Mit Ka­no­nes auf Le­ser

Da ist es al­so wie­der: ein neu­er Li­te­ra­tur­ka­non. Dies­mal geht es um »Eu­ro­pas Welt­li­te­ra­tur«. Von Zeit zu Zeit liest der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker die Al­ten so gern, dass man dies un­be­dingt al­len an­de­ren mit­tei­len möch­te. »Rp.« lau­tet die Ab­kür­zung auf den ärzt­li­chen Re­zep­ten und »re­ci­pe« ru­fen die Feuil­le­to­ni­sten in die sich längst ver­zwei­gen­de Leser­schaft hin­ein und stel­len Ärz­ten gleich Re­zep­te ge­gen Le­se­frust und ‑über­druß aber vor al­lem ‑über­fluss aus. Aber wie schon die­ses Ärz­tela­tein nur noch Re­si­du­en ei­nes einst stol­zen Stan­des do­ku­men­tiert, so ver­puf­fen am En­de die Im­pe­ra­ti­ve, Emp­feh­lun­gen oder ein­fach nur gut ge­mein­ten Rat­schlä­ge im »anything goes« der an­geb­lich nach Ori­en­tie­rung äch­zen­den Le­ser­schaft. Und das ist ei­gent­lich gut so.

1978 von Fritz J. Rad­datz be­grün­det und mit ver­blüf­fend trans­paran­ten Kri­te­ri­en, wer­den die In­ter­val­le zwi­schen den im­mer wie­der auf­kom­men­den Ka­nons ge­rin­ger. Und die In­hal­te im­mer red­un­dan­ter. 1997 lö­ste Ul­rich Grei­ner in der »Zeit« ei­ne neue Kanon­debatte aus und frag­te, was Schü­ler le­sen soll­ten. Pro­mi­nen­te be­ant­wor­te­ten die­se Fra­ge und am En­de wur­de ein »Of­fen­ba­rungs­eid« in der Ka­non-Dis­kus­si­on fest­ge­stellt. 2001 be­gann Mar­cel Reich-Ra­nicki sei­nen Ka­non vor­zu­stel­len (Web­sei­te). Er wand­te sich da­bei eher an Er­wach­se­ne, spar­te aber auch nicht mit Vor­schlä­gen für den Schul­un­ter­richt. Da­bei fun­gier­te mal der »Spie­gel« mal die »FAZ« als PR-Ab­tei­lung. 2002 star­te­te die »Zeit« ei­ne wei­te­re Ka­non-De­bat­te. Dies­mal ging es um eher um Kin­der- und Jugend­bücher und 2003 um Ly­rik. Auch Joa­chim Kai­ser woll­te da nicht zu­rück­ste­hen. Ursprüng­lich be­nann­te er 20 Bü­cher, spä­ter dann 1000 . Die Däm­me bra­chen im­mer schnel­ler. 2004 be­gann die »Süd­deut­sche Zei­tung« wö­chent­lich mit der Pu­bli­ka­ti­on ei­nes Ro­mans oder Er­zäh­lung aus dem 20. Jahr­hun­dert. So lie­ßen sich Stan­dard­wer­ke für preis­wer­tes Geld er­wer­ben. Die Crux: ei­ni­ge Au­toren fan­den aus recht­li­chen Grün­den kei­ne Berück­sichtigung; Ver­la­ge und/oder Au­toren (oder Er­ben) un­ter­sag­ten die Ver­öf­fent­li­chung in ei­ner sol­chen Rei­he. Den­noch war die Rei­he, die mehr­fach va­ri­iert wur­de, ein gro­ßer Er­folg. Und ob die Prot­ago­ni­sten nun El­ke Hei­den­reich (die na­tür­lich das Wort »Ka­non« aus­drück­lich ab­lehn­te) oder Hell­muth Ka­ra­sek hie­ßen – man hat­te das Ge­fühl, je­der feu­er­te nun un­ge­fragt sei­ne Ka­no­nes auf die Le­ser. Die­se ka­men vor lau­ter Be­grün­dungs­li­te­ra­tur kaum noch zum Le­sen der ei­gent­li­chen Bü­cher.

Nach ei­ner klei­nen Ru­he­zeit al­so jetzt wie­der ein Ka­non. Die blu­mi­gen Wor­te von Iris Ra­disch ver­mö­gen kaum zu ca­mou­flie­ren: Ka­non-De­bat­ten des Feuil­le­tons dro­hen durch die Wie­der­kehr des na­he­zu Im­mer­glei­chen zur Be­richt­erstat­tung über Kro­ko­di­le in Bagger­seen wäh­rend der Som­mer­zeit zu ver­kom­men: Man zuckt ir­gend­wann nur noch die Ach­seln. Wäh­rend Re­dak­teu­re und freie Schrei­ber in kur­zen Auf­sät­zen mit den ka­no­ni­sier­ten Wer­ken bril­lie­ren dür­fen, weht ein Hauch von Di­dak­tik um den rau­chen­den Le­ser­kopf; manch­mal glaubt man, den Duft der Schul­bän­ke zu rie­chen. Die­se Form der Ran­king-Li­sten sind nicht nur Ver­su­che das Feuil­le­ton als äs­the­ti­sche In­stanz zu re­vi­ta­li­sie­ren bzw. zu kon­ser­vie­ren. Da­bei ist es nicht schlimm, dass sie al­le­samt sub­jek­tiv sind aber mit Ob­jek­ti­vi­tät spie­len. Är­ger­lich ist ein an­de­rer Punkt: Trotz ge­gen­tei­li­ger An­ga­ben wird zwangs­läu­fig ei­ne Voll­stän­dig­keit sug­ge­riert, die jeg­li­che Lust auf das Au­ßer­ge­wöhn­li­che, das Selbst-Ge­fun­de­ne ab­zu­wür­gen droht. Der Blick für das Ab­sei­ti­ge kommt zu kurz. Ein Ka­non sug­ge­riert Ant­wor­ten auf Fra­gen, die nicht be­ant­wort­bar sind. Statt Bü­cher als Aus­gangs­po­si­tio­nen für ei­ge­ne Ent­deckungs­rei­sen in der Li­te­ra­tur zu ma­chen und die aus­ge­leg­ten Spu­ren neu­gie­rig auf­zu­neh­men, wer­den dem Le­ser Li­sten prä­sen­tiert, die ei­ne neue Über­sicht­lich­keit in der un­über­sicht­li­chen Li­te­ra­tur­welt vor­spie­geln. Statt den Le­ser sich selbst bil­den zu las­sen, wird er »ver­bil­det« (frei­lich gut ge­meint und mit eh­ren­haf­ten Ab­sich­ten) . Die Er­fah­rung des »schlech­ten Bu­ches« und/oder das Schei­tern an und mit ei­nem Werk soll ihm er­spart wer­den. Aber ge­ra­de dies wä­re wich­tig.

Ein Ka­non im­pli­ziert ein Ver­spre­chen: wer ihn ge­le­sen hat ist ein bes­se­rer Mensch. In post­mo­der­nen Zei­ten ge­nügt zu­nächst ein­mal der Be­sitz, um we­nig­stens das Fe­ge­feu­er zu er­rei­chen. Und so hat denn viel­leicht der Han­del was da­von (und nicht nur Ama­zon, hof­fent­lich). Der Le­ser kann Ka­non-Dis­kus­sio­nen längst über­schla­gen. Und ein Buch zur Hand neh­men.

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  1. Ich be­trach­te die­se Ka­no­ni­tis we­ni­ger als ein Ver­spre­chen als ei­ne Dro­hung. In ihr fin­den zwei For­men des Schreckens zu­sam­men: die un­end­li­che Ge­samt­heit der Welt­li­te­ra­tur mit­samt der Ohn­macht, tat­säch­lich nicht al­les ge­le­sen ha­ben zu kön­nen, und ei­ne Aus­gren­zung von Wer­ken, die die Vor­stel­lungs­welt der Ka­no­ni­ker über­stei­gen und da­mit zu­gleich ih­re Ohn­macht vor dem Phä­no­men der Fas­zi­na­ti­on be­le­gen. Denn ihr wird durch je­den Ka­non der Gar­aus be­rei­tet.

    Wer den Ka­non aus­ruft, be­sie­gelt die ei­ge­ne Ka­pi­tu­la­ti­on.

  2. Ich freu’ mich schon so auf die Aus­ga­be, in der das Kehl­mann ka­no­nisch wird! Spä­te­stens da­mit ist die All­ge­mein­gül­tig­keit des Schwach­sinns end­lich eta­bliert! :-)

  3. Schon klar, die­se Groß­kri­ti­ke­rat­ti­tü­den ha­ben et­was An­ma­ßen­des, Klein-Den­ken­des – da­zu die In­si­nua­tio­nen, so was los­zu­tre­ten. Aber was ist mit den di­ver­sen Be­dürf­nis­sen nach Ori­en­tie­rung? Je­de Dis­zi­plin will sich doch ab und an mal in ei­nem grö­ße­ren Ra­ster ih­res Stan­des ver­si­chern. Und im­mer noch gibt es Le­ser, die man­gels ei­ge­ner Über­sicht ger­ne den kom­pe­ten­ten (oder den we­nig­stens zeit­lich gut ab­ge­han­ge­nen) Rat an­de­rer an­neh­men, da sie ah­nen, dass sie mit Best­sel­ler­li­sten und Buch­preis-Ge­tö­se nur die von ei­nem Markt An­vi­sier­ten aber nicht die Gut­be­ra­ten­den sind.

    Und was ist mit den Wün­schen nach „Eva­lua­tio­nen“, nach Nach­hal­tig­keit, nach den auch mal öf­ter wie­der zu ak­tua­li­sie­ren­den Be­wer­tungs­kri­te­ri­en, de­nen man sel­ber doch auch über­all un­ter­liegt, auch oh­ne den gan­zen Hit­pa­ra­den­schwach­sinn, an de­nen Men­schen sich bei ih­ren Über­for­de­run­gen aber ger­ne aus­rich­ten? Was ist mit dem ei­ge­nen Ka­non, den doch je­der für sich hat? (Und den auch pro­fes­sio­nel­le Kri­ti­ker ger­ne mal un­ter­ein­an­der ab­glei­chen.) Was ist mit der Su­che nach Ge­mein­sam­keit? Was ist mit dem Recht (der Chan­ce) mal wie­der auf De­bat­te?

    Um von mir zu re­den: Auch ich hat­te das ei­gent­lich nur mal so über­flie­gen wol­len, merk­te aber auf ein­mal, dass ich (z.B. – Mi­chel Bu­tor) schlicht ver­ges­sen hat­te – und fin­de ihn, als ich ihn aus dem Re­gal zie­he, wie­der le­sens­wert. Auch die SWF-Be­sten­li­sten­sen­dung da­mals ha­be ich ab und zu an­ge­se­hen: Zur ei­ge­nen Ori­en­tie­rung kann auch die­nen, was die an­de­ren (und sei es noch so ver­irr­ter­wei­se) da­für hal­ten.

    Das Ab­sei­ti­ge wird das Ab­sei­ti­ge blei­ben, das schlech­te Buch hat doch gar nicht die Halb­werts­zeit, als Mar­ker zu die­nen. Ich den­ke, man muss doch bei all der neu­en al­ten Un­über­sicht­lich­keit zu­ge­ben, dass die­ser Be­darf nach Über­sicht nicht weg­zu­lä­cheln ist. Ich je­den­falls miss­traue längst mei­ner ei­ge­nen, lan­ge ein­ge­bil­de­ten Ken­ner­schaft. Zwar schaue auch ich da nicht gleich nach dem hilf­rei­chen Ran­king. Aber er­tap­pe mich im­mer öf­ter bei dem (mal so, mal so emp­fun­de­nen) Ein­ge­ständ­nis: Ich ken­ne mich nicht mehr aus.

  4. @en-passant
    Ja, schon. Da ist die­ses Be­dürf­nis nach Ori­en­tie­rung. Aber durch wen wird es »be­dient«? Und was ist so ori­gi­nell bei Reich-Ra­nickis Ka­no­na­den, Goe­the, Schil­ler, Kleist und Hei­ne zu emp­feh­len? Oder Ka­ra­seks Emp­feh­lungs­ka­non? Wo ist da die ei­ne Ent­deckung? Oder, wenn schon, das ei­ne ori­gi­nel­le Ele­ment? Nir­gends.

    Ein­ver­stan­den, dass man über das re­det, was Schü­ler le­sen könn­ten (oder soll­ten?). Aber wer re­det dar­über, wie Leh­rer Li­te­ra­tur ver­mit­teln kön­nen? Wie sie dem Schü­ler nicht durch Über­in­ter­pre­ta­tio­nen die Li­te­ra­tur ver­der­ben? Als kä­me es auf die Bü­cher an. Wie­vie­le kann man da­von im Un­ter­richt le­sen? Das Schlim­me: Li­te­ra­tur wird im­mer noch von Men­schen, die ich sehr schät­ze, mit »spit­zen Fin­gern« an­ge­fasst. Sie sind nicht da­von ab­zu­brin­gen, dass es sich um eli­tä­res Ge­schreib­sel han­delt. Um es sa­lopp zu for­mu­lie­ren: Sie sind durch den Schul­un­ter­richt trau­ma­ti­siert (ich ken­ne das in Be­zug auf Sport). Wird das durch ei­nen Ka­non ver­än­dert? Am En­de ist das doch wie ein gu­ter Vor­satz zum Jah­res­an­fang: Nach drei Wo­chen hat man’s wie­der ver­ges­sen.

    Na­tür­lich glei­che ich auch die­se Li­sten ab und schaue, was ich da­von ge­le­sen ha­be – und was nicht. Ich hal­te es auch für gut, dass ein Buch wie Ivo An­drićs »Brücke über die Dri­na« in ei­nem »eu­ro­päi­schen Ka­non« steht. Aber ich ha­be mit dem Ver­schen­ken die­ses Bu­ches nur Schiff­bruch er­lit­ten: Ein­mal nann­te man es zu bru­tal und ein an­der­mal zu »an­spruchs­voll«. Was nutzt ein Ka­non, wenn die Bau­stei­ne für ein Ver­ständ­nis von Li­te­ra­tur feh­len?

    Die SWF-Be­sten­li­ste-Sen­dung (mit Hu­bert Win­kels auf 3sat) hat­te ich auch im­mer ge­se­hen. Zu­mal sie un­ter­schied­li­che Her­an­ge­hens­wei­sen zeig­te (Au­toren­ge­spräch; Re­zen­si­on; Le­sung; Kri­ti­ker-Streit­ge­spräch). Aber auch ei­ne sol­che Sen­dung ist mehr als blo­ßer »Tip­ge­ber«; sie rich­te­te sich an den (so­ge­nann­ten) »fort­ge­schrit­te­nen« Le­ser. Kon­su­men­ten für Un­ter­hal­tungs­li­te­ra­tur konn­ten da­mit nichts an­fan­gen. Ein Ka­non ist ein Wi­der­spruch in sich: Der wirk­lich an­spruchs­vol­le Le­ser »spielt« mit ihm höch­stens (als Ver­gleichs­me­di­um). Der­je­ni­ge, der zum Le­sen ge­bracht wer­den soll, kann we­nig bis nichts da­mit an­fan­gen.

  5. Es gibt doch gar nicht EINEN Ka­non, son­dern vie­le. So­lan­ge ich sie de­skrip­tiv wahr­neh­me fin­de ich sie auch in­ter­es­sant und oft so­gar er­hei­ternd: Reich‑R und sei­ne Jün­ger fin­den das und das soll­te man ge­le­sen ha­ben, aus dem und dem Grund usw. Erst wenn Sie nor­ma­tiv auf­tre­ten oder von drit­ten da­zu her­an­ge­zo­gen wer­den, al­so wenn doch ein An­spruch auf EINEN Ka­non er­ho­ben wird, wirds auch ha­ke­lig – und noch in­ter­es­san­ter, weil wir dann mit­ten in al­len mög­li­chen Dis­kus­sio­nen stecken, über un­ser Kul­tur­ver­ständ­nis, un­ser Bil­dunsg­ver­ständ­nis, über de­ren Ver­mitt­lung usw. usf. In­ter­es­sant auch, dass seit PISA usw. die Ka­non­de­bat­te wie­der ei­ne ist (Fre­quenz).

  6. Wer for­dert von ei­nem Ka­non Ori­gi­na­li­tät? So wie ich ihn ver­ste­he (oder eben: bis­her zu ver­ste­hen ge­wohnt bin), geht es da eher um Ver­bind­lich­kei­ten – die dann auch je­der­mann wie­der­um Spiel­räu­me bie­ten. Selbst der Be­flis­sen­ste wird sei­ne Vor­lie­ben ja mit den ihm vor­ge­schla­ge­nen ab­glei­chen wol­len.

    An den Aspekt der da­mit ver­bun­de­nen Ver­mitt­lung – die dann ja wie­der­um ein an­de­rer, ein ziel­ge­rich­te­ter Akt wä­re -, ha­be ich da noch gar nicht ge­dacht. Of­fen ge­stan­den: das in­ter­es­sier­te mich auch nicht. Auch hier war es Ra­disch, die mal vor Län­ge­rem kon­sta­tier­te (und ich stim­me da­mit über­ein), dass Li­te­ra­tur eben nicht für al­le ist – und war­um soll man an­de­ren mehr ab­ver­lan­gen als die von sich selbst be­reit sind? We­gen dem Ge­spenst der ei­ge­nen Bil­dung in den Köp­fen der Wis­sen­de­ren?

    All die­se ent­täu­schen­den Fern­seh­sen­dun­gen et­wa (die mit dem Kul­tur­auf­trag noch ir­gend­wo in den Staats­ver­trags­ku­lis­sen), die mit du­bio­sen Pro­mi­nen­ten ir­gend­wel­ches „Le­sen“ be­för­dern wol­len und de­ren Ka­non die halb­jähr­li­che Sai­son und das Gen­öle über de­ren me­di­al ein­zu­spei­sen­de Stars und Pflicht­mar­ken ist – mit Ver­laub: Für’n Arsch!

    (Erst heu­te war mal wie­der ei­ne Mel­dung bei te­le­po­lis, dass sich die kul­tu­rel­len Fer­tig­kei­ten weg von den sprach­li­chen ent­wickeln – wo­hin auch im­mer. Und je­der, der sich da­mit ver­sucht, weiß si­cher auch, dass er da mit sei­nen „Ka­no­nen“ ge­gen Wind­müh­len kämpft. Und manch­mal hat man [ha­be ich] für die­se Don Qui­chot­tes ja doch ge­wis­se Sym­pa­thien.)

    Und das mit dem eli­tä­ren Ge­schreib­sel – stimmt es denn nicht? Wenn sich ein Mensch, der sich da­zu ei­gens über Jah­re zu­rück­zieht um sich skru­pu­lö­se, kom­pli­zier­te Ge­dan­ken über sei­ne Le­bens­er­fah­run­gen oder ir­gend­wel­che Hirn­ge­spin­ste und ih­re mög­li­cher­wei­se äs­the­ti­sche Auf­be­rei­tung zu ma­chen und zu ver­su­chen, dem dann auch noch ei­ne ei­ge­ne oder gar in­no­va­ti­ve Form zu ge­ben – war­um soll­ten sol­che Ela­bo­ra­te per se an­de­re in­ter­es­sie­ren, die doch nur ei­nen Knopf zu drücken brau­chen und bun­te Nar­ra­ti­ve be­kom­men, die ih­nen die Welt auf der si­che­ren Sei­te der Mehr­hei­ten be­stä­tigt?

    Ich ken­ne tat­säch­lich je­man­den, der sich schon im­mer – und durch­aus be­wusst über das Lä­cheln hier und da über sei­ne „deut­sche“ Ge­wis­sen­haf­tig­keit – an die Aus­sa­gen der maß­geb­li­chen Leu­te macht – frü­her auch ger­ne auch MRR – und dar­aus Nut­zen zog / zieht. Es ist für ihn schlicht ein an­ge­wand­tes Er­kennt­nis­sy­stem zwei­ter Ord­nung: Da ha­ben sich an­de­re, Wis­sen­de­re al­so schon Mü­hen ge­macht… war­um in ei­ner ar­beits­tei­li­gen Ge­sell­schaft nicht da­von pro­fi­tie­ren? Die al­te Idee des Kri­ti­kers eben – der dann eben auch noch die Sor­tie­rung der Bri­ketts an sei­nem Ka­no­nen­ofen of­fen legt.

    Dass im­mer mehr User auf sämt­li­chen Be­die­nungs­ober­flä­chen all­zu bald auf sich sel­ber ver­trau­en glau­ben zu dür­fen (es zu kön­nen), wird ja ger­ne als „Eman­zi­pa­ti­on des Pu­bli­kums“ an­ge­se­hen – ist es al­so Em­power­ment der Mas­sen oder nur de­ren neue­re (die al­te) Igno­ranz? Ich ver­mu­te, auch das wird die un­se­li­ge Quo­te dann je und je ent­schei­den.

    (Und mir fällt ge­ra­de ein: Sie mit Ih­rer ja um­so not­wen­di­ge­ren Ar­beit des Sich­tens und Be­wer­tens für ei­ne Min­der­heit – und da­mit al­so ei­ner ei­ge­nen Ge­wis­sen­haf­tig­keit -, geht sie, die­se Ar­beit, im­pli­zit nicht auch um ei­nen Ka­non? Auch oh­ne den An­spruch ei­ner weit­rei­chen­de­ren Gel­tung? Viel­leicht müss­te man „Ka­non“ nur an­ders­rum ver­ste­hen: je­der bil­det nach und sei­nen ei­ge­nen – und al­le zu­sam­men prä­gen ihn fak­tisch dann so­wie­so aus. Da wä­ren die Über­le­gun­gen zum Ka­non von „Li­te­ra­tur-Päp­sten“ und Nach­fol­gern dann eben Be­gleit­mar­ken, die die Dis­kus­si­on dar­über am Le­ben hal­ten hel­fen. Wirk­lich stö­ren wer­den sie da­mit wohl nicht.)

  7. @en-passant
    Was ist denn ein Ka­non? Ei­ne »TO-DO-Li­ste« des li­te­ra­turaf­fi­nen Bil­dungs­bür­gers? Wenn ich die man­geln­de Ori­gi­na­li­tät kri­ti­sie­re, dann hat mit der Ba­na­li­tät von Emp­feh­lun­gen wie Goe­thes »Faust« oder Tho­mas Manns »Zau­ber­berg« zu tun. Steht ei­gent­lich im Knig­ge, dass man sich nach dem Toi­let­ten­gang die Hän­de wa­schen soll? (Ich weiss, dass das heu­te auch nicht im­mer prak­ti­ziert wird, aber -?) War­um müs­sen Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten mit Brim­bo­ri­um »ka­no­ni­siert« wer­den?

    Ich bin nicht der Mei­nung, dass Li­te­ra­tur per se eli­tär ist. Viel­leicht ist der Dich­ter das (ge­we­sen), aber – ich stra­pa­zie­re es noch ein­mal -: ist der »Faust« eli­tär? Min­de­stens »Faust I« ist für je­den gu­ten Wil­lens (und ent­spre­chen­der Bil­dung) ver­ständ­lich. (Mir kommt ge­ra­de der Ge­dan­ke, dass man Bil­dung schon als eli­tär fin­den könn­te. Tat­säch­lich ist es ja kei­ne kein Pro­blem mehr sein Un­wis­sen in zum Teil tri­via­len Din­gen zu be­ken­nen.)

    Das Bild von der Sor­tie­rung der Bri­ketts ge­fällt mir sehr gut (ich bin mit Koh­len­öfen auf­ge­wach­sen – und der ent­spre­chen­den Pa­ti­na auf den Ge­gen­stän­den in den Räu­men). Nach dem oben Ge­sag­ten stört mich dann ein­fach der dau­ern­de Hin­weis des Sor­tie­rers, wo die gro­ßen und die klei­nen Bri­ketts lie­gen. Als sei dies nicht halb­wegs ein­deu­tig.

    In­ter­es­sant was Sie zu mei­nen Be­gleit­schrei­ben sa­gen. Aber ich glau­be, das ist ei­ne Ver­wäs­se­rung des Ka­non-Be­griffs. Das, was ich le­se (und dann be­schrei­be) ist zum Teil zu­fäl­lig und ei­ne höchst sub­jek­ti­ve und zu­wei­len spon­ta­ne Aus­wahl, die al­lei­ne schon auf­grund des ama­teur­haf­ten die­ses Un­ter­neh­mens kei­ner­lei pro­gram­ma­ti­schen oder ge­ne­ra­li­sie­ren­den An­spruch er­he­ben kann. Wenn man dies als Ver­such ei­nes ei­ge­nen Ka­non in­ter­pre­tie­ren wür­de, wä­re je­de Lek­tü­re prak­tisch ein Mo­sa­ik­stein­chen, das am En­de ein Bild er­gibt. Das ist aber eher nicht der Fall – und auch gar nicht be­ab­sich­tigt. Es ist ei­gent­lich mehr das, was Sie ein biss­chen ver­ächt­lich als »Eman­zi­pa­ti­on des Pu­bli­kums« nen­nen. Das, was ich ma­che, ist ei­ne Selbst-Eman­zi­pa­ti­on von ok­troy­ier­ten Zu­gän­gen zur Li­te­ra­tur (zu­ge­ge­ben mit durch­aus in­ter­es­sier­ten Sei­ten­blicken zu den »Mei­stern«). Ich ge­ste­he, in­zwi­schen nur noch sehr we­ni­ge so­ge­nann­te Re­zen­sio­nen im Feuil­le­ton zu le­sen. Ist das schon Hy­bris?

    Und na­tür­lich ist Li­te­ra­tur nicht durch­gän­gig für al­le da. Ob­wohl man den »Faust« ver­ste­hen kann und soll­te. Aber wenn man es nicht will, ist es auch gut. Aber da­mit er­reicht man dann auch mit ei­nem Ka­non kei­nen neu­en Zu­gang.

    Wenn über­haupt ein »Ka­non« dann ei­ner der ab­sei­ti­gen Bü­cher, der nicht ein­gän­gi­gen und so un­end­lich be­kann­ten. Ein sol­cher Ka­non än­dert sich auch. Al­so al­les das, was die Be­rufs­ka­no­ni­ker nicht so ger­ne ha­ben.

  8. Ich will jetzt ab­sicht­lich nicht nach­se­hen wo­her „Ka­non“ ety­mo­lo­gisch stammt – ich ver­ste­he es als et­was kul­tu­rell Ge­mein­sa­mes, auf das sich Ge­schmack, Über­lie­fe­rung und ge­sell­schaft­li­che Be­mü­hun­gen mal ei­ni­ger­ma­ßen ge­ei­nigt ha­ben. Ei­ne Qua­li­täts­ori­en­tie­rung auch. Find ich ei­gent­lich nichts Schlech­tes – man merkt erst, was mit ei­ner Sa­che ver­lo­ren ging, wenn sie fehlt.

    Was Sie mit Ih­ren Bei­spie­len ba­nal nen­nen ist z.B. ziem­lich ge­nau, was et­wa mein Va­ter noch dar­un­ter ver­steht: Goe­the und Mann blei­ben für ihn die Größ­ten (ob­wohl er al­les, was ich ihm zu le­sen ge­be ver­schlingt und auch kri­ti­sie­ren kann: Er hat, nicht zu­letzt mit sei­nen fi­xen aber eben­so ei­ne Of­fen­heit för­dern­den Re­fe­ren­zen, sein In­stru­men­ta­ri­um).

    Wei­ter aus mei­ner Sicht: Als ich vor et­wa 10 Jah­ren noch mal ei­ne her­aus­for­dern­de Bil­dungs­an­stren­gung un­ter­nom­men ha­be (in ei­ner al­ler­dings de­zi­dier­ten mo­der­nen Dis­zi­plin) kam ein­mal die Spra­che auf die Spra­che bzw. das mo­der­ne Un­ver­mö­gen da­mit: Al­le hat­ten sich über an­geb­lich kom­pli­ziert zu le­sen­de Ar­beits­tex­te be­klagt. Ich war der Äl­te­ste un­ter et­wa 12 Leu­ten, und als ich ein­mal, schüch­tern, als Bei­spiel, Tho­mas Mann er­wähn­te, stöhn­ten al­le auf und ver­war­fen dann auch prompt, was ich sonst wäh­rend die­ser Ver­an­stal­tung noch von mir zu ge­ben hat­te. Der Ka­non war al­so nicht nur, dass sei­ne ehe­ma­li­ge Ver­bind­lich­keit schon nicht mehr an­er­kannt wur­de, son­dern auch, dass man sie aus­drück­lich ver­wei­ger­te – üb­ri­gens aus völ­lig un­re­flek­tier­ten Grün­den. So what. Viel­leicht wird ja ein­mal Har­ry Pot­ter der Ka­non sein? Den liest ja an­schei­nend je­der. – Was ich da­mit sa­gen will, ist: Ih­re Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten se­he ich schon gar nicht mehr. Es könn­te den­noch wei­ter­füh­rend sein, auf wel­che zu be­stehen, oder zu­min­dest auf sie zu ver­wei­sen. (Än­dert wird es wohl nichts.)

    Nein, Li­te­ra­tur ist auch für mich nicht eli­tär. Ich ha­be mal je­man­dem, der aus­drück­lich kei­ne Bü­cher las, ei­nes von Pe­ter Bich­sel ge­ge­ben – er fragt mich heu­te noch nach Le­se­tipps.

    Aber Ein­deu­tig­kei­ten se­he ich tat­säch­lich auch nicht mehr – ich se­he per­sön­li­che In­ter­es­sen und Neu­gier­den, schlich­te Zu­fäl­le oder eben me­di­en­an­ge­reg­tes Le­sen. (Wie jetzt die Shades of grey, die über­all ver­ris­sen wer­den, über die trotz­dem aber al­le schrei­ben müs­sen und den al­so ganz vie­le le­sen wer­den usw., so, wie die Ma­schi­ne eben geht.)

    Ei­gent­lich meint das dann: Der Ka­non­be­griff selbst ist tat­säch­lich ver­wäs­sert. Schon in der Hal­tung ge­gen­über dem, was er meint. (Als ich ein­mal beim Zap­pen in ei­ner Quiz­sen­dung an ei­ner mich neu­gie­rig ma­chen­den Fra­ge hän­gen blieb, war die näch­ste gleich wie­der et­was aus dem TV-Tri­vi­al-Be­reich – ich ver­stand: Ich bin es, der ei­nem Ka­non – hier: ei­nem schlich­ten com­mon sen­se an All­tags­wis­sen – nicht ge­recht wer­de.)

    ABER: Ich bin auch Pu­bli­kum! Und mir ha­ben sie in der Schu­le noch zu ver­sa­gen ver­sucht, was an Schund ich doch bes­ser erst gar nicht an mich ran­las­se (u.a. auch noch Co­mics, die heu­te als 7te – oder 9te? – Kunst pro­pa­giert wer­den; »gra­phic no­vel«). Das mit der „Eman­zi­pa­ti­on des Pu­bli­kums“ war al­so nicht ver­ächt­lich ge­meint. Es geht viel mehr, eu­phe­mi­stisch ge­spro­chen, um das für mich oft un­be­frie­di­gend aus­ge­hen­de Ver­hält­nis von Mehr- und Min­der­hei­ten, und wie „mit den Fü­ßen ab­ge­stimmt wird“, bald auch über die jetzt noch mög­li­che (im zur Dis­po­si­ti­on ste­hen­den Ge­schäfts­mo­dell) vor­kom­men­de Li­te­ra­tur.

    Ein Ka­non des Ab­sei­ti­gen ist na­tür­lich ein Wi­der­spruch in sich – ob­wohl es ihn wohl auch gibt. (Mir fal­len da so­fort die üb­li­chen Ver­däch­ti­gen ein. Gähn!)

    Ein Ka­non im her­kömm­li­chen, »über­lie­fer­ten« Sin­ne aber, als ideel­les, ge­mein­schafts-iden­ti­tä­res Ge­bil­de, könn­te wo­mög­lich doch hel­fen, ein Mi­ni­mum an Ver­bind­lich­kei­ten zu hal­ten. – War­um nicht, wenn die Sa­la­fi­sten auch ih­ren Ko­ran ver­tei­len? Ich fürch­te nur (und das ist oh­ne ei­ge­nen Bit­ter oder so ge­sagt), zu Ih­rem Faust und Tho­mas Mann reicht es schon jetzt nicht mehr.

  9. @en-passant
    For­mal ist ein Ka­non ge­nau das, was Sie be­schrei­ben. Aber die Fre­quenz der Re­stau­ra­ti­on (!) des Ka­no­ni­schen zeigt, dass der Fir­nis ab­ge­blät­tert ist. In­so­fern hät­ten Sie recht und mei­ne The­se des Selbst­ver­ständ­li­chen wä­re zu hoch ge­grif­fen, weil nicht mehr oder kaum noch exi­stent. Aber dar­um geht es doch: Wie sol­len ih­re elf Mit­strei­ter auf Tho­mas Mann »ver­gat­tert« und von ihm über­zeugt wer­den? Die Ver­stän­di­gung funk­tio­niert nicht mehr. Und dies aus zwei Grün­den: zum er­sten auf­grund der Ver­fla­chung des Kul­tu­rel­len. Zwar gibt es noch treff­lich groß­ar­ti­ge In­tel­lek­tu­el­le, die mit­ein­an­der und un­ter­ein­an­der (auch öf­fent­lich) kom­mu­ni­zie­ren. Aber die sind längst in die dann tat­säch­lich eli­tä­re Ni­sche ab­ge­drängt wor­den. Der an­de­re Grund ist der In­ter­es­san­te­re: Es ist nicht mehr not­wen­dig über »ka­no­ni­sches Wis­sen« zu ver­fü­gen, um et­was zu »gel­ten«. Fast ist so­gar das Ge­gen­teil der Fall: Es ist eher stö­rend, gilt als »ab­ge­ho­ben« und er­laubt so dem Main­stream die De­nun­zia­ti­on all des­sen, was er nicht auf An­hieb ein­ord­nen und ver­ste­hen kann (wie­der passt da das Bei­spiel der 12 und der an­geb­lich so schwie­ri­gen Ar­beits­tex­te).

    Aber was soll da noch ein Ka­non be­wir­ken? Wen soll er er­rei­chen? Die Neu­rei­chen, die auf Di­stink­ti­ons­ge­winn durch die üp­pi­ge Wohn­zim­mer­wand re­flek­tie­ren? Oder der Har­ry-Pot­ter-so­zia­li­sier­te Ab­itu­ri­ent, der jetzt end­lich ge­sagt be­kommt, was er ei­gent­lich hät­te gut fin­den müs­sen und statt­des­sen bei Vam­pir-Ro­ma­nen an­ge­kom­men ist?

    Da­mit ich nicht falsch ver­stan­den wer­de: Et­was wie ei­ne ge­mein­sa­me Lek­tü­re­er­fah­rung für den Li­te­ra­tur­in­ter­es­sier­ten exi­stiert durch­aus. Aber nicht als Po­stu­lat oder gar in Dünn­druck­aus­ga­be. Es exi­stiert als eher vir­tu­el­le Über­ein­kunft. Da­her war ich auch schockiert, als ei­ne Literaturclub-»Kritikerin« (Dok­to­rin!) frei­mü­tig ge­stand, noch nie et­was von Kleist ge­le­sen zu ha­ben. Das un­ter­schwel­lig vor­aus­ge­setz­te Wis­sen um »Ba­sis-Li­te­ra­tur« er­mög­licht na­tür­lich erst ei­nen Re­fe­renz­rah­men für Ur­tei­le (wie Sie es bei Ih­rem Va­ter be­ob­ach­ten). Aber was ist, wenn die­je­ni­gen, die heu­te von und über Li­te­ra­tur (be­rufs­mä­ssig) re­den, die­sen all­ge­mei­nen, vor­aus­ge­setz­ten Re­fe­renz­rah­men nicht mehr zur Ver­fü­gung ha­ben?

    Manch­mal über­kommt mich das Ge­fühl, die­ser Ver­such des Wie­der­ho­lens ei­ner längst ver­gan­ge­nen Ernst­haf­tig­keit ge­schieht als ei­ne Art Tä­tig­keits­nach­weis des Feuil­le­tons: Man möch­te noch­mal dar­auf hin­ge­wie­sen ha­ben. Die Fre­quenz der Neu­auf­la­gen lässt wo­mög­lich ah­nen, wie es tat­säch­lich steht.

    Hand­ke hat­te in den 80er Jah­ren noch von dem »Volk der Le­ser« ge­schwärmt bzw. es her­bei­ge­sehnt. Er sah es vor al­lem in Deutsch­land; es gibt meh­re­re Text­stel­len hier­über. Ir­gend­wo sprach er mal von 30.000 Leu­ten, die die­sem ima­gi­nä­ren, ver­spreng­ten »Volk« ab­ge­hör­ten. Mit­te der 90er be­en­de­te er die­ses Ide­al in der »Nie­mands­bucht«. Viel­leicht hat je­mand an­de­re, ak­tu­el­le­re, nicht so idea­li­sier­te Zah­len. Ich glau­be, dass es nicht mehr als rd. 15.000 Men­schen in Deutsch­land sind, die sich halb­wegs se­ri­ös mit Li­te­ra­tur be­schäf­ti­gen. Da­von sind dann noch et­li­che Uni-Mit­ar­bei­ter und na­tür­lich ganz viel Pres­se. Wer braucht da noch ei­nen Ka­non?

  10. Nie­mand braucht ei­nen Ka­non, wirk­lich nie­mand. Die Lek­tü­re­bio­gra­phie je­des Men­schen ist ab­so­lut sub­jek­tiv und per­sön­lich. Ich ver­wei­se hier nur ne­ben­bei auf die 30 prä­gen­den Bü­cher des Al­ban Herbst:

    http://albannikolaiherbst.twoday.net/topics/PR%C3%84GUNGEN/

    Das sind ganz unk­a­no­ni­sche Bü­cher zum Teil, aber den Herbst ha­ben die ge­prägt und er be­schreibt den Pro­zess der Prä­gung durch ge­nau die­se Bü­cher so gut, dass man ein Bild da­von be­kommt, was Bü­cher für die ei­ge­ne Le­bens­füh­rung be­deu­ten kön­nen. Ge­nau so ha­be ich das auch er­lebt, bloß mit ganz an­de­ren Bü­chern. Des­we­gen wür­de ich auch ei­ner Frau, sei sie nun Dok­to­rin oder nicht, nicht ab­spre­chen, dass sie sich se­ri­ös mit Li­te­ra­tur aus­ein­an­der­setzt, bloß weil sie Kleist nicht kennt. Ich sel­ber lie­be Kleist und den Prinz von Hom­burg hal­te ich für das be­ste Thea­ter­stück über­haupt, ach­te ihn hö­her als den Faust, aber ich wür­de nie sa­gen, dass ei­ner, der mei­nen ge­lieb­ten Kleist nicht kennt, nicht über Li­te­ra­tur spre­chen darf, weil er (bzw. sie) ja au­gen­schein­lich nicht mit dem Ka­non der all­ge­mei­nen Bil­dung ver­traut ist. Mei­ne ehr­li­che Mei­nung: Schmelzt die Ka­no­nes ein zu Pflug­scha­ren!

  11. Der Zweck des Ka­nons in der »Zeit« ist es, Sei­ten zu fül­len und zu­gleich dem ei­ge­nen An­spruch, ein Kul­tur-Blatt und ei­ne Mei­nungs­füh­re­rin zu sein, ge­recht zu wer­den. Der Ka­non von MRR dient zum Bei­spiel da­zu, um sich wich­tig zu ma­chen.

    Zweck ei­nes Ka­nons kann es auch sein, dass er­fah­re­ne­re Le­ser je­nen, die mit dem Zu­gang zu dem, was man tra­di­tio­nell als Kul­tur be­greift Schwie­rig­kei­ten ha­ben sinn­vol­le Ein­stiegs­hil­fen und Grund­la­gen zu ge­ben, die sich bei ei­ni­gen an­de­ren be­währt ha­ben. So ist es für be­stimm­te Lek­tü­ren des 20. Jahr­hun­derts hilf­reich, be­stimm­te an­de­re des 19. Jh. ge­le­sen zu ha­ben, um so bes­ser zu ver­ste­hen, was und war­um es die spä­te­ren Au­toren so ma­chen. Na­tür­lich ist die Kennt­nis des Ka­nons kei­ne un­ab­ding­ba­re Vor­aus­set­zung für ir­gend­was, son­dern ei­ne Hil­fe­stel­lung, wenn sie er­wünscht wird.

    Die Bil­dungs­dis­kus­si­on, die ihr, wenn ich das rich­tig le­se, hier zum The­ma macht (ob­so­let oder nicht ob­so­let; in­di­vi­du­ell oder so­zi­al; ge­lenkt oder selbst­stän­dig), ist ge­ra­de am Fall des Ka­nons un­ge­schickt zu füh­ren, da des­sen Vor­aus­set­zun­gen stark in je­weils ei­ner Sei­te die­ser Di­cho­to­mien wur­zeln. Der funk­tio­na­le Ka­non als Ar­beits­grund­la­ge und Sen­kung der Zu­gangs­schwel­le wird da­von aber gar nicht be­rührt, wenn ich mich nicht ir­re.

  12. @Andreas Wolf
    Ih­re Aus­sa­ge, dass nie­mand ei­nen Ka­non braucht mit den 30 prä­gen­den Bü­chern ei­nes Schrift­stel­lers zu be­ant­wor­ten ist – kühn.

    Wich­ti­ger: Ei­ne pro­mo­vier­te Ger­ma­ni­stin kann wo­mög­lich ganz oh­ne Kleist (viel­leicht so­gar oh­ne Goe­the oder Hein­rich Hei­ne) aus­kom­men. Sie soll­te sich dann je­doch nicht in die Rol­le der Kri­ti­ke­rin be­ge­ben und un­ter Um­stän­den Bü­cher be­gut­ach­ten, de­ren Re­fe­renz­rah­men sie wo­mög­lich gar nicht kennt. Das ist in et­wa so, als wüss­te ein In­ter­nist nichts über die Funk­ti­ons­wei­se der Milz.

    @Bonaventura
    Viel­leicht ist es ir­gend­wann ein Selbst­läu­fer das Ka­non-Dis­kuss­sio­nen in Bil­dungs-Dis­kus­sio­nen über­ge­hen. Da­bei wä­re man der Wich­tig­tue­rei der Kul­tur­blät­ter auf den Leim ge­gan­gen. Den­noch glau­be ich, dass es am En­de auch ei­ne Fra­ge von Ver­mitt­lung von Bil­dung ist, ob Tho­mas Mann als zu »kom­pli­ziert« ge­se­hen wird. Ich zweif­le eben nur dar­an, dass man mit Ka­nons die­sem Pro­blem ge­recht wird.

  13. Wahr­schein­lich soll der Ka­non die­sem Pro­blem auch gar nicht ge­recht wer­den. Er ist nur ein Hilfs­mit­tel, um die tat­säch­lich vor­han­de­ne, grund­sätz­li­che Schwie­rig­keit der Ein­tritts­schwel­le in die Hoch­kul­tur (man de­mon­tie­re mir bit­te jetzt nicht die­se Phra­se; mir ist klar, dass das so Un­fug ist, aber hier ist nicht der Ort oder der Raum, das so aus­zu­for­mu­lie­ren, wie es sich ge­hö­ren wür­de) ab­zu­mil­dern, nicht zu lö­sen. Der Ka­non al­lein hilft auch gar nicht, son­dern er muss ein­ge­stellt sein in ei­ne brei­te­re Be­mü­hung der Kul­tur­ver­mitt­lung. Am En­de ist das al­les nur ei­ne ma­kro­sko­pi­sche Wi­der­spie­ge­lung des her­me­neu­ti­schen Zir­kels: Die Hoch­kul­tur ist nur je­nen wirk­lich zu­gäng­lich und ver­ständ­lich, die sie voll­stän­dig er­fas­sen kön­nen, aber er­fas­sen und ver­ste­hen kann man im­mer nur ein­zel­ne Wer­ke, Epo­chen, Aspek­te der Hoch­kul­tur, de­ren Ver­ständ­nis aber im­mer un­zu­rei­chend bleibt, weil der Re­zi­pi­ent nicht in der La­ge ist, sie gleich­zei­tig mit al­len an­de­ren ade­quat in Be­zie­hung zu set­zen. Vie­le von uns, die sich in der an­spruchs­vol­le­ren Kul­tur seit län­ge­rem be­we­gen und nicht di­dak­tisch tä­tig sind, un­ter­schät­zen die dar­aus er­wach­sen­de Schwie­rig­keit. Bei der Ar­beit an die­ser Zu­gangs­schwel­le ist der Ka­non ein Mit­tel un­ter an­de­ren. Wie er im Ein­zel­en aus­sieht, ist am En­de gleich­gül­tig, wenn er nicht be­stimm­te Min­dest­an­for­de­run­gen der Ver­mitt­lung un­ter­schrei­tet.

    Aber noch ein­mal: Mit die­sen Zie­len ha­ben die Ka­no­nes der Mas­sen­me­di­en im Nor­mal­fall nur mit­tel­bar zu tun; un­mit­tel­bar die­nen sie gänz­lich an­de­ren Zie­len, wie Mas­sen­me­di­en eben über­haupt.

  14. @Gregor Keu­sch­nig

    Es bleibt das Pro­blem, dass oh­ne „Vor­ga­ben“ (die ja heu­te eh nur mehr Dis­kus­si­ons­vor­schlä­ge sein kön­nen) von – erst mal egal von wo­her le­gi­ti­mier­ter – Sei­te es kei­ne ir­gend­wie ge­mein­schaft­lich aus­ge­rich­te­ten Ori­en­tie­run­gen mehr gibt. Des­halb lan­det man bei dem The­ma eben so rasch bei der Bil­dung: Die ja ih­rer­seits das klas­si­sche Ka­no­ni­sche ist, das al­so auch nicht mehr gilt.

    Ich kann es auch nur für mich sa­gen: Ich weiß et­wa noch, wie ich mich über deut­sche Dich­ter im Cur­ri­cu­lum lu­stig ge­macht ha­be… bis ich sie dann für mich sel­ber ent­deck­te.
    (Ich las­se Na­men hier weg – wo­mög­lich bin ich eh längst all­zu af­fir­ma­ti­ons­ver­däch­tig. Mir ist be­wusst, man ge­rät gleich in die kul­tur­pes­si­mi­sti­sche Ecke, aber ich be­kla­ge hier gar nichts. Ich sel­ber ge­he – z.B. – auch schon lan­ge nicht mehr ins Thea­ter. Und wo­mög­lich ist ja Igno­ranz heu­te ei­ne viel ent­schei­den­de­re Frei­heit als Wis­sen? Ich weiß es nicht.)

    Ich will auch für mich ei­gent­lich Gel­tungs­an­sprü­che von an­de­ren mehr na­he ge­bracht be­kom­men, jetzt bin ich schon groß. Aber ich kann nicht se­hen, wie­so der Ver­such da­zu – für mich al­so der, ei­ne we­ni­ger ver­bind­li­che als fast ge­ra­de noch mög­li­che – Ge­mein­schaft­lich­keit zu for­mu­lie­ren so ver­werf­lich sein soll. (Die me­dia­len- und Ver­wer­tungs­aspek­te und son­sti­gen Am­bi­tio­nen und Ei­tel­kei­ten von sonst wem in­ter­es­sie­ren mich hier erst mal nicht. Aber wer als die „al­ten Tan­te“ ZEIT könn­te sich das noch trau­en?)

    Schwund­stu­fen al­so al­lent­hal­ben, und bei all der in Kauf zu neh­men­den Be­lie­big­keit und un­ent­rinn­ba­ren Groß­spre­cher­tum – war­um soll das nicht ei­ner dür­fen? Was ist der Skan­dal? Ich se­he wohl im Ge­gen­satz zu Ih­nen (ob­wohl ich et­li­che Ih­rer Ar­gu­men­te tei­len wür­de) eher die Pro­vo­ka­ti­on in dem Ver­such zum Ka­non als das Re­stau­ra­ti­ve. Könn­te sich doch ei­ner mal den­ken… ja, Mist: Au­ßer dem ge­ra­de An­ge­sag­ten weiß ich über Li­te­ra­tur ei­gent­lich nichts. Der Ka­non könn­te ei­nen eben­so wie zu Rück­bin­dun­gen ja auch un­ab­seh­ba­ren Ent­deckun­gen brin­gen…

  15. @en-passant
    Wenn der Ein­druck ent­stan­den sein soll­te, dass ich den so­und­so­viel­ten Ver­such der Ein­rich­tung ei­nes Ka­nons als Skan­dal be­trach­te, so bit­te ich das zu ent­schul­di­gen. Es ist na­tür­lich kein Skan­dal; fast eher das Ge­gen­teil. Und na­tür­lich ist die­se Wie­der­kehr des Ka­no­ni­schen auch mit Kul­tur­pes­si­mis­mus zu ver­bin­den. War­um auch nicht? Die Phä­no­me­ne, Tho­mas Mann oder sonst­wen (um nicht im­mer die üb­li­chen Ver­däch­ti­gen zu nen­nen) als »zu kom­pli­ziert« in drei Se­kun­den in den Or­kus zu wer­fen, sind ja vor­han­den. Und wo­her kom­men sie? In der Ver­hät­sche­lung ei­nes Pu­bli­kums, dass man in Jahr­zehn­ten un­ter­for­dert hat, weil man es nicht »ver­lie­ren« woll­te. Da kann ein Ka­non jen­seits der Funk­ti­on als Le­se­li­ste ei­ner ge­wis­sen Kul­tur­schicke­ria, die da­mit Ein­tritts­kärt­chen für ih­re Krei­se zu ver­ge­ben ge­denkt, sinn­voll sein.

    Aber wird durch Frau Ra­disch je­ner Soft-Kul­tur-Kon­su­ment, der sei­ne li­te­ra­ri­sche So­zia­li­sa­ti­on in ei­ner Ge­samt­schu­le in den 80er Jah­ren be­gann, plötz­lich »Die Brücke über die Dri­na« oder den »Dok­tor Faustus« le­sen? Und zwar bis zum En­de? Da­bei müss­te er ja noch nicht ein­mal »gut fin­den«, son­dern nur durch­hal­ten und ir­gend­wie ver­su­chen, für sich zu er­grün­den. Wer hat da­zu heu­te noch die Ge­duld?

    Ich ha­be bis Mit­te der 90er Jah­re an Volks­hoch­schu­len Li­te­ra­tur­kur­se be­sucht. Stand das The­ma (ein Au­tor) fest und wur­de die Lek­tü­re von ein, zwei Bü­chern avi­siert, konn­te man ir­gend­wann da­von aus­ge­hen, dass der Kurs nicht die Min­dest­teil­ne­hemer­zahl (8 oder 10) er­reich­te und nach der er­sten Stun­de ab­ge­sagt wur­de. Ich re­de nicht von Hand­ke- oder Wal­ser-Kur­sen. Es ging u. a. um Die­ter Wel­lers­hoff und Ce­es Noote­boom, die da­mals recht po­pu­lär wa­ren. Mehr Er­folg war den Kur­sen be­schie­den, in de­nen im Vier­wo­chen­rhyth­mus ein Buch nach vor­he­ri­ger Ab­spra­che ge­le­sen und dann dis­ku­tiert wur­de. Ein­mal ging es um El­frie­de Je­lin­eks »Kla­vier­spie­le­rin« (mei­ner un­maß­geb­li­chen Mei­nung nach das be­ste Buch von ihr). Als dann die Lek­tü­re­er­leb­nis­se be­spro­chen wur­den, war die Ent­rü­stung groß. Man woll­te »so­was« nicht le­sen, rühm­te sich fast des Lek­tü­re­ab­bruchs; Hin­wei­se auf die Spra­che der Au­torin ver­fin­gen nicht. Ge­gen En­de lich­te­ten sich sol­che Kur­se im­mer mehr, ob­wohl ein fe­ster Stamm (vor­wie­gend Frau­en) blieb und es mit sicht­lich im­mer mehr ver­fla­chen­der Lek­tü­re wei­ter­ging. Ich stel­le mir ge­ra­de die­se Gut­wil­li­gen im An­ge­sicht der bei­den oben ge­nann­ten Bü­cher vor...

    Na­tür­lich gibt es den bil­dungs­bür­ger­li­chen An­satz, der Leu­te da­zu ver­lei­tet, Rück­bin­dun­gen über das bloß Ak­tu­el­le hin­aus zu ent­decken. Das dif­fa­mie­re ich über­haupt nicht; im Ge­gen­teil: ich ach­te den Bil­dungs­bür­ger. Viel­leicht stellt man dann fest, das et­li­ches von dem, was man in der zeit­ge­nös­si­scher Li­te­ra­tur ge­fun­den hat, ein wahr­lich »al­ter Hut« ist. Die Fra­ge ist aber, wer das wirk­lich »wis­sen« will und ob die Hei­den­reichs die­ser Welt mit ih­rem na­iv-dümm­li­chen Af­fir­ma­ti­ons­ge­plap­per nicht mehr ka­putt ge­macht ha­ben als je­ne Leh­rer, die auf das Aus­wen­dig­ler­nen des »Zau­ber­lehr­lings« noch be­stan­den ha­ben. Denn was Häns­chen nicht lernt...

  16. @Gregor Keu­sch­nig
    Da­mit ich nicht falsch ver­stan­den wer­de: ich ha­be nichts ge­gen Bü­cher­li­sten, im Ge­gen­teil. Ich mag bloß das Wort vom Li­te­ra­tur-Ka­non nicht, weil da­mit im­mer sug­ge­riert wird, ge­nau die­se ka­no­ni­sier­ten Wer­ke müs­se je­der ge­le­sen ha­ben, der Ein­tritt in die ge­hei­lig­ten Hal­len der Li­te­ra­tur ver­langt. Da­her mein Ver­weis auf die 30 Bü­cher von Herbst, weil dort er­stens deut­lich wird, dass für die­sen Dich­ter Bü­cher von höch­ster Wich­tig­keit wa­ren, die von kei­nem Reich-Ra­nicki und kei­ner Ra­disch je in den Rang ei­nes ka­no­ni­schen Werks er­ho­ben wur­den. Und weil zwei­tens Herbst voll­kom­men klar­macht, dass sei­ne Aus­wahl sub­jek­tiv und kon­tin­gent ist und nicht wie ein Ka­non den An­spruch auf All­ge­mein­gül­tig­keit er­hebt.
    Was die Li­te­ra­tur­kri­ti­ke­rin an­geht, ge­be ich Ih­nen im Prin­zip schon Recht: wer öf­fent­lich über Bü­cher ur­teilt, soll­te ver­mut­lich Goe­the, Kleist, Mann, Kaf­ka und noch ein paar an­de­re si­cher­heits­hal­ber ge­le­sen ha­ben. Und den­noch ist es so ei­ne Sa­che mit dem Re­fe­renz­rah­men, denn man könn­te sa­gen: wer Tho­mas Mann ver­ste­hen will, muss Goe­the ken­nen, wer aber Goe­the ver­ste­hen will, muss die Schrif­ten von Spi­no­za, Leib­niz und Hu­me ken­nen, au­ßer­dem Ho­mer, Ver­gil und Dan­te. Um Spi­no­za und Kon­sor­ten zu ver­ste­hen, muss man aber erst Pla­ton, Ari­sto­te­les und Tho­mas von Aquin ver­stan­den ha­ben, und für Ho­mer so­wie­so erst mal Alt­phi­lo­lo­gie stu­die­ren. So kä­me man nie beim Dr. Faustus an.

  17. An­dre­as Wolf schrieb:

    denn man könn­te sa­gen: wer Tho­mas Mann ver­ste­hen will, muss Goe­the ken­nen, wer aber Goe­the ver­ste­hen will, muss die Schrif­ten von Spi­no­za, Leib­niz und Hu­me ken­nen, au­ßer­dem Ho­mer, Ver­gil und Dan­te. Um Spi­no­za und Kon­sor­ten zu ver­ste­hen, muss man aber erst Pla­ton, Ari­sto­te­les und Tho­mas von Aquin ver­stan­den ha­ben, und für Ho­mer so­wie­so erst mal Alt­phi­lo­lo­gie stu­die­ren. So kä­me man nie beim Dr. Faustus an.

    Ja, das könn­te man sa­gen, wenn es denn nur ei­ne ad­äqua­te Art der Re­zep­ti­on gä­be. Und au­ßer­dem ist die Auf­ga­be gar nicht so über­mäch­tig, wie sie sie er­schei­nen las­sen möch­ten. Ein­fach drei­ßig Jah­re lang flei­ßig le­sen und sich so­viel wie mög­lich mer­ken, dann geht das schon.

  18. @Andreas Wolf
    Bo­na­ven­tura hat Gu­tes und Rich­ti­ges zu Ih­rem Kom­men­tar ge­sagt. Ich glau­be ei­gent­lich nicht, dass man Ih­ren klug vor­ge­brach­ten Ver­äste­lun­gen (bspw. Tho­mas Mann -> Goe­the -> Spi­no­za -> Pla­ton -> Ari­sto­te­les -> Ho­mer) zur Gän­ze fol­gen muss. Um Goe­the zu ver­ste­hen, muss ich nicht zwin­gend Spi­no­za oder Leib­niz »mit­ge­le­sen« ha­ben. Und ich kann durch­aus auf Kom­men­ta­re an­de­rer klu­gen men­schen Be­zug neh­men. Schließ­lich gibt es der­art vie­le Fa­cet­ten in sei­nem Werk, dass es ge­nug an­de­re Re­fe­ren­zen zu ent­decken und aus­zu­wer­ten gibt. Hier­für soll­te es ja die Ger­ma­ni­stik ge­ben, die sol­che Phä­no­me­ne her­aus­ar­bei­tet. Aber was ist das für ei­ne Ger­ma­ni­stik, die ele­men­ta­re Be­zugs­rah­men schein­bar nicht mehr zur Ver­fü­gung hat und dies auch nicht be­klagt? Wenn Ka­non, dann hier.

  19. Solch ei­nen Ka­non gibt es ja, oder es gab ihn zu­min­dest. Als ich Mit­te der Neun­zi­ger mein Ger­ma­ni­stik­stu­di­um be­gann, gab man je­dem von uns ei­ne Li­ste mit 100 Bü­chern in die Hand, mit der Be­mer­kung, die soll­ten wir bis zum Ab­schluss mög­lichst al­le ge­le­sen ha­ben. Lei­der ha­be ich die Li­ste nicht mehr, es wä­re ja in­ter­es­sant, mal nach­zu­se­hen, wie­vie­le Lücken da im­mer noch klaf­fen. Den­noch bleibt die Fra­ge: wer stellt sol­che Li­sten zu­sam­men? Wer ent­schei­det über die 100 Bü­cher, die die un­ab­ding­ba­re Vor­aus­set­zung bil­den sol­len, um ver­nünf­ti­ge und kom­pe­ten­te Ger­ma­ni­stik be­trei­ben zu kön­nen? Schon da­mals ha­be ich mich über den Um­stand em­pört, dass sich auf die­ser Li­ste nur deutsch­spra­chi­ge Bü­cher fan­den. Als hät­ten Wer­ke wie »Trist­ram Shan­dy« oder »Ulysses« nicht min­de­stens ei­nen eben­so ho­hen Ein­fluss auf die deut­sche Li­te­ra­tur ge­habt, wie mei­net­we­gen Adal­bert Stif­ter. In­so­fern ist die Ger­ma­ni­stik mit ih­ren na­tio­na­len Scheu­klap­pen oh­ne­hin ein selt­sa­mes Fach. Ich war froh, als ich nach vier Se­me­stern zum Haupt­fach Phi­lo­so­phie wech­sel­te. Da gab es kei­ner­lei ver­pflich­ten­den Ka­non, aber ich merk­te sel­ber sehr schnell, dass man oh­ne Kant nicht all­zu­weit kommt.

  20. Ich fin­de eher die Fra­ge in­ter­es­sant, wo­her solch auf­ge­reg­te Rhe­to­rik kommt: »un­ab­ding­bar«, »ver­nünf­tig und kom­pe­tent«, »em­pört«? Da stellt ei­ner ei­ne Le­se­li­ste zu­sam­men, weil er viel ge­le­sen hat und als er­fah­re­ner Le­ser ein un­ge­fäh­re Ein­schät­zung ge­ben kann, wel­che Bü­cher man ken­nen soll­te, um sich in der Li­te­ra­tur­ge­schich­te aus­zu­ken­nen. Wer (au­ßer Ih­nen) be­haup­tet denn, die­se Lek­tü­re sei un­ab­ding­bar? Dass es sinn­voll ist, vie­le deutsch­spra­chi­ge Bü­cher ge­le­sen zu ha­ben, wenn man Ger­ma­ni­stik stu­diert, wür­den wohl nur ei­ni­ge ideo­lo­gi­sche Hard­li­ner be­strei­ten wol­len. Und dass man da­bei bes­ser die­se und bes­ser nicht je­ne Bü­cher liest, weil für all das nur ei­ne be­grenz­te Zeit zur Ver­fü­gung steht, eben­so. Als Stu­dent der Ger­ma­ni­stik schafft man 100 Bü­cher in 2 Se­me­stern (soll­te man we­nig­stens), al­so ist die Li­ste nichts an­de­res als ein Vor­schlag für ei­ne ge­mein­sa­me Grund­la­ge. Denn je­des ein­zel­ne Buch kann man nur dann be­ur­tei­len, wenn man die äs­the­ti­sche Dif­fe­renz zum Rest der Li­te­ra­tur er­ken­nen kann; und das kann man nur, wenn man über ei­ne brei­te Lek­tü­re­grund­la­ge ver­fügt. Und wenn man wis­sen will, was man an eng­li­scher und ame­ri­ka­ni­sche Li­te­ra­tur le­sen könn­te, um sich ei­ne Grund­la­ge zu ver­schaf­fen, holt man sich die Le­se­li­ste der An­gli­sten und ist noch­mal 2 Se­me­ster be­schäf­tigt. Da ist dann ge­ra­de mal das Grund­stu­di­um um. Und wenn ei­nem dann im­mer noch nicht selbst et­was ein­fällt holt man sich im Haupt­stu­di­um die Le­se­li­sten der Ro­ma­ni­sten und der Sla­wi­sten. Und man wird im­mer schlau­er da­bei. Und das ei­ne ge­fällt ei­nem und das an­de­re ge­fällt ei­nem nicht, und wenn man viel Glück hat, be­kommt man so­gar her­aus, war­um das so ist und lernt, die Grün­de auf Be­grif­fe zu zie­hen. Was dar­an ist jetzt so em­pö­rend? Wie­so füh­len Sie sich durch die Er­fah­run­gen und Emp­feh­lun­gen an­de­rer, er­fah­re­ner Le­ser so in Ih­rer Frei­heit be­schränkt? Was aus der Kü­che kommt, ist im­mer nur ein Vor­schlag des Kochs, nicht die Lö­sung al­ler ku­li­na­ri­schen Rät­sel.

  21. Bo­na­ven­turas Vor­ge­hen er­scheint mir im üb­ri­gen voll­kom­men lo­gisch und an­ge­bracht. Al­les an­de­re ist Dis­ney­land. Ver­mut­lich kommt es aber im­mer gut, Au­to­ri­tä­ten per se an­zu­zwei­feln. Man ist als Stu­dent ja auch in ei­nem Schwel­len­al­ter: Die Pu­ber­tät ist ei­gent­lich »über­wun­den«, das »Er­wach­se­nen­le­ben« aber noch ir­gend­wie weit weg. Mein Ein­druck von Stu­den­ten En­de der 80er/Anfang der 90er Jah­re be­son­ders in den gei­stes­wis­sen­schaft­li­chen Fä­chern war, dass sie ei­gent­lich schon al­les wuß­ten (min­de­stens wuß­ten sie, wie man et­was nicht macht) und ih­re Pro­fes­so­ren (oder Do­zen­ten) nur be­mit­lei­dens­wer­te Krea­tu­ren sind, die von die­ser Tat­sa­che noch kei­ne Kennt­nis ha­ben. Wohl ge­merkt: ich ha­be nie ei­ne Uni­ver­si­tät be­tre­ten, hat­te aber da­mals ei­nen ge­wis­sen Be­kann­ten­kreis. Das mag jetzt über­holt und all­zu pau­schal sein (und ist in kei­nem Fall auf Kom­men­tie­ren­de und Le­ser die­ses Blogs ge­münzt). Mich hat die­ser Be­trieb ir­gend­wie ab­ge­schreckt – und zwar von bei­den Sei­ten. Das mag ei­nem Au­ßen­blick ge­schul­det sein, der sei­ner­seits ein we­nig ar­ro­gant da­her­kommt bzw. da­her­kam. Spä­ter er­zähl­ten mir ehe­ma­li­ge Ger­ma­ni­stik­stu­den­ten, wie hohl sie das Stu­di­um emp­fun­den hat­ten. Ei­ne fühl­te sich re­gel­recht ab­ge­hal­ten vom Le­sen von Li­te­ra­tur; man be­schäf­tig­te sich mit ei­nem, ma­xi­mal zwei win­zi­gen De­tails, bolz­te Se­kun­där­li­te­ra­tur da­zu und schrieb dem Pro­fes­sor nach dem Mund. Da fühl­te ich mich dann be­stä­tigt (was na­tür­lich ein­fach war, denn ei­ne Stim­me kann man un­mög­lich ver­all­ge­mei­nern) und ich ge­nie­ße bis heu­te mei­ne Frei­heit und mein Idio­ten­tum.

  22. Idio­ten­tum

    Im­mer noch al­so geht es bei ge­sell­schaft­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on auch um zu­mu­ten­de Ein­sprü­che – oder eben, sie zu igno­rie­ren (das zu dür­fen, so­gar aus den idio­tisch­sten Grün­den).

    Ich füh­le mich al­ler­dings, trotz mei­ner Ab­schlüs­se und weit­läu­fi­gen Wis­sens­ge­bie­te eben­so als Idi­ot: Et­wa ge­gen­über dem (et­wa im­mer beim ge­le­gent­li­chen Su­chen nach et­was mich In­ter­es­sie­ren­dem im zu­min­dest nach Quan­ti­tät als über­wäl­ti­gend emp­fun­de­nen) Fern­seh­pro­gramm: Da­durch, dass ich in so vie­len Be­rei­chen nicht teil­neh­me, ent­wickelt sich bei mir an­schei­nend so et­was wie ein Phan­tom­schmerz an Ge­mein­schaft­lich­keit. Zwar ha­be ich mir an­ge­wöhnt, das Igno­rie­ren von 98% des Me­di­en­an­ge­bots als Frei­heit und Zeit­ge­winn und Kom­ple­xi­täts­re­du­zie­rung um­zu­deu­ten. Doch bin ich – ei­gent­lich – ein Aus­ge­schlos­se­ner. Das Idio­ten­tum der an­de­ren macht mich lei­den. Und macht mich zum Idio­ten al­len ge­gen­über, »die gu­ten Wil­lens sind«.

    Aber auch die Frei­heit, ten­den­zi­ell kei­ner­lei über­lie­fer­te Ge­mein­schaft­lich­keit mehr an­er­ken­nen zu müs­sen, ist dann ir­gend­wann gar kei­ne (son­dern wie­der­um Selbst­aus­schluss per ei­ge­ner Igno­ranz). Über den Au­to­ri­täts­ver­lust der In­sti­tu­tio­nen (Uni­ver­si­tät) fan­ge ich gar nicht erst an: Nie hat­ten die, was mich ge­ra­de in­ter­es­sier­te – aber auch das hat dann mich zum Sel­ber-Su­chen und –Le­sen ge­bracht.

    Auch von da­her ist dann der (me­di­al eh kaum be­deut­sa­me) Ver­such, mit dem Spatz ei­nes Li­te­ra­tur­ka­nons auf die brä­si­ge, li­te­ra­tur­un­wil­li­ge Öf­fent­lich­keit zu schie­ßen (de­ren Zer­fal­len­heit wo­mög­lich ja auch je­der­mann an sich sel­ber spürt) mir zwar nicht mal sym­pa­thisch, doch se­he ich nicht, war­um un­ter all den an­de­ren sich nicht zu­rück­hal­ten­den Zu­mu­tun­gen aus­ge­rech­net sie ver­mie­den wer­den soll.

    Um bei der ZEIT zu blei­ben. Mar­ten­stein, den ich im­mer noch un­ter­halt­sam fin­de, hat letz­tens mal drauf hin­ge­wie­sen, dass die es frü­her ir­gend­wie noch hin­ge­kriegt hat­ten, dass man beim Ver­las­sen der Schu­le le­sen, schrei­ben und rech­nen konn­te. Und oh­ne al­len Mo­der­ni­täts­pes­si­mis­mus – mich, in dem er­ober­ten Lu­xus­le­ben mei­ner Igno­ranz geht das so­wie­so nichts an – bleibt dann die Fra­ge: Wie ha­ben die das ge­macht?

  23. @en-passant
    Wie »die« das ge­macht ha­ben, weiß ich nicht. Ich glau­be al­ler­dings, dass sich das An­se­hen von so et­was wie Wis­sen oder Neu­gier auf »Er­wach­se­nen­wis­sen« in den letz­ten Jahr­zehn­ten kon­ti­nu­ier­lich ver­än­dert hat. Es ist schwie­rig so et­was zu be­haup­ten, oh­ne in bil­li­gen Kul­tur­pes­si­mis­mus zu ver­fal­len. Aber die Tat­sa­che, dass die Prio­ri­tä­ten von Wis­sen und auch die Wis­sens­ver­mitt­lung ein­fach an­de­re ge­wor­den sind, kann man nicht leug­nen. Ich hat­te ge­stern auf ar­te die er­sten drei Fol­gen der Ken­ne­dy-Sa­ga ge­se­hen und heu­te die FAZ-Be­spre­chung ge­le­sen. Ei­ner der drei Kom­men­ta­to­ren be­klagt, dass für das Ver­ständ­nis der Se­rie Kennt­nis­se er­for­der­lich sei­en. Den » ‘Un­ein­ge­weih­ten’ «, so der Kom­men­tie­rer, wür­de »es schwer wer­den, der et­was sprung­haf­ten Hand­lung zu fol­gen.« Die­se Kri­tik ist durch­aus ex­em­pla­risch. Da­bei wird die »sprung­haf­te Hand­lung« durch gro­ße ro­te Buch­sta­ben, die die je­wei­li­ge Jah­res­zahl an­zeig­ten, ein­ge­lei­tet. Man muss ei­gent­lich nur wis­sen, wo die USA lie­gen, dass es zwi­schen 1939 und 1945 ei­nen Welt­krieg gab und das Ca­stro Kom­mu­nist ist. Vie­les er­klärt aus der Se­rie her­aus. An­de­res, was ich nicht weiss, kann ich oh­ne gro­ßen Ver­ständ­nis­ver­lust spä­ter nach­schla­gen und mir – pa­the­tisch aus­ge­drückt – sel­ber »er­obern«. Aber die­ser Akt der Be­schäf­ti­gung wird längst als Un­zu­mut­bar­keit wahr­ge­nom­men. So sehr ist man die Häpp­chen-Ver­mitt­lung ge­wöhnt.

    Der weit­ge­hen­de Ega­li­ta­ris­mus in der Ge­sell­schaft hat zu ei­nem Um­den­ken ge­führt: Man ori­en­tiert sich längst in ei­ner Art vor­aus­ei­len­dem Ge­hor­sam an den den klein­sten ge­mein­sa­men Bil­dungs­nen­ner ei­ner Ge­sell­schaft. Wer dies be­klagt, wird ein­fach als »eli­tär« ab­ge­kan­zelt und ge­rät so­fort un­ter Recht­fer­ti­gungs­druck.

    Dass es Mas­sen­phä­no­me­ne gibt, ist nicht neu. Aber Mas­sen­kul­tur gilt jetzt als »de­mo­kra­tisch«; sie ist le­gi­ti­miert auf­grund der Quan­ti­tät ih­rer Teil­neh­mer. Wer nach Qua­li­tät fragt, gilt schon als Spiel­ver­der­ber. Sie mit Ih­rem »Idio­ten­tum« wer­den mit Aus­schluß aus der Ge­mein­schaft be­droht. Da­her und weil die­se Ba­na­li­täts­spi­ra­len (bspw. im Fern­se­hen) un­ab­wend­bar sind, ver­ach­ten vie­le In­tel­lek­tu­el­le die Mas­sen (und über­se­hen da­bei, dass sie oh­ne sie gar nicht exi­stie­ren kön­nen).

    »Frü­her« ent­stan­den Idea­le (nicht nur Vor­bil­der), de­nen man nach­ei­fern moch­te. Heu­te wird ver­langt, sich mehr oder we­ni­ger dem pop-kul­tu­rel­len Main­stream an­zu­pas­sen oder in karg aus­ge­stat­te­ten El­fen­bein­tür­men vor sich hin zu ona­nie­ren.

    Jetzt sind wir doch wie­der bei der Bil­dungs­dis­kus­si­on...

  24. Ja, treff­li­che Be­ob­ach­tung, schla­gen­de Ana­ly­se – bin ich rund­um d’­ac­cord. Aber was ma­che ich mit mei­nem nicht weg­ge­hen­den Da­zu­ge­hö­rig­keits­ver­lan­gen? Manch­mal scheint es, als ob das so­gar wächst – oder hin­ter­rücks hy­bri­de Kom­pen­sa­tio­nen sucht, wo­mög­lich nicht un­ähn­lich de­nen der an­de­ren (Kon­for­mi­tät, Sport, Un­ter­hal­tung...).

    Ich muss­te ge­stern noch an Ih­re Ver­su­che bei der VHS den­ken – wie ver­lan­gend muss man nach ei­ner (Literatur-)Gemeinschaftlichkeit sein, um sich sei­ne Lek­tü­ren in sol­chen, höf­lich ge­sagt, he­te­ro­ge­nen Klein­grup­pen be­fra­gen zu las­sen.
    (Vor x Jah­ren ha­be ich dort manch­mal sehr gu­te Vor­trä­ge ge­hört; mei­ne Er­fah­rung ist, dass die Qua­li­tät der Ein­ge­la­de­nen – und Do­zen­ten über­haupt – im­mens ge­stie­gen – die der Zu­hö­rer / Teil­neh­mer al­ler­dings ex­trem »un­ein­heit­lich« [ein hier à la Lo­ri­ot ge­mein­ter Eu­phe­mis­mus] ge­wor­den ist.)

    Mei­ne Über­le­gung eben war, wie­so es nicht ei­ne laut­stark auf­tre­ten­de, be­wusst for­dern­der ar­gu­men­tie­ren­de Ge­gen­be­we­gung der »Eli­ten« gibt, die die elen­de An­spruchs­lo­sig­keit der im­mer nur über­all ab­ge­hol­ten Mehr­hei­ten die­sen ein­mal vor­hält! In al­lem an­de­ren sonst soll Deutsch­land doch auch Welt­mei­ster sein! Aber, ach ja, äh, ich ver­gaß: Die fak­ti­sche Kraft des sich an­dau­ernd selbst ver­stär­ken­den Main­streams. Und der Igno­ranz.

    Aber ich muss es be­ken­nen: Die mei­ste Zeit ist es mir längst egal. Bis es sich dann mal wie­der an­fühlt wie ein doch ir­gend­wie we­sent­li­cher Man­gel.

  25. Ich ha­be jetzt das un­an­ge­neh­me Ge­fühl, als Frem­der mit laut pol­tern­der Rhe­to­rik ei­nen Li­te­ra­tur­kreis ge­stört zu ha­ben, der lie­ber un­ter sich ge­blie­ben wä­re. Des­halb, be­vor ich lei­se die Tür hin­ter mir zu­zie­hend wie­der ver­schwin­de, bloß die kur­ze An­mer­kung, dass dies ab­so­lut nicht mei­ne Ab­sicht war. Ich woll­te im Ge­gen­teil ei­gent­lich bloß Zu­stim­mung zum ei­gent­li­chen Post von Herrn Keu­sch­nig si­gna­li­sie­ren, der dort schrieb: »Är­ger­lich ist ein an­de­rer Punkt: Trotz ge­gen­tei­li­ger An­ga­ben wird zwangs­läu­fig ei­ne Voll­stän­dig­keit sug­ge­riert, die jeg­li­che Lust auf das Au­ßer­ge­wöhn­li­che, das Selbst-Ge­fun­de­ne ab­zu­wür­gen droht. Der Blick für das Ab­sei­ti­ge kommt zu kurz.« Ge­nau so se­he ich das auch und die­ser Zu­stim­mung woll­te ich bloß Aus­druck ver­lei­hen, mit der klei­nen Er­wei­te­rung, dass es viel­leicht auch nicht ganz so schlimm wä­re, wenn dem ei­nen oder an­de­ren bei sei­ner Le­se­rei­se durch das Ab­sei­ti­ge dann Kleist zum Bei­spiel durch die Lap­pen gin­ge. Wo­bei ich mit Herrn Keu­sch­nig ja kon­form ge­he, dass ei­ne Kri­ti­ke­rin und pro­mo­vier­te Ger­ma­ni­stin da­mit auch nicht un­be­dingt ko­ket­tie­ren soll­te.
    Bo­na­ven­tura ge­be ich eben­falls recht: Si­cher kann man in ei­nem Jahr 100 Bü­cher le­sen und ne­ben­her noch die paar Auf­sät­ze und theo­re­ti­schen Wer­ke, die man ne­ben­bei noch mit­liest, um zu Schein­erwerbs­zwecken die Re­fe­ra­te und Haus­ar­bei­ten kurz aus dem Hand­ge­lenk zu schüt­teln. Al­les an­de­re wä­re ja Dis­ney­land. Ich per­sön­lich zog es im­mer vor, mir fürs Le­sen ein klein we­nig mehr Zeit zu neh­men und den Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten nicht in drei Ta­gen run­ter­zu­rei­ßen, um da­nach oh­ne In­ne­hal­ten den Grü­nen Hein­rich auf­zu­klap­pen. Da les ich dann lie­ber ein paar Bü­cher we­ni­ger und hab noch die Luft, auch mal drü­ber nach­zu­den­ken.
    Aber jetzt mer­ke ich sel­ber, wie schon wie­der ei­ne Auf­ge­regt­heits-Rhe­to­rik Be­sitz von mir er­greift. Tut mir leid, ich woll­te echt nicht stö­ren.

  26. Na, das mit dem lang­sam le­sen und dar­über nach­den­ken scheint aber noch nicht sehr gut zu klap­pen. Aber Übung macht be­kannt­lich den Mei­ster. Al­les Gu­te und wei­ter­hin an­ge­neh­me Lek­tü­ren.

  27. @Andreas Wolf
    Ich fand Ih­ren Bei­trag sach­lich und wich­tig. »Stö­run­gen« die­ser Art sind im­mer will­kom­men. Und Fleiß- oder VIP-Kärt­chen gibt es hier nicht.

    @en-passant
    Auch die Do­zen­ten an der VHS wa­ren teil­wei­se sehr gut – sie hat­ten nur we­nig Ge­le­gen­heit, sich ent­spre­chend zu be­wei­sen. Und na­tür­lich gab und gibt es ein Ge­fühl der Ge­mein­schaft­lich­keit – be­den­ken Sie, wie die all­seits um­her­grei­fen­den »so­zia­len Netz­wer­ke« funk­tio­nie­ren: Sie be­die­nen ex­akt die­ses Ge­fühl auf der vir­tu­el­len Ebe­ne. Und auch Blogs sind »kom­mu­ni­ta­ri­sti­sche« In­sti­tu­tio­nen.

    Ihr letz­ter Kom­men­tar schafft es, mich viel­leicht noch ein biss­chen prä­zi­ser aus­zu­drücken: War­um soll je­mand ei­nen Ka­non der­je­ni­gen Eli­ten an­neh­men, die jah­re- viel­leicht jahr­zehn­te­lang we­sent­lich an der Ba­na­li­sie­rung mit­ge­wirkt ha­ben? War­um hat man denn dem Le­ser nicht mehr »zu­ge­mu­tet« und sich statt­des­sen bei Re­zen­sio­nen in In­halts­an­ga­ben und Plot­dis­kus­sio­nen er­schöpft? Wo soll denn auf ein­mal das In­ter­es­se an ei­ner um­fas­sen­den Aus­ein­an­der­set­zung her­kom­men, wenn im­mer nur das Au­to­bio­gra­phi­sche Re­fe­renz­grö­sse ist? War­um hat man in all den Jah­ren nicht ein­fach sei­nen Job ge­macht – mit dem Ri­si­ko, das Pu­bli­kum zu­wei­len auch ein­mal zu »über­for­dern«? Die vor­aus­ei­len­de Über­for­de­rungs­angst müss­te jetzt viel grö­ßer sein. Wer im­mer Fast­food kon­su­miert hat, weiss nicht mehr, wie ei­ne Pa­pri­ka schmecken muss – er weiss nur, wie sie im­mer ge­schmeckt hat. Da­her kommt mir die Ka­no­ni­tis wie ei­ne gro­ße Heu­che­lei vor. Ich se­he aber auch Ih­re Ar­gu­men­ta­ti­on – und stel­le da­hin­ter ein weit­aus op­ti­mi­sti­sche­res Men­schen­bild fest als mei­nes. Muß ich mir Sor­gen um mich ma­chen?

  28. @Gregor Keu­sch­nig
    Vie­len Dank für die­se Klar­stel­lung. Dann wer­de ich mich ger­ne auch in Zu­kunft hin und wie­der aus der Ecke für stil­le Mit­le­ser her­aus­trau­en und ein paar Sät­ze zu Ih­ren im­mer le­sens- und be­den­kens­wer­ten Tex­ten bei­tra­gen.

  29. @Gregor Keu­sch­nig
    Nein nein, kei­ne Sor­gen ma­chen – ich weiß es ja sel­ber längst bes­ser, mei­ne Ver­lan­gen sind et­was alt­mo­disch und wohl ir­gend­wie auch ein biss­chen re­gres­siv: Schluss mit dem Schie­len nach den Eli­ten, Schluss mit dem Sym­pa­thi­sie­ren und dem lau­en Ver­ständ­nis für die Mas­sen – man muss über­all als Ein­zel­ner durch!

    Und im Ernst: Ihr Ar­gu­ment mit den ge­fal­le­nen Eli­ten stimmt na­tür­lich – wie oft ist der sich über die Ver­hält­nis­se Er­he­ben­de mit an ih­nen schuld. Nur bräuch­te es dann ir­gend­wann wohl auch mal wie­der Nicht­da­zu­ge­hö­ren­de – das sind an­de­re als die War­ner, die Zy­ni­ker und die Al­les-Zer­re­den­den -, um ir­gend­ei­ne Al­ter­na­ti­ve oder Per­spek­ti­ve zu for­mu­lie­ren. Oder soll­ten das doch bes­ser Leu­te von ganz in­nen sein? Bis da­hin ver­stär­ken die „Ab­hol-Ef­fek­te“ sich ge­gen­sei­tig und ze­men­tie­ren das ge­senk­te Nie-Woh. Ist si­cher auch eher mü­ßig, da ir­gend­was zu be­kla­gen.

    (Und dass noch je­mand den Grü­nen Hein­rich liest – manch­mal braucht es nur solch ver­streu­te Nach­richt, um sich zu trö­sten.)

  30. Ein Ka­non? Wo­zu ei­gent­lich? Ich ver­su­che es ein­mal an­ders und ant­wor­te be­vor ich den Aus­gangs­text und die Kom­men­ta­re ge­le­sen ha­be.

    Viel­leicht kann man, Un­ge­nü­gen, Schwie­rig­kei­ten und Un­voll­stän­dig­kei­ten im Au­ge be­hal­tend, sol­che Ver­su­che als not­wen­di­ge Hin­wei­se auf­fas­sen, als Vor­ur­tei­le, um ei­ner un­über­schau­ba­ren Viel­falt ei­ni­ger­ma­ßen Herr zu wer­den. Dass je­der Ka­non eben das ist, weiß man, la­tent zu­min­dest und wi­der­wil­lig, seit der Schu­le.

    Das Ge­gen­wär­ti­ge hat sich zu er­wei­sen und das Al­te muss es stets aufs Neue tun: Die­se Auf­ga­be liegt bei Le­sern und Kri­ti­kern und sie kann nur er­füllt wer­den, wenn man hört und weiß, wen und was es zu le­sen gibt. Die­ses wen und was und ei­ne – wenn auch pro­ble­ma­ti­sche – Wer­tung, als zu be­fra­gen­de Rich­tung scheint mir (fast) un­ent­behr­lich (auch, weil im en­ge­ren Sinn je­de Kri­tik als Bei­trag zu ei­ner Ka­no­ni­sie­rung ge­wer­tet wer­den muss, selbst wenn man das nicht be­ab­sich­tigt).

  31. @en-passant
    Aber al­le Nicht­da­zu­ge­hö­ri­gen wer­den doch ver­bis­sen. Das Sy­stem – »der Be­trieb« – ist nicht auf Nicht­da­zu­ge­hö­ri­ge ein­ge­stimmt. Klar, es gibt Aus­nah­men. Aber die sind sel­ten. Im Grun­de ist das doch ei­ne mehr oder we­ni­ger ver­schwo­re­ne, vor al­lem aber ab­ge­schot­te­te Cli­que von Kunst­rich­tern, die sich – über al­le Grä­ben hin­weg – vor al­lem da­hin­ge­hend ei­nig sind, nie­mand au­ßer­halb ih­rer Krei­se zu be­rück­sich­ti­gen. Es sei denn, es sind Fi­gu­ren von ih­ren Gna­den. (Da fällt mir im­mer so­fort Da­ni­el Kehl­mann ein, der ir­gend­wann zum Ka­no­ni­ker er­nannt wur­de. Oder auch je­ne un­säg­li­che Thea Dorn.) Da­her auch der Drang zum Skan­da­lon: Hier­durch er­reicht man Auf­merk­sam­keit und er­hält viel­leicht Ein­lass in die hei­li­gen Hal­len des Feuil­le­tons.

    (Bei dem-/der­je­ni­gen Grü­nen Hein­rich-Le­ser den­ke ich dann im­mer: Hof­fent­lich wird das nicht we­gen ir­gend­ei­ner Klau­sur­vor­schrift ge­le­sen. Ich bin da ganz der Hand­ke­sche Spiel­ver­der­ber.)

  32. Auf­schluss­rei­che Dis­kus­si­on, dan­ke!

    Ein Aspekt er­scheint mir noch et­was un­scharf: Man muss zwi­schen dem Le­ser (ev. auch Schrei­ben­dem) und dem Ein­ord­nen­den (dem Kri­ti­ker) un­ter­schei­den: Er­ste­rer kann sehr wohl sa­gen, was Li­te­ra­tur aus­macht und ob ein Buch (Werk) ge­lun­gen ist; je mehr und ein­dring­li­cher er sich mit ihr be­schäf­tigt, de­sto bes­ser. Letz­te­rer nimmt zu­sätz­lich in An­spruch, dass er das Ge­le­se­ne auch ein­ord­nen, und da­mit Ein­schät­zun­gen (Wer­tun­gen) in all­ge­mei­ner Hin­sicht vor­neh­men kann. Das ist ein wich­ti­ger und we­sent­li­cher Un­ter­schied; und es ist nicht die Er­fah­rung die den Kri­ti­ker le­gi­ti­miert, son­dern im­mer noch sei­ne Ar­gu­men­te (Au­to­ri­täts­kri­tik ist an­dern­falls höchst will­kom­men).

  33. @metepsilonema
    Ge­nau die­se Dif­fe­renz zwi­schen Le­ser und Kri­ti­ker, Kon­su­ment und Ur­tei­len­der, bricht im­mer mehr auf (mit Chan­cen aber auch mit ent­spre­chen­den Nach­tei­len!). Der Le­ser hat ja ir­gend­wann auch ein »Le­ser-Le­ben« und kann sehr wohl Ein­ord­nun­gen vor­neh­men. Ob sie im­mer rich­tig sind? Aber wer sagt, dass die Par­al­le­len der Kri­ti­ker im­mer tref­fen? Hin­zu kommt das zu­neh­men­de Ver­sa­gen der ur­tei­len­den »Ein­ord­ner«, was sich (1.) an (und in) ih­ren Ver­flech­tun­gen mit dem Be­trieb und Markt und (2.) mit ih­rer Re­zep­ti­ons­fä­hig­keit an sich zeigt.

    Ich ha­be im üb­ri­gen kaum ei­nen Zwei­fel dar­an, dass Kri­ti­ker ein zu­tiefst de­pri­mie­ren­der Be­ruf sein muss: Stän­dig ist man ge­zwun­gen, Sa­chen zu le­sen, die ei­nem aus di­ver­sen Grün­den nicht ge­fal­len. Und al­les muss ei­lig ge­sche­hen; die Neu­erschei­nung im Sep­tem­ber ist ein hal­bes Jahr spä­ter schon »ver­al­tert« – weil es dann schon wie­der neue Neu­erschei­nun­gen gibt. Das bis da­hin an­ge­eig­ne­te »Wis­sen« ist zum gro­ßen Teil ob­so­let ge­wor­den. Das ist viel­leicht ei­ner der Grün­de, war­um sich die Mas­se der Kri­tik auf ei­nen ver­gleichs­wei­se klei­nen Kreis von Neu­erschei­nun­gen kon­zen­triert. (Die Ent­deckun­gen für den Le­ser gibt es zu­meist ab­seits die­ses Stro­mes.)

  34. @Gregor
    Die Ein­ord­nung des Le­sers darf (auch) per­sön­lich re­le­van­ten Kri­te­ri­en fol­gen, für ei­nen Kri­ti­ker soll­ten an­de­re, »all­ge­mei­ne­re« gel­ten (na­tür­lich nicht aus­schließ­lich). Der Le­ser ge­nießt die Vor­tei­le des Lieb­ha­bers, der le­sen kann, was ihn an­springt, es aber kei­nes­falls muss. Die (von den Le­sern zu­ge­stan­de­ne!) Kom­pe­tenz ei­nes Kri­ti­kers ist, wie Du schreibst, durch ei­ni­ge Nach­tei­le er­kauft: Er muss u.U. le­sen was ihm nicht ge­fällt, weil es öf­fent­lich­keits­re­le­vant ist oder von ihm er­war­te­te wird; wie al­le Tä­tig­kei­ten, die (halb)professionell be­trie­ben wer­den, er­kauft man sich Re­le­vanz durch Zu­ge­ständ­nis­se an den Be­trieb, man nimmt – so­zu­sa­gen – an ei­nem Spiel teil, das man so viel­leicht gar nicht will. Es sei denn, man ist aus an­de­ren Grün­den nicht auf ihn an­ge­wie­sen, was wie­der­um ei­ne Teil­nah­me (an der Öf­fent­lich­keit) er­schwert.

    War­um sich die Mas­se der Kri­tik an we­ni­gem ab­ar­bei­tet hat sei­ne Ur­sa­chen si­cher auch in der selbst­ver­stär­ken­den Wir­kung der Me­di­en und der Dis­kus­si­on im All­ge­mei­nen, aber auch dar­in, dass man bei al­ler Fül­le ein The­ma hat über das man »ge­mein­sam« dis­ku­tiert; ab­ge­se­hen da­von wird das, was an­ge­kün­digt wur­de (z.B. von Ver­la­gen), ger­ne an­ge­nom­men.

  35. @metepsilonema
    Das Pro­blem be­steht ja dar­in, dass die Kri­tik uns er­klärt, sie fol­ge ob­jek­ti­ven Kri­te­ri­en. Aber es sind ja dort kei­ne äs­the­ti­schen Eu­nu­chen am Werk. Die an­geb­li­che Ob­jek­ti­vi­tät ist nicht nur in der Pra­xis nicht er­reich­bar, sie ist wo­mög­lich gar nicht wün­schens­wert. Aber wenn sie be­haup­tet wird, ver­klei­stert sie den Blick. Na­tür­lich kann man an Li­te­ra­tur be­stimm­te Maß­stä­be an­le­gen – und soll­te dies auch. Dar­über hin­aus spielt aber im­mer auch das per­sön­li­che Emp­fin­den ei­ne Rol­le. Pro­ble­ma­tisch wird es, wenn die­se Kri­te­ri­en sich so­zu­sa­gen »ver­stecken«. In Wirk­lich­keit sind al­le in dem von Dir an­ge­spro­che­nen »Spiel« nicht nur tä­tig, son­dern un­ter Um­stän­den so­gar ge­fan­gen. Die­se Ver­flech­tun­gen wer­den je­doch im­mer erst mit der Zeit er­sicht­lich.

  36. Gre­gor Keu­sch­nig schrieb:

    Das Pro­blem be­steht ja dar­in, dass die Kri­tik uns er­klärt, sie fol­ge ob­jek­ti­ven Kri­te­ri­en.

    Wo er­klärt »die Kri­tik« das denn? Mir scheint im Ge­gen­teil, dass selbst ein Gut­teil der Ger­ma­ni­stik heu­te so et­was nicht mehr er­klärt. (Was nicht hei­ßen soll, dass es nicht Kri­ti­ker gibt, die die­sen An­spruch im- oder gar ex­pli­zit er­he­ben wür­den.)

  37. @Bonaventura
    Ich le­se das Feuil­le­ton (»die Kri­tik«) so. Ei­ne su­chen­de Be­we­gung ver­mis­se ich da. Das Selbst­ver­ständ­nis der Kri­tik ist das Reich-Ra­nicki-Dik­tum, bloß nicht in das Un­ge­fäh­re ab­zu­wei­chen. Es mag Aus­nah­men ge­ben, aber man re­kur­riert sehr auf Au­to­ri­tät. Da­mit mei­ne ich nicht un­be­dingt »die« Ger­ma­ni­stik. Viel­leicht ist man hier be­weg­li­cher ge­wor­den; man­che Fach­bü­cher sind les­ba­rer als die vor Selbst­be­wusst­sein und Ge­sin­nungs­kri­tik strot­zen­den Re­zen­sio­nen. Im Feuil­le­ton wer­den aus Buch­be­spre­chun­gen zu oft Pro­zess­ak­ten. Die Poin­te zählt. Oder das Er­re­gungs­po­ten­ti­al. (Das Ge­gen­teil gibt es frei­lich auch – es sind je­ne, die im we­sent­li­chen bei In­halts- und Plot­an­ga­ben blei­ben.)

  38. Ich konn­te erst jetzt die Dis­kus­si­on ge­le­sen. Ich freue mich im­mer, wenn über­haupt noch über Li­te­ra­tur be­rich­tet wird. Da­her neh­me ich auch die vor­ge­schla­ge­nen Bü­cher als ein An­ge­bot und prü­fe, wel­che ich be­reits ken­ne und wel­che ich viel­leicht le­sen soll­te. Lei­der sind die kur­zen Be­spre­chun­gen für mich nicht ge­eig­net, mich neu­gie­rig auf ein Buch zu ma­chen.
    Ein an­de­rer Punkt, den ich an­mer­ken möch­te. Aus mei­ner Sicht wis­sen vie­le Kri­ti­ker bzw. auch Schrift­stel­ler nicht zu we­nig, son­dern sehr viel und mei­nen, die­ses Wis­sen un­be­dingt dem Le­ser prä­sen­tie­ren zu sol­len.
    Ein wei­te­rer Aspekt ist die schnel­le Ver­füg­bar­keit von In­halts­an­ga­ben im In­ter­net. Wer macht sich dann die Mü­he der Lek­tü­re. Mit dem bei Wi­ki­pe­dia Ge­le­se­nen kann man auf je­der Par­ty re­üs­sie­ren, wenn dies ge­for­dert ist.
    Hin­zu kommt, dass in der Re­gel im­mer die glei­chen gro­ßen Na­men im Feuil­le­ton be­spro­chen wer­den. Al­le stür­zen sich auf den neu­en Mo­se­bach, Gen­anz­ino, Hand­ke etc. Oft konn­te ich die Ten­denz der letz­ten Kri­tik vor­her­sa­gen, je nach­dem wie die an­de­ren aus­ge­fal­len wa­ren.
    Ei­nen Ka­non be­nö­tigt mei­ner Mei­nung nach nie­mand, der er­fah­re­ne Le­ser hat ihn im­pli­zit, aber bei der Mas­se an Neu­erschei­nun­gen kann ich nur sehr schwer ent­schei­den, wel­ches Buch für mich in­ter­es­sant sein könn­te.
    Ich ha­be dann mei­ne be­vor­zug­ten Re­zen­sen­ten, wo­zu auch Gre­gor Keu­sch­nig zählt, von de­nen ich mich neu­gie­rig ma­chen las­se. Manch­mal le­se ich dann das emp­foh­le­ne Buch, manch­mal ver­schie­be ich die Lek­tü­re und ver­ges­se das Buch. Wenn dann durch sol­che »Kanon«-Diskussionen die­ses Buch wie­der in mei­ne Er­in­ne­rung kommt, ma­che ich viel­leicht den näch­sten Ver­such. Dies ist doch der Sinn der Rezensionen/Literaturdikussionen etc., mich neu­gie­rig zu ma­chen. Es wä­re doch schlimm, hät­te je­der Le­ser die glei­chen Lieblinge.bzw. Lieb­lings­bü­cher.

  39. @Gregor Keu­sch­nig
    Viel­leicht le­se ich zu­we­nig Feuil­le­ton, um das wirk­lich be­ur­tei­len zu kön­nen, viel­leicht in­ter­es­siert mich aber auch die­ser Aspekt der Re­zen­sio­nen ein­fach nicht, so dass ich die Tex­te ein­fach au­to­ma­tisch se­lek­tiv auf die In­for­ma­tio­nen hin le­se, die mich in­ter­es­sie­ren. Aber mein Ein­druck ist nicht, dass die MRR/­Ka­ra­sack/FrauL­eff­ler-Rie­ge die Mehr­heit stellt. Aber wie ge­sagt: Mei­ne Stich­pro­be ist da deut­lich zu dünn.

  40. @Gregor
    Ein Kri­ti­ker muss ei­ne Po­si­ti­on zwi­schen Sub­jek­ti­vi­tät und Ob­jek­ti­vi­tät ein­neh­men, ei­ner­seits weil kein Kri­ti­ker völ­lig ob­jek­tiv sein kann, an­de­rer­seits aber, weil das die Re­zi­pi­en­ten ( bzw. Le­ser) gar nicht wol­len oder er­war­ten (und ich be­haup­te: der Kri­ti­ker auch nicht). Die Auf­ga­be ei­nes Kri­ti­ker ist ein nach­voll­zieh­ba­res Ur­teil, über den rei­nen Ge­schmack hin­aus, das den­noch in dem, für den Kri­ti­ker ty­pi­schen, per­sön­li­chen Rah­men ver­an­kert bleibt: Er be­wegt sich stets in ei­ner Span­nung und sein Ur­teil legt da­von Zeug­nis ab.

  41. @Norbert
    In­ter­es­san­ter Aspekt, dass die Re­zen­sen­ten un­ter Um­stän­den zu viel wis­sen. Die von Ih­nen an­ge­deu­te­te Nei­gung, den Re­zi­pi­en­ten mit die­sem Wis­sen zu über­for­dern, ma­che ich da­für all­zu sel­ten aus. Sehr vie­le Re­zen­sio­nen er­schöp­fen sich doch in der Su­che nach au­to­bio­gra­phi­schen De­tails in der fik­tio­na­len Pro­sa und der Kon­tex­tua­li­sie­rung in den von Au­tor und Ver­lag vor­ge­brach­ten Deu­tungs­rah­men. Der an­de­re Teil fällt apo­dik­ti­sche Ur­tei­le. Ein ei­ge­nes Den­ken, ein ge­wis­ser Mut zum Ri­si­ko, ma­che ich all­zu sel­ten aus. (Viel­leicht bei Iris Ra­disch, die ich zu­wei­len schreck­lich fin­de, die aber häu­fig ein »Ri­si­ko« ein­geht; zu­letzt et­wa Her­ta Mül­ler.)

    @metepsilonema
    Das ist al­les rich­tig, was Du schreibst. Aber es ver­langt vom Le­ser auch par­al­lel Kennt­nis und Ein­schät­zung des je­wei­li­gen Re­zen­sen­ten, um des­sen Ur­teil im Ver­hält­nis zu an­de­ren le­sen zu kön­nen. Die Auf­ga­be bleibt im­mer beim Le­ser, wie man es auch dreht.

  42. @Gregor
    Klar, wo­bei die­se For­de­rung nicht ver­all­ge­mei­nert wer­den kann: Man­che le­sen ein­fach ger­ne oh­ne sich um Kri­ti­ker zu küm­mern, sie wür­den auch gar nicht auf die Idee kom­men sich, in wel­cher Form auch im­mer, öf­fent­lich zu äu­ßern (und ge­gen­über dem pri­va­ten »Li­te­ra­tur­dis­kurs« [auch: Ge­spräch, Tratsch] möch­te ich kei­ne For­de­run­gen er­he­ben). Um es auf den Punkt zu brin­gen: Ein Le­ser kann sich auf ei­ner Ebe­ne auf­hal­ten, auf der ihm ge­gen­über kaum For­de­run­gen er­ho­ben wer­den kön­nen, bei ei­nem Kri­ti­ker ist das an­ders, er ist oh­ne Öf­fent­lich­keit nicht zu den­ken.

  43. # 42 Gre­gor Keu­sch­nig

    Ja, wenn man die Re­zen­sio­nen liest, kann man das be­zwei­feln, da ha­ben Sie recht. Ich ha­be den Ge­dan­ken aus ei­nem Int­wview von Karl-Heinz Boh­rer in der »Welt«:

    »Ich sa­ge da­ge­gen: der Zei­tungs-Es­say bie­tet heu­te kei­ne Ga­ran­tie mehr, dass er wirk­lich ori­gi­nel­le Ge­dan­ken vor­bringt. War­um nicht? Weil der aka­de­misch er­zo­ge­ne Jour­na­lis­mus von heu­te so vol­ler ab­ruf­ba­rer Ideen, so vol­ler ab­seh­ba­rer Kennt­nis­se ist, bei­na­he zwang­haft. Es bleibt ihm gar nichts an­de­res üb­rig.«

    Auch wenn man sich die Bio­gra­phien vie­ler Kri­ti­ker an­sieht, stimmt die Fest­stel­kung von Boh­rer.
    Iris Ra­disch hat in dem von Ih­nen an­ge­führ­ten Fall zwar ge­gen den Strom ar­gu­men­tiert, aber an­son­sten ist sie oft mit­ten im Main­stream.

  44. @Norbert
    Es stimmt, dass Ra­disch na­tür­lich auch oft ge­nug im Main­stream ist bzw. Main­stream in der La­ge ist, zu steu­ern. Den­noch bin ich ihr für man­che »Klar­stel­lung« und ein­deu­ti­ge Po­si­ti­on dank­bar, wie bei­spiels­wei­se hier. (Das gilt auch dann, wenn ich ih­re Mei­nung über­haupt nicht tei­len kann wie bei­spiels­wei­se bei Hand­ke.)

    Boh­rers In­ter­ven­tio­nen sind im­mer ein biss­chen kühn. Ich ge­ste­he: Sehr vie­les von dem, was er so ge­schrie­ben hat, ha­be ich schlicht­weg nicht ver­stan­den. Das ist dann ein Bei­spiel für ei­nen Es­say­isten, der sei­ne Le­ser wenn nicht über­for­dert, so doch höch­ste An­sprü­che ab­for­dert. Da muss ich dann pas­sen. Was nichts ge­gen Boh­rer sa­gen muss.

  45. Die­ser Ge­dan­ke von Boh­rer hat­te mich beim le­sen auch frap­piert – aber ich fin­de, er stimmt: All­zu oft fin­de ich mich sel­ber – der ei­gent­lich im­mer ver­sucht, sei­ne ei­ge­nen Ge­wiss­hei­ten zu prü­fen – all­zu selbst-ver­stellt von den ab­ruf­ba­ren Hal­tun­gen zu oder den Per­spek­ti­ven auf ei­ne Sa­che.

    Was frü­her mal als Tu­gend galt – ei­ne Sa­che fun­da­men­tal-on­to­lo­gisch, exi­sten­zia­li­stisch, mar­xi­stisch zu kri­ti­sie­ren (es ka­men dann noch et­li­che da­zu, fe­mi­ni­stisch, post-struk­tu­ra­li­stisch, que­er, heu­te „post-mi­gran­tisch“ etc.: es ist ei­ne Pla­ge ge­wor­den) -, ist auch ei­ner ge­wis­se Schwä­chung, weil es mit der Ver­füg­bar­keit ei­nes Dis­kur­ses die­sen auch im­mer schwächt.

    Ich glau­be, dass ist Vor- wie Nach­teil bei sol­chen Köp­fen wie Zi­zek: Man kriegt end­lich mal wie­der [ver­meint­lich] ein­deu­ti­ge Po­si­tio­nen (bzw. sol­che, die ge­nug kom­plex sind, sich an­ge­regt da­zwi­schen zu be­we­gen) – aber merkt ir­gend­wann auch de­ren Be­grenzt­heit; aus dem Drei­eck von La­can, Marx und Hitch­cock (z.B.) las­sen sich eben nicht un­be­grenzt Fun­ken schla­gen. Da sind dann die gu­te al­te Links-Po­li­tik und die „Per­ver­sio­nen“ des Chri­sten­tums Frisch­zu­fuh­ren.

    Eben sol­che Mind-Sets, auch dif­fe­ren­zier­te­re, gibt es aber zu al­lem (frü­her, no­to­risch un­ter­kom­plex et­wa in dem po­li­ti­schen Links-Rechts-Sche­ma). Und da wird es dann auch über­flüs­sig, ge­wis­sen Leu­te über­haupt an­zu­hö­ren bzw. Ar­gu­men­te aus­zu­tau­schen… die man dann auch nicht mehr ent­wickeln kann. Ehe­mals et­wa MRR – oder dau­er­haft die „Ge­ne­ral­se­kre­tä­re“ der Par­tei­en. Von dort her kom­men dann ei­gent­lich kei­ne Re­de­bei­trä­ge son­dern nur mehr Auf­sa­ger, Platz­hal­ter im Auf­merk­sam­keits­strom, die al­les schwer­fäl­lig ma­chen und zu die­ser auch von Boh­rer kri­ti­sier­ten Brä­sig­keit füh­ren.

    Was aber wä­re mög­lich – wä­re es mög­lich? – könn­te man die­se Sets ver­las­sen? Man kann es nicht (oft eben auch nicht die Aka­de­mi­ker – aber schon gar nicht die pro­mi­nen­ten Wort­füh­rer, die Ex­per­ten, die mit der Mei­nungs­füh­rer­schaft.

    Wei­ter ge­fasst be­deu­ten eben die­se Sets dann das Ge­mein­platz­we­sen, an dem al­le lei­den: Letzt­lich folgt sämt­li­che me­dia­le Be­hand­lung der Din­ge die­sen Be­gren­zun­gen (schön aus­ein­an­der ge­nom­men höch­stens noch von Slo­ter­di­jk, Ar­min Nas­sehi etc. oder eben Au­ßen­sei­tern; da­her kom­men dann oft die Ver­füh­run­gen durch sol­che Ty­pen wie Bro­der oder durch sol­che an­geb­li­chen „Neo-Cons“ wie Bolz usw.)

    Boh­rer fin­de ich per­sön­lich im­mer er­fri­schend. Aber ich wür­de ger­ne hier mal auf Ge­or­ge Stei­ner ver­wei­sen, der oft et­was an­führt, dass die Brav­heit der ge­läu­fi­gen Mind-Sets tat­säch­lich mal wie­der zu spren­gen ver­mag: Näm­lich das Plä­doy­er für den Pri­mär-Text.

    Es gibt da näm­lich et­was mit den gan­zen schö­nen Dis­kus­sio­nen und den Er­mäch­ti­gun­gen der Mas­sen und dem Dau­er-Dis­kurs… was die ei­gent­li­che Sa­che – hier al­so Li­te­ra­tur – per­ma­nent schwächt. (Nach m.M. hat Bo­tho Strauß da ein­fach Recht.)

    Ich hat­te die­se Ka­non-Sa­che auch ein we­nig als Hin­weis dar­auf ver­stan­den: Glaub’ nicht die­ser flot­ten Non­cha­lance, sich von dem frei­ma­chen zu kön­nen, mit dem wir über­haupt hier­her ge­langt sind. Lass Dir nix von Best­sel­ler-Cla­que­ren er­zäh­len, ver­giss wi­ki­pe­dia und die Kurz­fas­sungs­ge­ber und die sich selbst ver­stär­ken­den Ef­fek­te all der Freun­des- und Find-ich-auch-Sei­ten, die Dich ver­meint­lich ent­la­sten: Lies’, wenn Du die ge­nann­ten Bü­cher schon nicht kennst, end­lich mal ei­nes da­von. Lies’ statt den ver­damm­ten Text!

  46. @en-passant
    Na­ja, die »ab­seh­ba­ren Er­kennt­nis­se«, die Boh­rer da mo­niert ent­sprin­gen wo­mög­lich den Usan­cen des Be­trie­bes an sich. Und, ket­ze­risch ge­fragt: War es je an­ders? Wie ge­hen Es­say­isten denn mit Leu­ten um, die ih­re An­sich­ten ver­än­dern, viel­leicht auch nur ver­fei­nern? Sie gel­ten als Ab­trün­ni­ge ih­rer selbst und das möch­te man für sich nicht ris­kie­ren. Neu­lich sag­te Ul­rich Grei­ner in ei­nem Ge­spräch, er ha­be Hand­ke in sei­nen Ver­ris­sen viel­leicht zu stark an­ge­gan­gen; er schätzt ja den Au­tor (wie sich her­aus­stell­te, so­gar sehr). Das nen­ne ich aber ei­nen un­ab­hän­gi­gen Geist – sich von sei­ner ei­ge­nen Nei­gung nicht kor­rum­pie­ren zu las­sen. Und doch hat es auch zu­wei­len et­was Op­por­tu­ni­sti­sches an sich bzw. lie­fert die Vor­la­ge da­zu.

    Un­be­dingt fin­de ich die­ses Plä­doy­er für den Pri­mär-Text wich­tig. Im neu­en Ro­man von Ste­phan Thome be­sucht ein Noch-Pro­fes­sor ei­nen Aus­stei­ger-Pro­fes­sor in Frank­reich. Was jetzt wirk­lich an­ders sei, sag­te der »Aus­stei­ger«: er le­se jetzt kei­ne Se­kun­där­li­te­ra­tur mehr. Kann man schö­ner zei­gen, wie ver­zwei­felt es in ei­nem Be­trieb zu­ge­hen muss, der nur noch selbst­re­fe­ren­zi­ell re­agiert? Wer hat denn Strauß’ »An­schwel­len­den Bocks­ge­sang« heu­te noch ein­mal ge­le­sen? (Nur ein Bei­spiel.) Al­so wä­re der Ka­non-Ver­such von Ra­disch ein Ap­pell an die Bran­che?

    Ich er­wi­sche mich oft ge­nug, wie sich bei mir die Ur­tei­le und Prä­mis­sen ver­scho­ben ha­ben. Es bleibt ver­blüf­fend we­nig Kon­stanz, und das We­ni­ge viel­leicht auch, weil es woh­li­ge in­tel­lek­tu­el­le Heim­statt bie­tet.

    Und Zi­zek? Na­ja, sei­ne Ge­dan­ken sind manch­mal der­art ver­quer, dass sie tat­säch­lich für ei­nen Mo­ment er­fri­schen. Aber lei­der all­zu oft nur wie ei­ner die­ser Er­fri­schungs­tü­cher aus mei­ner Kind­heit, mit de­nen man sich im Som­mer auf Rei­sen un­ter­wegs »frisch ge­macht« hat.

  47. Ja, die­se Er­fri­schungs­tü­cher – sie sind ja auch ei­gent­lich für den Ein­mal­ge­brauch, oder?

    Aber die­se Heim­statt? Darf man sich die über­haupt ge­stat­ten, wo sich an­dau­ernd al­les ver­än­dert und dann doch ir­gend­wie nicht? Boh­rer sag­te ein­mal u.a., dass den Deut­schen aus be­kann­ten Grün­den ei­ne Ver­bin­dung zu dem wei­te­ren eu­ro­päi­schen Un­ter­strom feh­le – und sie das aber eben ei­nen Phan­tom­schmerz spür­ten und al­so zwi­schen ih­rer Bie­der­keit und ei­ner Art Wunsch nach in­tel­lek­tu­el­len Um­stür­zen le­ben müss­ten. Das, be­glei­tet von dem Hun­ger der Me­di­en nach im­mer neue­ren, im­mer kurz­fri­sti­ge­ren Auf­re­gern, schlei­fe dann letzt­lich die Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit ab: Die aber doch – und das ist jetzt mei­ne me­ta­pho­ri­sche Deu­tung – ei­ne Art Pri­mär-Text sein soll­ten. Man weiß ir­gend­wann gar nichts mehr von ei­ner „Heim­statt“. Wor­auf aber soll man sich bei sich sel­ber ver­las­sen?

    Nicht, dass ich vor­be­halt­los da­für plä­dier­te, doch er­tap­pe mich da­bei, dass ich bei die­se ver­streu­ten Plä­doy­ers für ir­gend­wel­che Rück­be­sin­nun­gen oft auf­hor­che. Da­bei ha­be ich längst mei­nen ei­ge­nen Ka­non, und er ist so­gar ei­ni­ger­ma­ßen sta­bil und of­fen zu­gleich.

    Denn auf der an­de­ren Sei­te mag ich es doch auch im­mer wie­der, wenn ir­gend­ei­ne neue äs­the­ti­sche Po­si­ti­on er­laubt, al­les mal wie­der in­fra­ge zu stel­len. Viel­leicht le­ben wir ja al­le in die­ser leich­ten Spal­tung: Man ist trai­niert auf den nie ganz zu stil­len­den Hun­ger nach et­was, und müss­te doch ei­gent­lich schon über­satt sein.

    Die­ses Mo­ment al­so am Ka­non – oder ich blei­be viel­leicht doch lie­ber bei mei­nem Wort da­für, ei­ner Rück­bin­dung – läuft dann auf nicht von vorn­her­ein ab­zu­leh­nen­de Ver­ge­wis­se­run­gen hin­aus, die es doch pe­ri­odisch braucht, auf Ori­en­tie­rungs­mar­ken in dem, dar­in es zu­min­dest Über­sicht kaum noch ge­ben kann. (Aber dann ist es eben auch wie­der schön, die Frei­heit zur ei­ge­nen Ge­wis­sen­lo­sig­keit zu ge­nie­ßen. Die Mo­der­ne ist eben „treu­los“, wie die „Be­zie­hun­gen“ auch.)

  48. Hm, dem Pri­mär­text­plä­doy­er fol­ge ich ger­ne, man muss be­reit sein sich an­zu­stren­gen, dann kann man viel ler­nen und be­hält oben­drein die Mög­lich­keit vom be­kann­ten Weg ab­zu­zwei­gen.

    Boh­rers Be­mer­kung las ich auch, re­flex­ar­tig den­ke ich mir bei ähn­li­chem im­mer: Kann man das so ei­gent­lich wis­sen (ich nei­ge da eher dem Nein zu, au­ßer­dem ist es ein schö­nes Kon­trast­mit­tel, un­be­nom­men da­von, wie sehr es zu­trifft)? Wenn man sie aber ein­mal so nimmt, dann könn­te ei­ne Ant­wort lau­ten, dass man viel­leicht nicht mehr per­sön­lich ge­nug hin­se­hen will oder kann (viel­leicht hat das auch mit dem Ein­las­sen zu tun und der da­für not­wen­di­gen Zeit).

    Selbst wenn man in sei­nen Ecken bleibt oder be­stimm­te Ant­wor­ten im­mer rasch und zu­erst kom­men, an Or­ten wie die­sem hier, be­steht ja – im al­ler ge­ring­sten Fall – die Mög­lich­keit sich die der an­de­ren an­zu­hö­ren. An­son­sten hat es si­cher­lich mit ei­ner Art von Of­fen­heit oder ei­nem Of­fen­sein zu tun (»Schwe­bung«) — da­für ver­liert man an Ge­schlos­sen­heit und Ein­deu­tig­keit.

    Oh­ne ei­ne Heim­statt, ei­ne Art Aus­gangs­punkt, selbst wenn er um sei­ne Un­si­cher­heit weiß, geht es doch nicht, oder? Das Wort »Rück­bin­dung« ge­fällt mir sehr gut.

  49. @en-passant – Zur »Heim­statt«
    »Heim­statt« ist viel­leicht nur ein an­de­res Wort für ei­nen in­ne­ren Ka­non. (Ihr Aus­druck Rück­bin­dung ist viel schö­ner.) Pa­the­tisch-me­ta­pho­risch aus­ge­drückt: das Haus, wel­ches man be­wohnt. Ab ei­nem ge­wis­sen Al­ter zieht man nur noch sehr un­gern um; die Mö­blie­run­gen ver­än­dern sich je­doch durch­aus noch. Mal wer­den klei­ne und mal grö­ße­re Mö­bel­stücke auf den Sperr­müll ge­stellt. Und mal gibt es ei­nen Ta­pe­ten­wech­sel, wo­bei man sich wun­dert, was man frü­her mal schön fand.

    Die­ses per­ma­nen­te In­fra­ge­stel­len – ist das nicht auch ein biss­chen ab­ge­schaut von den Na­tur­wis­sen­schaf­ten, die ih­re Ge­wiss­hei­ten auch nur »lei­hen« bis zum Be­weis des Ge­gen­teils? Oder von die­sem Ge­ha­be der IT-Bran­che, die mich qua­si täg­lich zwingt, »neue Up­dates« mei­nes Be­triebs­sy­stems zu in­stal­lie­ren? Ab­ge­se­hen da­von, dass die von Ih­nen schon an­ge­spro­che­nen Dis­kus­si­ons­mu­ster der 70er Jah­re hier im­mer noch durch­schim­mern. Ich sa­ge ganz of­fen, dass mich das häu­fig ein­zig wahr­ge­nom­me­ne Ar­gu­ment, et­was sei »nicht mehr mo­dern« oder ent­sprä­che »nicht mehr der Zeit« nie so rich­tig über­zeugt. Im ge­gen­teil: ich wer­de dann be­son­ders skep­tisch. Schließ­lich bin ich doch kei­ne Mo­de­pup­pe, die sich an Trends zu ori­en­tie­ren hat. Wer sagt mir denn, dass Tho­mas Mann »über­holt« ist (Ihr Bei­spiel!)? Vor al­lem: nach wel­chen Kri­te­ri­en? Kann nicht ge­ra­de im wi­der­setz­li­chen Be­har­ren auf das schein­bar Über­kom­me­ne auch ei­ne Stär­ke lie­gen? (Ich den­ke da an Her­mann Lenz’ au­to­bio­gra­phisch ge­färb­te Rapp-Ro­ma­ne. Lenz war das, was man ge­mein­hin ei­nen »Re­ak­tio­när« nann­te – auf äs­the­ti­scher Ebe­ne. Sie ken­nen ja sei­ne »Ent­deckung« durch Hand­ke. Und plötz­lich war der »Re­ak­tio­när« im »Trend« – in­klu­si­ve Büch­ner-Preis.)

    Na­tür­lich ent­wickeln sich Ge­sell­schaf­ten, aber doch meist evo­lu­tio­när statt re­vo­lu­tio­när. Mich re­gen ja die­se Lob­hu­de­lei­en auf ame­ri­ka­ni­sche De­but­an­ten­ro­ma­ne auf und ich fra­ge mich, wer dar­an ge­dreht hat, dass ich aus­ge­rech­net DAS zu le­sen be­kom­men – und nicht ir­gend­ei­nen an­de­ren Ro­man (den ich wo­mög­lich nie über­setzt zu le­sen be­kom­men wer­de). Flugs wer­den hier Hym­nen ver­fasst, die ich nicht glau­ben kann und die sich zu­meist auch als völ­lig über­dreht her­aus­ge­stellt ha­ben (ich den­ke da bspw. an je­man­den wie Fran­zen, des­sen »Kor­rek­tu­ren« ich höchst mit­tel­mä­ssig fand). Die Li­te­ra­tur­ge­schich­te wird aber nur all­zu sel­ten je­des Jahr neu er­fun­den. In­so­fern müss­te man das ak­tu­el­le Re­zen­sen­ten­tum von der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft scharf und deut­lich tren­nen. Er­ste­res dient als Ven­til (auch öko­no­misch). Und die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaf­ten ha­ben den län­ge­ren Atem und schau­en dann in zehn Jah­ren noch mal hin. Oft ge­nug ist dann der Blick kla­rer.