oder: Wie ethische Werte in der Desinformationsgesellschaft zerbröseln
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Vor einigen Jahren fragte mich eine junge, kaum zwanzigjährige Verkäuferin in einer der Wiener Boutiquen, die sich in den Gassen hinter dem Stephansdom eingenistet haben, ob ich vielleicht in der Unterhaltungsbranche tätig sei. Ich suchte ein Kleidungsstück für meine Frau aus und hatte nebenbei mit diesem gut gelaunten Mädchen, das an seiner Arbeit offenbar Spaß fand, dahingeplaudert. Ich war perplex, als sie mir diese Frage stellte. »Unterhaltungsbranche«, allein das Wort hätte ich nicht in den Mund genommen. Ich fragte sie, wie sie darauf komme, und erfuhr, dass es meine Redeweise war, die sie auf die Vermutung gebracht hatte. Es hatte zwar keinerlei Verständigungsschwierigkeiten zwischen uns gegeben, doch die Art meiner Wortwahl und mehr noch die Tatsache, dass ich überhaupt Worte mit Bedacht auswählte in einem Gespräch ohne jede tiefere Bedeutung (auch das ein Ausdruck, den sie wahrscheinlich in der Unterhaltungsbranche zuordnen würde), hatte sie ins Staunen gebracht. Ich glaube, mit »Unterhaltungsbranche« meinte sie Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften... »News« oder »Wiener« oder was es damals so gab. Nicht eigentlich das, was in der Nachkriegszeit als »Showbusiness« importiert wurde. Nein, keine Schau, aber doch Unterhaltung, etwas Immaterielles; keine Stoffe und kein Büro. Zugleich aber: Geschäft, also ernstzunehmen. Vielleicht, dachte ich, ist Unterhaltung für dieses Mädchen das Höchste. Eher kleinwüchsig, kräftig, selbstbewusst, mit harmonischen Gesichtszügen (wieder so ein Ausdruck!), blickte sie zu mir auf, leicht amüsiert, guter Dinge, wie jeden Tag.
Die kleine Begegnung hatte mir Freude bereitet. Auch jetzt, in Japan, gehe ich ab und zu einkaufen, nur weil ich dabei Freude finde. Kaufen und Verkaufen, die Begegnung zwischen den beiden Seiten, ist eine, ja: zutiefst menschliche Situation, in der alles Mögliche an Kultur, Unterhaltung, Reflexion freigesetzt werden kann. Ohne es zu wissen, war jenes Mädchen in der Unterhaltungsbranche tätig. In Japan, wo ich schon damals wohnte, das Geschenk für meine Frau war ein Mitbringsel, in Japan laufen diese Dinge ein bisschen anders, formeller und traditioneller, vor allem wird man hier keine trüben Tassen finden wie in so vielen Geschäften in Wien – oder verkäuferlose Geschäfte, Selbstbedienung, unsere eigentliche Zukunft, nein: Gegenwart. Ich gehe in meine Lieblingsgeschäfte und rede mit den Verkäufern, die ich kenne, und manchmal mit einem neuen, meistens sind es Verkäuferinnen, und lasse mich beraten, freue mich über Vorschläge, komme nie in Kaufzwang, lasse mir am Ende sagen: »Schauen Sie wieder vorbei, auch wenn sie nichts brauchen«, lasse mir die Tasche mit dem Gekauften zum Ausgang bringen, auch das gehört zum Spiel. Nehme die Verbeugung entgegen. Wenn Zeit ist, reden wir über alles Mögliche, über europäische Architektur, das Hobby der Onechan, wie ich sie nenne, über Literatur, Jiro Asada zum Beispiel, sogar auf diesem Gebiet lasse ich mir Ratschläge geben. Umgekehrt kommt es vor, dass ich den Scout mache: Wie ist die Stimmung im Kaufhaus, auf der Straße, sind viele Kunden zu erwarten oder nicht? Ich gehe ein wenig mit der Sorge mit, wie die Geschäfte am heutigen Tag wohl laufen werden. Und wenn meine kleine Tochter dabei ist, brauche ich keinen Kinderhort, keine Kinderabgabestelle (wie in der Mariahilferstraße), weil die Verkäufer im Geschäft für sie eine zweite Familie sind, die sich mit ihr unterhält und von ihr unterhalten wird.
Wunderbar, das Leben in postindustriellen Zeiten! Man kommt der ersten Bürgerpflicht nach, dem Einkaufen, und neben der Ware gewinnt man ein Wohlbehagen, das sich aus immateriellen Energien speist, wie sie nur Menschen im Umgang miteinander entfalten können.
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Viele Jahre hat mich Nietzsche umgetrieben, die Lektüre, auch seine Biographie. Hat er mich vielleicht in die Unterhaltungsbranche gelockt? Ein Kranker, der immer kränker wird und sich zum Gesundheitsapostel aufschwingt. Ein Atheist, der sich immerzu neue Götter ausdenkt. Ein Liebesbedürftiger, unfähig, sich lieben zu lassen. Und einer der scharfsinnigsten Denker überhaupt. So scharfsinnig, dass er kein Gedankensystem zusammenbringt, indem es sich behaglich wohnen ließe. Nietzsche, das arme Schwein... War damals, ist heute, wird irgendwann etwas von dieser düster funkelnden Utopie lebbar sein, die den Namen Dionysos trägt? Ein Bruchteil davon, immer nur ein Stück. Im Rausch klaren Verstand bewahren, sich selbst ausbilden, indem man sich – von wem? von den Frauen natürlich – zerstören und zerstückeln lässt? Männerphantasien, klar. Tanzen statt philosophieren, philosophierend tanzen... Rüdiger Safranski hat darauf hingewiesen, dass Nietzsche kein Tänzer war, Schopenhauer, der keine so kühnen Sprüche führte, aber wohl. Bestimmt ist Nietzsche manchmal, in Italien oder sonstwo, abseits vom Tanzboden gestanden und hat sich seine Gedanken gemacht, oder genauer: hat sich wie Hamlet (in der wunderbaren Übersetzung A. W. Schlegels) von des Gedankens Blässe ankränkeln lassen. El tango es un pensamiento triste que se baila... »Der Tango ist ein trauriges Denken, das nicht gedacht, sondern getanzt wird«, sprach E. S. Discépolo, ein volkstümlicher Denker in Buenos Aires. Ja, man kann sich Erkenntnis durch Tanzen erwerben, aber auch das braucht viele durchwachte Nächte, nur wenigen wird sie in die Wiege gelegt. Nicht Denken als Tanzen ist hier die Devise, sondern Tanzen statt Denken. Das Denken hat endlich ein Tun geboren, in das sich der Denker verwickeln lässt.
Auch Jean Genet hat mich eine ganze Weile umgetrieben, bis ich ihn vergaß, und dann wiederentdeckte. Ja, er war die Erfüllung von Nietzsches Ahnungen oder Hoffnungen, der wahrhaftige Erlöser, seine Romane das Neue Testament zur Vollstreckung des Alten, das so schöne Bücher wie Die Geburt der Tragödie und Also sprach Zarathustra enthält. Doch die Wiederentdeckung enthielt für mich ein Element der Enttäuschung, weil Genet zwar mit vielem ernst gemacht hat, was Nietzsche so ernsthaft dahingeschrieben hatte, aber wie Nietzsche außerstande war, etwas wirklich Neues zu schaffen. Er hat, auf Nietzsches Spuren (von denen er lange nichts wusste), das Alte gewendet und umgedreht, bis es im Umkehrspiel zu funkeln begann. Er redete nicht vom tanzen und tanzte zwar schreibend, aber zugleich tanzte sein Körper in der Begegnung mit seinen Geliebten, allesamt männlichen Geschlechts. Sein Film Un chant d’amour ist der schönste Beweis für das alles. Ein künstlerisch-pornographischer Tanzfilm, nicht mehr und nicht weniger, zugleich das Resümee seiner Schriften, seiner Romane. Ein Freiheitsfilm, der die Freiheit im Gefängnis feiert. Das Gefängnis – oder die Welt – als Gitterkäfig, der Gefangene ist gar nicht gefangen. Was hindert ihn daran, zwischen den Stäben durchzugehen und seine Freiheit zu genießen? Nichts, nur die eigene innere Trägheit. Die Angst. Ich stelle mir vor, dass Genet den Kafka zurechtgewiesen hätte wie dessen Vater, mit herrischer Geste, nicht so stumpfsinnig zwar wie der Vater, diese trübe Prager Tasse.
Ja, die Herrenphilosophie... Es sind alte Werte, die Genet und Nietzsche neubelebt haben, vorzivilisatorische, barbarische, römische, im Verbund mit ästhetischen Werten, Methoden, Fertigkeiten, wie sie das 19., 20. Jahrhundert in Hülle und Fülle entwickelt hat. Aber das große Neue? Ein Phantasma, an dem sich Nietzsche das Gehirn wundgerieben hat.
3
Wie hängt das mit meinen Verkäuferinnen zusammen? Und mit der Unterhaltungsbranche? Ich weiß es nicht genau, habe nur diese Ahnung, dass in der Welt, der schönen neuen demokratischen Welt, wo der Konsument König ist und der Produzent ebenso wie der Diener im Aussterben begriffen, dass hier die neuen Werte des späten 19. Jahrhunderts, die neuen ästhetischen und die reaktivierten barbarischen Werte weitgehend Wirklichkeit, Wirklichkeit und Ideal geworden sind, insofern sie sowohl der Legitimierung als auch dem pragmatischen So-bin-ich-nun-mal dienen. Robert Pfaller glaubt, Hedonismus und Epikuräismus predigen zu müssen, doch er predigt in der üppigsten hedonistischen Umgebung, wo Selbstbespiegelung und Angeberei, Genußsucht und kurzfristiges Denken, Schönheitskult und Sexwahn herrschen. Vergegenwärtigt man sich Kierkegaards Entweder-Oder-Modell, so zeigt das Gesellschaftspendel eindeutig auf die Seite des Ästhetikers, des rücksichtslosen Don-Giovanni-Typen, der den Augenblick genießt, während die Seite des Ethikers, also die des besonnenen Familienvaters, der für sich und die anderen sorgt und sich nicht scheut, an den Tod zu denken (und so erst die Möglichkeiten des Daseins zu erfassen), langsam aber sicher verwaist. Das geht mittlerweile sei gut dreißig Jahren so, und die zwei Jahrzehnte davor, also die Zeit der »Achtundsechziger«, kann man, je nach Standpunkt und Vorlieben, als Auflösung alter Beharrungskräfte und Vorbereitung des kommenden ästhetisch-erotischen Hedonismus betrachten. Dass das alles so pseudo abläuft, steht auf einem anderen Blatt, dem nächsten: Ihm will ich mich gleich zuwenden.
Es ist eine bekannte Tatsache, an deren tagtäglicher Feststellung man fast nicht vorbeikommt, dass sich ohne Sex oder Erotik oder wie immer man es benennt (und wie immer man den Zusammenhang zwischen den beiden Aspekten bestimmt), heute gar nichts verkaufen lässt. Ohne Sex geht nix, und das Transportmittel dafür, nobler gesprochen: das Medium ist die Werbung, die tendenziell das Produkt ersetzt. Gestern habe ich notgedrungen eine DVD mit Videoclips über die Stadt Wien gesehen, die im Auftrag einer ehrenwerten Institution namens Wirtschaftsförderungfonds von einer natur- oder epochengemäß privaten Produktionsgesellschaft namens, ich zitiere, »Faudon Movies, New York« hergestellt wurde. In diesen Clips ist alles sexy, ständig sind »attraktive« Frauen und Männer zwischen die eiligen Wienbilder geschnitten, dauernd küssen und umarmen sich Paare, die Musik ist sexy, Klassik ist sexy, Klimt sowieso, der Autor des berühmten Meisterwerks Der Kuß, der Wein ist sexy, die Pferde sind sexy, die Wiener sind sexy... Denselben Befund erhalten Sie, wenn Sie die gewöhnlichen Werbesendungen zwischen eilige Fernsehbildern ansehen, und die Straße, der sogenannte öffentliche Raum, bestätigt: Die Welt ist sexy. Warum aber, mag ein Robert Pfaller fragen, beherrscht dann niemand mehr die Kunst des Flirtens – also der, wie man einst sagte, der Werbung? Antwort: Die Kunst vielleicht nicht, und beherrschen auch nicht; eine Kunst müsste man ja studieren und erlernen, es gälte, Anstrengungen zu unternehmen. Aber Flirten an sich, ja doch, jederzeit, überall. Im Radio und im Fernsehen wird es vorgemacht: Flirt-Trash, tiefste Selbstdarstellung, Anmache pur. Dass es niemand kann, liegt daran, dass es jeder können muss. Dank der Befreiung der »Achtundsechzigerjahre« musste (und muss) man können und cool sein, Männer und Frauen müssen, die Jungen und die Alten, die ewig jung bleiben wollen. Eineinhalb Jahrzehnte ist es her, dass in Österreich die wahrheitsgetreue Bemerkung von Karl-Markus Gauß für Erregung gesorgt hat, das beliebteste österreichische Radio werde tagein, tagaus von Vollidioten moderiert. (Die armen Erniedrigten und Beleidigten zogen damals vor ein Landesgericht, um die verlorene Ehre wiederzuerlangen.) Diese Art von medialem Vollidiotentum hat seitdem noch mehr um sich gegriffen, und der Sinn für Peinlichkeit scheint den sogenannten Konsumenten und Usanten (engl. user), also den zeitgenössischen Königen, mittlerweile abhanden gekommen zu sein.
Den dämlichen Flirtern ist es ernst. Jeder will Beute, jeder will, sagen wir’s vornehm, jeder will Sex. Und sonst nix. Das Gute an den frühen Büchern von Michel Houellebecq war, dass sie diesen Nagel auf den Kopf getroffen (und nicht nur ein bisschen gekratzt und gelockert) haben. Es ist den Flirtern ernst mit dem Spiel, und zwar sosehr, dass sie ihr Leben zum Spiel machen. Kaufen ist Pflicht, Spielen ist Pflicht, Spiele Kaufen höchste Pflicht. Lesen Sie, mit welchem Ernst Journalisten und Massen von Usanten über Video- und Computerspiele diskutieren! Damit verbringen sie ihre Zeit, ihre Feierabende, Nächte, auch Tage, Wochenenden: Computerspiele, Fußball und sonstiger Fernsehsport, Pornographie. War früher in Italien Sonntag Fußballtag, so sind die diversen Meisterschaften heute auf sämtliche Wochentage (einschließlich Montag) verteilt, und der Konsument führt sich die Meisterschaften sämtlicher Länder zu Gemüte. Der gute, der bessere Konsument wettet, er setzt auf eine Mannschaft, einen Läufer, einen Wagen oder ein Tier. Er beschleunigt den Umlauf seines Geldes und des Geldes der anderen, indem er die Spiele bespielt. Was einst die große, befreiende, freiheitsichernde Kraft der Kindheit und der Künste war, ist heute im Erwachsenenleben so inflationär geworden, dass es diese Kraft nicht nur eingebüßt hat, sondern der betriebsamen Erstarrung der postindustriellen Gesellschaft und ihrer Integranten, der sogenannten Individuen, Vorschub leistet. Scharen von Scheintoten sitzen vor Fußball‑, Infotainment- und Pornobildschirmen.
Warum ich jetzt schon zweimal »Porno« gesagt habe? Weil mir der wirtschaftliche und kulturelle, sittenmäßige, fast möchte ich sagen: moralische Siegeszug der Pornokulturindustrie bezeichnend scheint. Ich kenne die genauen Zahlen nicht, und bestimmt sind sie schwer eruierbar. Wenn ich im Internet, dem bei weitem wichtigsten »Ort« der Pornokulturindustrie danach suche, finde ich sehr widersprüchliche Informationen. Sicher ist, dass sowohl die Zahl der sogenannten Internetseiten (oder –orte) als auch die Zahl der Pornokonsumenten in die Millionen und Abermillionen geht und dass diese Zahlen immer rascher steigen. Weniger zahlreich sind die sogenannten Pornodarsteller (also Spieler, Schauspieler), und ich bezweifle eher, dass man sie um ihren Job beneiden muss. Wie beim Sport verlagert sich die Sexualität der Bevölkerung aus dem aktiven Bereich in einen mehr oder minder passiven, denn Selbstbefriedigung muss man wohl als stark eingeschränkte Tätigkeitsform begreifen; sie verlagert sich aus dem primären Bereich in einen sekundären, von der realen Ebene auf die virtuelle.
© Leopold Federmair
Dieser Text ist erstmalig in der Grazer Literaturzeitschrift »Lichtungen« erschienen; Heft 129 des Jahrgangs 2012.
Die Kommentarmöglichkeit besteht im zweiten und letzten Teil des Essays. (G. K.)