Mut­ter­lie­be, Cha­rak­ter­um­kehr und kur­ze Pa­nik

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN MÄRZ 1989

Pa­ris, 6. März, Mon­tag: Strah­len­der Tag, herr­li­che Wär­me, un­glaub­lich schön. Mut­ter klingt schreck­lich schlecht, am Te­le­fon, in Ber­lin ist sie, al­lein­ge­las­sen von Bob1, ent-liebt, de­pri­miert. Ma­che ihr den Vor­schlag, nach Pa­ris zu kom­men. Aus Mit­leid? Ja, in er­ster Li­nie.

Be­glei­te L.2 zu ih­rem En­ga­ge­ment in den »Vogue«-Studios: sie soll Li­mo­nov3 nackt pho­to­gra­phie­ren, für die Con­dé-Nast-Zeit­schrift »Gla­mour«. (...) Durch die un­fass­ba­re Wär­me Rich­tung Thé­at­re de l’Odéon, heu­te ge­lingt mir der er­ste Kon­takt zu den Män­nern.4 Ein Jun­ge spricht mich an, Pas­cal, stellt mich all sei­nen Ha­be­rern5 vor, Ha­kim vor al­lem, ei­nem Was­ser­fall der Re­de- und Er­zähl­lust. La­de sie zu Ca­fé und Men­the-Tee ein, wir spre­chen über mein An­lie­gen, sie zei­gen sich in­ter­es­siert, be­gei­stert, neu­gie­rig. Ha­kim meint, ich müs­se viel über die Tech­nik des Büh­nen­bilds, der Büh­nen­ar­beit nach­le­sen, die zahl­lo­sen Fach­aus­drücke, die Kno­ten, die TABUS der »ma­chi­ni­stes« ken­nen­ler­nen, die vor 200 – 300 Jah­ren meist ehe­ma­li­ge See­leu­te wa­ren. Er zeigt mir den Be­reich ober­halb der Büh­ne, den Schnür­bo­den so­zu­sa­gen, CINTRE ge­nannt. Bin im Um­klei­de­raum der Män­ner, wo die blau-me­tal­le­nen Schrän­ke ste­hen – wie bei Fuß­bal­lern oder Mi­li­tärs. End­lich der er­hoff­te Kon­takt! Wer­de si­cher viel von die­sen Ker­len ler­nen...

Zu­hau­se Nach­richt von Mut­ter, daß sie tat­säch­lich nach Pa­ris zu kom­men ge­denkt. Mor­gen bis Sams­tag. Stöh­ne in­ner­lich, statt mich zu freu­en. (...) Die lie­be Mut­ter – bin ver­zwei­felt, sie nicht mehr lie­ben zu können/zu wol­len.

7. März, Diens­tag: Um ca. ½ 16h mit dem Au­to zum Flug­ha­fen. Mut­ter wird 1 Stun­de beim Zoll fest­ge­hal­ten, da sie kein Vi­sum für Frank­reich in ih­rem ame­ri­ka­ni­schen Paß hat. (Und nie hat­te, d.h. im De­zem­ber ein­fach un­be­merkt durch­rutsch­te, of­fen­bar, oder viel­leicht den öster­rei­chi­schen Paß zeig­te?) Kommt na­tür­lich gänz­lich AUFGELÖST her­aus, muß­te ein Bil­lett egal wo­hin kau­fen, hat her­um­ge­brüllt, bei den Flug­ha­fen- und Po­li­zei­kräf­ten, kein Wun­der. Sieht er­bärm­lich aus, als sie mir in die Ar­me fällt. Die Au­gen rot vor Wut. Au­ßer­dem ihr Flug be­son­ders gräß­lich – mit ei­ner win­zi­gen Propeller­maschine, Fok­ker, Air France Di­rekt­flug von Ber­lin.

Am 10. März, Frei­tag, flie­gen L. und ich nach Lon­don, blei­ben bis Diens­tag, den 14.3. dort. Sind dies­mal bei­de von Lon­don ge­ra­de­zu ab­ge­sto­ßen, bzw. se­lig, nicht nach Lon­don, son­dern nach Pa­ris ge­zo­gen zu sein. Lon­don hat so et­was trau­rig-Dü­ste­res, viel-zu-Gro­ßes an sich – nein, kein Wohn­ort für uns. (...) Sonn­tag Abend tref­fen wir mit Jackie und Chri­stoph Waltz6 zu­sam­men – be­su­chen sie in ih­rem Haus in East Finch­ley. Es­sen in ei­nem in­disch-ve­ge­ta­ri­schen Lo­kal na­he Eu­s­ton Sta­ti­on. Jackie ent­zückend. Chri­stoph ein an­gry young man – ich mag ihn recht ger­ne. Die 3 Kin­der im Haus kurz ge­se­hen, al­le­samt her­vor­ra­gend ge­lun­gen: Mi­ri­am, Le­on, Ra­chel.

(...) Das Haus im üb­ri­gen erstaunlich/erschreckend klein. (...) Recht lan­ge bei­sam­men, die bei­den chauf­fie­ren uns dann nach Hau­se, zum Ho­tel Wil­bra­ham. Die Ähn­lich­keit zwi­schen Jackie und mir, die Ähn­lich­keit zwi­schen L. + Chri­stoph er­staun­lich – d.h. die Paa­re wä­ren auch an­ders zu mi­schen. Sa­ge zu Jackie: in the next life...worauf Chr. pro­te­stie­rend aus­ruft: war­um erst im näch­sten Le­ben? Am Abend des 13. tref­fen wir uns noch­mals mit J. und Chr., se­hen den Film »Scan­dal«, am Lei­ce­ster Squa­re – Ge­schich­te der Chri­sti­ne Keeler...Danach Chri­stophs WUT, weil die Pubs + Al­ko­hol-Aus­schank­stel­len um punkt 23h kei­nen Trop­fen mehr aus­schen­ken. Welch Un­ter­schied zu Pa­ris! An je­der Ecke ein Ca­fé, bis spät, spät of­fen! (...) Kau­fe mir am 14. Bü­cher ad Ma­the­ma­tik – für Ti­gor – bin schon ganz un­ge­dul­dig, die­se Bü­cher (auch ei­nes ad Des­car­tes) zu le­sen!

Pa­ris, 17. März, Frei­tag: Abends kommt Ed Li­mo­nov zu uns, er hat Na­ta­sha ver­las­sen, weil sie zum x‑ten Mal voll­trun­ken + erst nach Ta­gen des Ver­schwin­dens wie­der­auf­tauch­te – nein, er wol­le nicht zu ihr zu­rück. Er­zählt Ge­schich­ten aus ih­rer bei­der Ver­gan­gen­heit – das al­les klingt wie Li­mo­nov-Li­te­ra­tur. Sein Mo­no­log ad Tö­ten-Dür­fen – und die Lä­cher­lich­keit des Hu­ma­nis­mus; die Welt ge­he oh­ne­hin un­ter – und man müs­se tö­ten, wenn es not­wen­dig sei.7 Er hat kein Dach überm Kopf, über­nach­tet heu­te bei uns, un­ser er­ster ge­mein­sa­mer Haus­gast seit wir zu­sam­men sind. Be­trin­ke mich lei­der ziem­lich, füh­le mich Nachts schlecht + schwach – ab­scheu­lich – und L. ist un­ru­hig, weil ein frem­der Mann in der Woh­nung ist.

Étretat, 29. März, Mitt­woch: – In den Ort ge­gan­gen, viel zu ge­schnie­gelt und wohl­an­stän­dig er­scheint er uns. Spa­zie­ren am stei­ni­gen Strand ent­lang, in Rich­tung der ho­hen Fel­sen, die hier be­son­ders im­po­sant sind, von To­ren durch­bro­chen, ein we­nig wie in der Al­gar­ve sieht es hier aus. Über­que­ren ei­ne stei­ner­ne Ufer­land­schaft, klet­tern zu ei­ner Höh­le hin­auf, ein Schild warnt da­vor, daß man bei Flut in die­ser Höh­le war­ten muss und kein Weg zu­rück­führt. Aber es herrscht ja Eb­be + wir durch­que­ren d. Tun­nel, er­rei­chen auf der an­de­ren Sei­te ei­nen sehr schö­nen Strand, ganz ein­sam, idyl­lisch, wun­der­schön.

(...) Lang­sam wie­der zu­rück, auch zwei Leu­te au­ßer uns, zu­rück an je­ne Stel­le, wo das Schild vor der Flut warnt. Plötz­lich die Er­kennt­nis: die Flut hat ein­ge­setzt, wir kön­nen nicht je­nen Weg zu­rück­ge­hen, den wir ka­men – müs­sen bis zur Eb­be war­ten. Zu mei­nem Er­stau­nen ken­ne ich die Dau­er der Ge­zei­ten nicht. 4 Stun­den? 6? Der Mit­ge­fan­ge­ne sagt: al­le 4 Stun­den. Ich fü­ge mich in mein Schick­sal, es ist ca. 12h, rech­ne al­so, oh­ne Mittag­essen zu blei­ben und bis 16h hier fest­zu­sit­zen. Die Son­ne scheint, es ist recht warm, mei­ne Sor­ge hält sich sehr in Gren­zen. Neh­me das Ge­sche­hen als Schick­sals­schlag hin, oh­ne mit der Wim­per zu zucken. Se­he nach ca. 1 Stun­de nach un­se­ren Mit­ge­fan­ge­nen – sie sind fort. Müs­sen durch das ho­he Was­ser ge­wa­tet sein. Das Meer in­zwi­schen weit an­ge­stie­gen, un­denk­bar, in­zwi­schen, oh­ne Lun­gen­ent­zün­dung die Ent­fer­nung zu­rück­le­gen zu kön­nen. Um ca. 14h be­ginnt L.’s Un­ru­he. Sie macht mich auf ei­ne Ne­bel­bank auf­merk­sam, die ra­pi­de nä­her kommt. Bald ist die Son­ne weg, es wird küh­ler, un­ge­müt­li­cher, L. ver­steht mei­ne Ru­he nicht. Der Ne­bel nimmt zu, L.’s Angst ist plötz­lich hef­ti­ger, sie meint, wir müss­ten et­was un­ter­neh­men – es kön­ne Sturm auf­kom­men, sie ha­be Angst, wir müs­sen hier über­nach­ten, denn die Eb­be wer­de nicht ge­nü­gend zu­rück­wei­chen. Be­fürch­te nichts der­glei­chen + als L. wie ei­ne Schiff­brü­chi­ge zu win­ken + zu ru­fen be­ginnt, ist mir das selt­sam pein­lich, möch­te mich fast ver­stecken. L. aber winkt, fleht mich an, eben­falls zu win­ken, tue das ganz ge­gen mei­nen Wil­len, ge­nie­re mich ex­trem, sa­ge ihr im­mer wie­der: wir sind doch nicht in Ge­fahr! L. bleibt be­stimmt: es kann schlim­mer wer­den, man er­kennt uns kaum noch, we­gen des Ne­bels, stell dir vor, wie es sein wird, wenn man uns über­haupt nicht mehr sieht. L. fragt mich, wie lan­ge man oh­ne Nah­rung aus­kom­me?

(...) Sie in­si­stiert: wenn dann Sturm herrscht, nützt uns auch die Eb­be nichts mehr. Wir win­ken, brül­len, L. vor al­lem, sie ruft: Hal­lohh! mit sehr ho­her, schril­ler Stim­me. Die Sche­men im Ne­bel – er­ken­nen sie uns? (...) Das Was­ser steigt im­mer wei­ter, auch um 15h, und um 16h noch, al­so wird es vor 8h oder 9h Abends nicht ab­ge­sun­ken sein. L. ver­schwindet sehr ver­zwei­felt und frie­rend im Tun­nel. Wäh­rend sie fort ist, er­ken­ne ich durch den Ne­bel ein Feu­er­wehr­au­to mit Blau­licht auf der Ufer­pro­me­na­de. Sa­ge zu L.: wir wer­den ge­ret­tet – und 3 Mi­nu­ten spä­ter se­hen wir ein grau­es Schlauch­boot auf uns zu­steu­ern, mit zwei jun­gen Män­nern be­setzt, sie kom­men in un­se­re Bucht, sie RETTEN uns. Die Jungs höch­stens 16 – 17, sie wa­ten bis zu den Knien im eis­kal­ten Was­ser, um das Boot wie­der ab­zu­sto­ßen, und wir fah­ren über die Wel­len zur Pro­me­na­de. Die Feu­er­wehr hat­te die bei­den ge­fragt, ob sie Lust hät­ten, uns mit ih­rem (Privat-)Boot zu ho­len? Sie woll­ten ger­ne. Als wir die Pro­me­na­de er­rei­chen, er­war­tet uns ein Spa­lier von rund 50 – 60 Schau­lu­sti­gen, auf­ge­reiht wie ei­ne Per­len­ket­te, al­le uns zu­ge­wandt, aber al­le völ­lig laut­los, völ­lig reg­los, ei­ne graue Wand er­war­tet uns, kein Gruß, kein Spott, nichts, nur Stil­le. Un­ser Dank ge­gen­über den Jungs, Geld neh­men sie nicht, die Feu­er­wehr will un­se­re Na­men + Adres­se wis­sen, die Jungs füh­ren uns in ih­re Lieb­lings­bar, wir la­den sie dort auf hei­ße Scho­ko­la­de ein.

(...) L. se­lig, dass wir ge­ret­tet sind – und fas­sungs­los, dass ich bis 20h30 dort aus­ge­harrt hät­te. Die­se Um­keh­rung un­se­rer Cha­rak­te­re in­ter­es­sant: die stil­le, schüch­ter­ne L. wur­de zur lau­ten, sich um die Mei­nung an­de­rer Men­schen nicht küm­mern­de Fast-Fu­rie, ich aber, der nicht-Schüch­ter­ne, fast-ex­zen­tri­sche Welt­freund wur­de zum scheu­en, ver­le­ge­nen Schick­sals­ak­zep­tie­rer. (...) Sind bei be­ster Lau­ne, quä­len ein­an­der mit der Vor­stel­lung, noch dort am Fel­sen zu ste­hen, in der Ei­ses­käl­te...

© Pe­ter Ste­phan Jungk


  1. Gemeint sind Jungks Eltern, Ruth und Robert (Bob) Jungk. 

  2. Lillian Birnbaum, Fotografin und Filmproduzentin, seine spätere Frau. 

  3. Ed Limonov, russischer Schriftsteller, später nationalistischer Politiker. Vgl. 'Horror-Wohnungen' 

  4. Im Rahmen seiner Recherchen für den Roman 'Tigor', 1991 im Verlag S. Fischer erschienen, verbrachte Jungk mehrere Monate im Théatre de l’Odéon, um das Leben der Bühenarbeiter, vor allem der am Schnürboden Beschäftigten, näher kennenzulernen. 

  5. Österreichisch/Wienerisch für Freunde. 

  6. Der Filmschauspieler lebte damals mit seiner amerikanischen Frau und den drei gemeinsamen Kindern in London. 

  7. Anmerkung PSJ: Diese Zeilen rückblickend lesend, wundere und ärgere ich mich, auf Limonovs unerträgliche Meinungsäußerungen im Tagebuch März 1989 nicht näher eingegangen zu sein