Moos auf den Steinen, das Buch dieses Titels stand viele Jahre in meinem Bücherregal, aber gelesen habe ich es nie. Dabei stellte ich mir vor, der Verfasser gehöre zu meinen Ahnen; fast so, als könnte ich ohne ihn, ohne die Lektüre seines Buchs überhaupt nie etwas schreiben (und wie lange habe ich nichts geschrieben, nachdem der jugendliche Überschwang vorbei war). Ich nahm es immer wieder zur Hand, strich über seinen Deckel, seinen Rücken, seine Stirn, ohne darin zu blättern. Als wollten meine Finger das Moos an diesem Buch ertasten: materiell, nicht symbolisch. Aber auf dem Leinen wuchs kein Moos.
Jetzt wächst es, hier vor mir, um mich herum, überall. Auf dem Stein der Totenlaterne, des Geländers, der Säulchen; auf dem Holz, auf dem Platz, wo ich sitze, auf der gestampften Erde und der lockeren Erde, in der Regenrinne und den Abbruch hinauf, um im Schatten, im Wald, im Dunkel zu verschwinden. Aber wächst es denn wirklich? Wächst es in der Wirklichkeit – oder nicht doch im Buch, in seinem, meinem, jedem Buch? Wenn, dann wächst es langsam, unmerklich, nicht in Tagesschnelle wie die Gräser, die Bambussprossen, die Farne. Wahrscheinlich braucht es Jahre, oder Jahrhunderte, das waldgrüne, lichtgrüne, wassergrüne, erdgrüne, olivgraue, nachtsilberne, reisstrohfarbene Moos. Oder es gleicht schon – oder längst – dem Stein, hat sich diesem anverwandelt, ist steinern geworden, so daß es nun frei ist von der Mühe des Wachsens und Vergehens, jenseits von Leben und Tod.
Moos auf den Steinen, das Buch existiert, lebt weiter in meinem Kopf und vor meinen Augen, schreibt sich ungelesen fort in dieser und jener Wirklichkeit. Vielleicht habe ich es damals, als der Überschwang schwand, unwillkürlich erkannt und seine Botschaft aufgenommen: Lies mich nicht! Geh zu den Steinen, geh in den Wald, berühre das nächste, das nächste, das nächste. Es ist ein langer Weg, aber auch: In einem anderen Leben tränkt das Moos den Stein.