Art Zeug­nis er­bat und be­kam. Oder der Bol­sche­wist Ernst Nie­kisch, für den sich Jün­ger auch ein­setz­te. Die Freund­schaf­ten mit welt­an­schau­lich kon­trär ein­ge­stell­ten Per­sön­lich­kei­ten wa­ren häu­fig in­ni­ger und dau­er­haf­ter als je­ne mit zeit­wei­li­gen Ge­sin­nungs­freun­den (wie et­wa Carl Schmitt).

Jün­ger zog früh et­wa auch Wal­ter Ben­ja­min an, was Schött­ker re­kon­stru­iert. 1977 ver­ar­bei­te­te er dann sei­ne Ben­ja­min-Lek­tü­re im Ro­man Eu­mes­wil, wie es heißt, »ver­deckt«. Die spa­ni­sche Aus­ga­be der Stahl­ge­wit­ter fas­zi­nier­te den ar­gen­ti­ni­schen Au­tor Jo­se Lou­is Bor­ges, wie die­ser Jün­ger bei ei­nem Be­such Jahr­zehn­te spä­ter 1982 er­zähl­te. Ins­ge­samt war Jün­ger trotz des von den Al­li­ier­ten bis 1949 ver­häng­ten Pu­bli­ka­ti­ons­ver­bots zu­nächst ein be­kann­ter und auch ge­schätz­ter Au­tor. Et­was über­eif­rig ver­sucht Schött­ker dies auf die li­te­ra­ri­sche Sze­ne der ab den 1950er Jah­ren do­mi­nie­ren­den Prot­ago­ni­sten der Grup­pe 47 aus­zu­wei­ten, die of­fi­zi­ell Per­so­nen wie Fried­rich Sieburg oder Jün­ger eher äch­te­ten. Die mei­sten hät­ten al­ler­dings, so die The­se, Jün­ger wenn nicht ver­ehrt, so doch min­de­stens ge­schätzt, hät­ten sich aber nicht ge­traut. Al­fred An­dersch sei der ein­zi­ge, der sei­ne Sym­pa­thie öf­fent­lich ge­äu­ßert hät­te; von Wolf­diet­rich Schnur­re ist ein Satz über­lie­fert. Schött­ker streift die Be­schäf­ti­gung von Hans Blu­men­berg mit Jün­ger, der zwar schwer ent­täuscht von He­lio­po­lis war (»in pein­li­cher Wei­se miß­lun­gen«), spä­ter aber er­neut Zu­gang über die Sieb­zig ver­weht-Ta­ge­bü­cher fand und ei­nen gran­dio­sen Text zum 100. Ge­burts­tag in der NZZ schrieb. Bei Blu­men­berg kann man üb­ri­gens Tho­mas Manns Lob auf Jün­ger vom 10. Ok­to­ber 1945 le­sen. Er nennt ihn ein »au­ßer­ge­wöhn­li­ches li­te­ra­ri­sches Ta­lent, das weit­aus be­deu­tend­ste im heu­ti­gen Deutsch­land« wor­an die Tat­sa­che, dass er »ein Weg­be­rei­ter des Na­zis­mus« ge­we­sen sei und »ein eis­kal­ter Ge­nie­ßer des Bar­ba­ris­mus« nichts än­de­re. Die­ses Zi­tat fin­det sich laut Blu­men­berg im Brief von Tho­mas Mann an Fried­rich Krau­se. We­sent­lich be­kann­ter ist die For­mu­lie­rung, die Schött­ker zi­tiert. Am 10. De­zem­ber 1945 schreibt Tho­mas Mann an Agnes E. Mey­er, Jün­ger sei ein »eis­kal­ter Ge­nüss­ling des Bar­ba­ris­mus« ge­we­sen. Letz­te­res hat sich ver­brei­tet; die lo­ben­den Wor­te an Krau­se nicht.

Je nä­her der Au­tor in die Ge­gen­wart rückt und dort Jün­ger-Apo­lo­ge­ten sucht, um­so dün­ner wird die Sup­pe. Dass sich mit Gün­ter Grass, Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger und Mar­tin Wal­ser drei pro­mi­nen­te Au­toren zu Jün­ger be­kannt hät­ten, ist ei­ne küh­ne The­se. Ja, Grass hat 1999 ei­ne klei­ne, fik­ti­ve Sze­ne mit Jün­ger, Re­mar­que und ihm in Mein Jahr­hun­dert ge­schrie­ben. Und En­zens­ber­gers »Es war mir lie­ber, Jün­ger aus der Fer­ne zu be­wun­dern« le­se ich eher als ei­ne ty­pisch iro­ni­sche Vol­te von HME. Ne­ben Wal­ser wird auch ein Lob von Un­seld er­wähnt (was seit ei­ni­gen Ta­gen viel­leicht nicht mehr ganz so op­por­tun scheint).

Aus­führ­li­cher geht der Au­tor auf Bern­ward Ves­per ein und in­ter­pre­tiert das un­voll­ende­te Ro­man­ma­nu­skript Die Rei­se, wel­ches Ves­per als »Log­buch« be­zeich­net hat­te, als An­leh­nung an Jün­ger. Als »letz­ten Ver­eh­rer« macht Schött­ker schließ­lich den 1995 ver­stor­be­nen Hei­ner Mül­ler aus. Die Af­fi­ni­tät Mül­lers zu Jün­ger ist un­strit­tig. Die Re­fle­xio­nen aus Alex­an­der Klu­ges Fern­seh­kos­mos im Rah­men des dctp-Sen­dun­gen er­wähnt Schött­ker nicht.

Le­sens­wert ist Schött­kers Buch auch da­hin­ge­hend, wenn er Jün­gers Spät­werk ana­ly­siert und ihn zum »neu­en He­ro­dot der Zu­kunft« aus­ruft.

Käl­te und Wär­me – und ein an­de­rer Le­then-Text

Auf dem Pa­nel der Ta­gung der Jün­ger-Ge­sell­schaft spiel­ten die Exkul­pa­tio­nen Schött­kers kei­ne Rol­le. All­zu stark woll­te man mit dem ab­we­sen­den Au­tor nicht ins Ge­richt ge­hen. Zu­dem traf sein Buch nicht ganz das The­ma »Käl­te und Em­pa­thie«. Der Fo­kus lag hier ei­ner­seits auf In Stahl­ge­wit­tern, an­de­rer­seits auf Hel­mut Le­thens Ver­hal­tens­leh­ren der Käl­te, in dem über­ra­schen­der­wei­se die Stahl­ge­wit­ter kaum vor­kom­men und statt­des­sen vor al­lem Jün­gers Schrift Der Ar­bei­ter un­ter­sucht wird. Pe­ter Traw­ny er­klär­te, war­um Le­thens Käl­te­dia­gno­se nicht per se als ne­ga­tiv be­trach­tet wer­den muss. Mat­thi­as Schö­ning und Tho­mas Nehr­lich mach­ten deut­lich, dass »Käl­te«- bzw. »Wärme«-Zuschreibungen kei­ne li­te­ra­ri­schen Kri­te­ri­en sind und sich bei­des in den Stahl­ge­wit­tern fin­det: Zum ei­nen der be­rühm­te kal­te Blick, der das Ge­sche­hen auf dem Schlacht­feld fast do­ku­men­ta­ri­stisch er­fasst, zum an­de­ren der heut­zu­ta­ge be­fremd­li­che, hei­ße »Blut­rausch« des Ich-Er­zäh­lers bei An­grif­fen. Und na­tür­lich wur­de je­ne Stel­le zi­tiert, in der Jün­ger im An­griff auf ei­nen ver­wun­de­ten eng­li­schen Of­fi­zier stößt und ihm in Tö­tungs­ab­sicht die Pi­sto­le an die Schlä­fe hält. Als die­ser ihn ei­ne Fo­to­gra­fie mit Frau und sei­nen Kin­dern zeigt, lässt Jün­ger ab und prescht wei­ter nach vor­ne. Hier ver­sa­gen die Di­cho­to­mien »kalt« und »heiß« voll­stän­dig.

Im­mer­hin be­schäf­tig­te sich Al­bert C. Eibl noch mit der 1923 er­schie­ne­nen No­vel­le Sturm, die Jün­ger im wei­te­ren Ver­lauf schlicht ver­ges­sen hat­te und erst in den 1960er Jah­ren im Ge­samt­werk er­schie­nen war. In­mit­ten der Stahl­ge­wit­ter-Über­ar­bei­tun­gen und sei­ner na­tio­na­li­sti­schen Schrif­ten zeig­te sich hier ein schrift­stel­le­ri­scher, aukt­ori­al er­zäh­len­der Jün­ger. Et­was, was er erst 1939 mit den Mar­mor­klip­pen wie­der auf­neh­men wird.

Am En­de wur­de nicht ganz falsch die all­zu star­ke Kon­zen­tra­ti­on auf Ernst Jün­gers Früh­werk be­dau­ert. Die Klam­mer bil­de­te na­tür­lich Le­thens Ver­hal­tens­leh­ren, al­so die Fo­kus­sie­rung auf den Ar­bei­ter. Mir kam ein an­de­rer, kaum be­kann­ter Auf­satz von Hel­mut Le­then in den Sinn: Jün­gers De­sa­ster im Kau­ka­sus, er­schie­nen im von To­bia Wim­bau­er her­aus­ge­ge­be­nen Buch An­arch im Wi­der­spruch (nur noch an­ti­qua­risch er­hält­lich). Le­thens Auf­satz hät­te, so heißt es in ei­ner Fuß­no­te, ur­sprüng­lich 1996 in ei­ner von Han­nes Heer und Jan Phil­ipp Reemts­ma her­aus­ge­ge­be­nen Mo­no­gra­fie er­schei­nen sol­len. Die­ses Buch kam je­doch nicht zu­stan­de.

Le­then ana­ly­siert hier die Her­kunft des »kal­ten Blicks« im Dan­dy­tum des 19. Jahr­hun­derts, re­fe­riert über Nor­bert Eli­as’ »Sa­tis­fak­ti­ons­typ der Mo­der­ne« und deu­tet aus den Strah­lun­gen her­aus Jün­gers »Ekel ge­gen die ›Teil­nah­me an kol­lek­ti­ven Din­gen‹« wäh­rend des Auf­ent­halts im Kau­ka­sus ab Ok­to­ber 1942, der im Ja­nu­ar 1943 auf­grund des Zu­sam­men­bre­chens der Front fast flucht­ar­tig be­en­det wur­de. Jün­ger ahnt, dass der Blick des Arz­tes, der ihm noch bei der Er­schie­ßung des De­ser­teurs mög­lich war, bei ei­ner Teil­nah­me von Mas­sen­er­schie­ßun­gen un­mög­lich ist. Ihm ge­nü­gen die Schil­de­run­gen. Sein Ur­teil über die­se Ver­bre­chen sind in den Kau­ka­si­schen Auf­zeich­nun­gen (in­ner­halb der Strah­lun­gen) ein­deu­tig; sei­ne Er­schüt­te­rung um­fas­send. Laut Le­then er­lebt Jün­ger hier ein De­sa­ster – sein bür­ger­li­cher Ha­bi­tus wird dau­er­haft be­schä­digt. Und er wird, so die The­se, da­nach für im­mer ver­än­dert sein. Ei­ne nä­he­re Un­ter­su­chung die­ses Auf­sat­zes bö­te sich an.

Die Jün­ger Ge­sell­schaft

Pschera/Trawny: Jünger Debatte 7

Pschera/Trawny:
Jün­ger De­bat­te 7

Vor zwei Jah­ren schockier­te Schlucken, ein Schmäh­text von Ma­rie Rot­kopf, die Jün­ger Ge­sell­schaft. Man sah sich aber vor al­lem das Werk Ernst Jün­gers ver­un­glimpft. Es gab zahl­rei­che Aus­trit­te, zum Teil auch pro­mi­nen­te Na­men. Die Lek­tü­re des Tex­tes, die in der Jün­ger De­bat­te 7 ab­ge­druckt ist, fällt tat­säch­lich schwer. Al­lei­ne er­scheint mir der Fu­ror un­an­ge­mes­sen. Die ein­zig rich­ti­ge Re­ak­ti­on wä­re ein schal­len­des Ge­läch­ter ge­we­sen, aber so­viel Ge­las­sen­heit ver­moch­te man nicht auf­zu­brin­gen (was in der Si­tua­ti­on ver­ständ­lich ist). Aber wer we­gen ei­nes ver­leum­de­risch-pro­vo­ka­ti­ven Tex­tes ei­ne Ge­sell­schaft ver­lässt, scheint we­nig von je­ner Am­bi­gui­täts­to­le­ranz zu be­sit­zen, die sich, wie man bei­spiels­wei­se in Schött­kers Buch nach­le­sen kann, die In­tel­lek­tu­el­len zu Leb­zei­ten Ernst Jün­gers ge­gen­sei­tig ent­ge­gen­brach­ten.

In die­sem Jahr war es Jan Juha­ni Stein­manns Wei­ter­füh­rung zu Fried­rich Ge­org Jün­gers Die Per­fek­ti­on der Tech­nik, der für Span­nung (und stel­len­wei­se sanf­ten Wi­der­spruch) sorg­te. Sei­ne »ex­zess­phä­no­me­no­lo­gi­schen« Les­ar­ten und Ex­tra­po­la­tio­nen der Tech­nik­schrift von 1946 in die Ge­gen­wart hin­ein wa­ren zum ei­nen an­re­gend, zum an­de­ren ver­we­gen. Am En­de, so ha­be ich ver­stan­den, hilft uns aus dem Di­lem­ma ei­ner durch­tech­ni­sier­ten Welt, in der der Mensch zum Stör­ob­jekt wird, nur Lie­be und die Poe­sie. Stein­mann mach­te es mit ei­nem ab­schlie­ßen­den Ge­dicht vor. Man war am En­de er­leich­tert, denn da­nach gab es ei­nen Um­trunk.

Was soll man le­sen?

Wie soll man sich heut­zu­ta­ge mit Ernst Jün­ger be­schäf­ti­gen? Wie kommt man aus der an­fäng­lich be­schrie­be­nen Ver­tei­di­gungs­po­si­ti­on? Da­ge­gen hilft nur: Lek­tü­re!

Alexander Pschera: Geheime Feste

Alex­an­der Psche­ra:
Ge­hei­me Fe­ste

Wer noch nichts von ihm ge­le­sen hat und sich ge­gen die gän­gi­gen me­dia­len At­tri­bu­te rü­sten möch­te, sei Alex­an­der Psche­r­as vor ei­ni­gen Jah­ren er­schie­ne­nes Buch Ge­hei­me Fe­ste emp­foh­len. Psche­ra scheut sich im Vor­wort nicht, Jün­ger als ei­nen Vor­läu­fer des »Na­tu­re Wri­ting« zu nen­nen und be­legt auf den fol­gen­den 250 Sei­ten die­se The­se mit nach Mo­ti­ven wohl­sor­tier­ten Na­tur­be­schrei­bun­gen, sou­ve­rän und ge­konnt aus dem um­fangs­rei­chen Œu­vre des Dich­ters de­stil­liert (Quel­len­an­ga­ben am En­de in­klu­si­ve). Es gibt Ex­kur­sio­nen und Spa­zier­gän­ge aus den Hei­mat­or­ten. Dann Im­pres­sio­nen von sei­nen zahl­rei­chen »sub­ti­len Jag­den«, dem Su­chen nach Kä­fern, die er­forscht und ka­ta­lo­gi­siert wur­den. Still­le­ben und Gar­ten­im­pres­sio­nen. Schließ­lich die Rei­sen. Na­tür­lich das Mit­tel­meer, hier ge­rät Jün­ger zeit­wei­se ins Schwär­men, es er­in­nert an das »mit­tel­mee­ri­sche Den­ken« ei­nes Al­bert Ca­mus, wenn er be­rich­tet, wie ihm ein Hauch ei­nes gött­li­chen Zeit­al­ters an­fliegt. Hier lebt die Na­tur und er er­lebt sie in ei­ner Mi­schung aus For­scher-Nüch­tern­heit und dann doch fast kind­li­chem Stau­nen.

Da­nach emp­fiehlt sich viel­leicht die Bio­gra­phie des Doy­ens der Jün­ger-For­schung, Hel­muth Kie­sel, mit dem schlich­ten Ti­tel Ernst Jün­ger. Die mehr als sie­ben­hun­dert Sei­ten zei­gen den Au­tor mit al­len Fa­cet­ten, den Ver­ir­run­gen (hier nimmt Kie­sel kein Blatt vor dem Mund) und sei­nen Wand­lun­gen – vom Kriegs­hel­den zum Ver­fech­ter ei­nes »neu­en Na­tio­na­lis­mus«, dem Geg­ner des Bür­ger­tums und der Wei­ma­rer De­mo­kra­tie, über den Be­sat­zungs­of­fi­zier in Pa­ris, der mit Ekel in den Ab­grund der NS-Ver­bre­chen ge­schaut hat­te bis zum Wald­gän­ger und An­ar­chen, je­nen Wi­der­spen­sti­gen, die »sich den Zu­mu­tun­gen und An­sprü­chen der Ge­sell­schaft« ent­zie­hen, sich ab­son­dern und ih­re Frei­heit jen­seits des Kol­lek­tivs su­chen. Kie­sel zeigt ne­ben dem Pri­vat­mann den Es­say­isten, Brief- und Ta­ge­buch­schrei­ber und Schrift­stel­ler Ernst Jün­ger. Da­nach weiß man, dass je­des Jour­na­li­sten-At­tri­but ei­ne un­zu­läs­si­ge Ver­kür­zung dar­stellt.

Ver­mut­lich wird man dann doch zu den Stahl­ge­wit­tern grei­fen. Egal wie man zu den bis­wei­len sehr auf­ge­pfropf­ten Selbst­in­sze­nie­run­gen des Au­tors steht: Die­ses Buch lässt nicht zu­letzt in An­be­tracht des der­zeit to­ben­den, furcht­ba­ren Krie­ges in der Ukrai­ne nie­man­den kalt. Spä­te­stens dann be­merkt man, dass man Ernst Jün­ger nur le­sen kann, wenn man sich min­de­stens vor­über­ge­hend aus der Kom­fort­zo­ne ent­fernt. An­ders geht es nicht.

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  1. Dan­ke für den er­fri­schend un­vor­ein­ge­nom­me­nen Blick auf Ernst Jün­ger. Ich ha­be sei­ne Ta­ge­bü­cher (ins­bes. »Strah­lun­gen« und »Sieb­zig ver­weht«) in mei­ner Ju­gend und kurz da­nach mit gro­ßem In­ter­es­se ge­le­sen. Er be­trach­tet die Welt aus der Per­spek­ti­ve ei­nes neu­gie­ri­gen Bil­dungs­bür­gers mit wis­sen­schaft­li­chem Back­ground, sei­ne po­li­ti­schen An­sich­ten sind eher un­kon­ven­tio­nell und si­cher auch der Zeit ver­haf­tet, aber sein Den­ken und Schrei­ben, wa­ren wirk­lich das Ge­gen­teil von bor­niert. Die Fas­zi­na­ti­on für die Welt der Kä­fer ist mir im­mer ein Rät­sel ge­blie­ben, aber sie il­lu­striert gut, was für ein her­vor­ra­gen­der Be­ob­ach­ter er war. Mich ha­ben da­mals auch sei­ne grenz­über­schrei­ten­den Dro­gen­er­fah­run­gen (»An­nä­he­run­gen«) , die teils sur­rea­len an Bor­ges er­in­nern­den Traum­schil­de­run­gen in den Ta­ge­bü­chern und vor al­lem sein Früh­werk (»Afri­ka­ni­sche Spie­le« und »Das aben­teu­er­li­che Herz« ) tief be­ein­druckt. Er war viel­leicht der letz­te Kos­mo­po­lit à la Goe­the und wird ja bis heu­te im Aus­land, und zwar ins­bes. in Frank­reich – Mit­te­rand war er­staun­li­cher­wei­se ein Fan, ja fast ein Freund – mehr ge­schätzt als in sei­nem Hei­mat­land. Üb­ri­gens ganz ähn­lich wie Nietz­sche, zu dem es ja auch sonst noch so ei­ni­ge Par­al­le­len gibt.

  2. Dan­ke für den Kom­men­tar. Jün­ger ist si­cher­lich ei­nes nicht: lang­wei­lig. Sei­ne re­vo­lu­tio­nä­ren Ver­ir­run­gen in den 1920er Jah­ren, die­ses heu­te merk­wür­dig an­mu­tend wi­der­stän­dig-loya­le in Pa­ris und dann die voll­kom­me­ne Keh­re als Wald­gän­ger re­spek­ti­ve An­arch. Letz­te­res hal­te ich für ei­ne ak­tu­ell ad­äqua­te Hal­tung, wenn man nicht ir­re wer­den möch­te. Aber es ist na­tür­lich schwer um­zu­set­zen.

    Jün­ger hat­te als Kind von sei­nem Va­ter ei­nen In­sek­ten­ka­sten ge­schenkt be­kom­men und da­mit »Feu­er« ge­fan­gen. Nach dem Krieg hat­te er ja kurz Zoo­lo­gie stu­diert. Bei den En­to­mo­lo­gen stieß er, wie ich er­fah­ren ha­be, fast im­mer auf Di­stanz, gar Ab­leh­nung. Man hat es halt dort auch nicht so ger­ne, wenn ein Au­to­di­dakt sei­ne Be­gei­ste­rung im Dienst der For­schung ein­zu­stel­len be­reit ist, wäh­rend man sel­ber eher rou­tiert auf die Phä­no­me­ne schaut. Die Fas­zi­na­ti­on für die Kä­fer und die­ser Drang der Ka­ta­lo­gi­sie­rung könn­te man als Wunsch deu­ten, we­nig­stens ei­nen Ab­schnitt der Welt zu sy­ste­ma­ti­sie­ren, zu ord­nen.

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