oder: Wie ethische Werte in der Desinformationsgesellschaft zerbröseln
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Ich entnehme diesen Überlegungen, die nichts anderes sind als Feststellungen des Offensichtlichsten (über das man nach wie vor wenig spricht), zwei Punkte, die ich ein wenig weiterspinnen will. Erstens, auf den Pornoseiten und den sogenannten Gesellschaftsseiten, in den social networks, wie es euphemistisch heißt, kann man Amateuraufnahmen von Amateurspielern sehen, doch bei weitem nicht in so großer Zahl, dass sie neben dem professionellen Pornogeschäft ins Gewicht fallen. Es ist dies ein Zeichen dafür, das öffentlicher und privater Bereich auch auf der intimsten Ebene nicht mehr getrennt sind. Eine nicht unbedeutende Rolle dafür spielt die Tatsache, dass Reproduktionsinstrumente, also Kameras aller Art, heute infolge technischer Entwicklungen, der allgemeinen Konsumgier und des faktischen Wohlstands für jedermann zugänglich sind. Jeder kann ständig Abbildungen von sich und seinen Nächsten machen und übertragen und tut es auch. Ein Kind, das kein Handy mit Fotoapparat besitzt, kann neben seinen Freunden nicht bestehen. Ein Kind ohne Internetanschluss kann auch nicht bestehen. Mimesis, Spiegelung, ist ein Massenphänomen und eine Massenzwangsneurose geworden. Zugleich können bei weitem nicht alle Personen vor den Schönheits- und Geilheitsidealen bestehen. Es findet eine Auslese statt. Die dabei entstehenden Kränkungen werden durch sekundäre, passive, virtuelle »Aktivitäten« in der Welt des Scheintods kompensiert.
Zweiter Punkt Probleme der Informationsbeschaffung. In keiner Epoche waren die Menschen so gut informiert, so kommunikativ, so kontaktfreudig wie in unserer, heißt es. Allerdings, füge ich hinzu, nur sekundär, auf der Schwundstufe, verschwindend. »Meine« heutigen Facebook-»Nachrichten« hatte ich schon gelöscht, wie jeden Morgen; ich hole sie noch einmal hervor: Mehrere Leute, die ich nie getroffen habe und deren Namen mir nichts sagen, haben geäußert, dass ihnen ein Foto gefällt, »auf dem ich markiert wurde«, was immer das heißen mag, oder sie haben ein Foto »von mir« kommentiert, ein Foto, das, wie ich nachgeprüft habe, weder mich zeigt noch von mir gemacht wurde. So geht das tagein, tagaus mit meinen »Freundschaften«. Viele meiner »Freunde« haben drei‑, vierhundert »Freunde«, manche bringen es auf tausend und mehr. In diesen Gewässern müsste man eigentlich alles unter Anführungszeichen schreiben, weil es uneigentlich oder, im schlechteren Fall, einfach falsch ist. Die »Aktivitäten« in der Facebook-Zone sind Statusmeldungen, Pinnwandfixierungen, Daumen-rauf- und Daumen-runter-»Bewegungen« usw. Das »Kommentieren« (meistens von Fotos, die Schrift spielt eine untergeordnete Rolle) wird in einer Sprachqualität betrieben, die hinter Standards, die in meiner Jugend verbreitet und von den meisten geteilt wurden, inzwischen weit zurückgefallen ist (wozu auch die Rechtschreibreform ein Schärflein beigetragen hat). Wer an solchen Standards festhält, ist in der Unterhaltungsbranche tätig, und wenn er Glück hat, erntet er von einer zwanzigjährigen Verkäuferin dafür Sympathie. Claudio Magris hat sich neulich in einem Interview entsetzt über die Ausdrucksfähigkeiten von SMSlern – heutiges Standarddeutsch – gezeigt. Und nicht nur über die Ausdrucks‑, sondern über Umgangs‑, Verstehens- und Austauschfähigkeiten. Die neuen »Sprachstile« (oder Sprachschwundstile) werden an Universitäten von sogenannten Sprachforschern mit ernster Miene erforscht.
Ach, über Information wollte ich schreiben... Zweiter oder dritter Punkt, die vermehren sich, so ist das in unserem Netz. Das Internet ist ja der Hort der Vielfalt, in ihm gibt es Milliarden von Nischen, worin man sich tummeln und, wenn man will, für eine Zeit heimisch werden kann. Schön! Faktum ist aber, dass das Informationswesen des Internets – von Ausnahmen abgesehen, die voraussichtlich immer weniger werden – die Gleichschaltung der Informierten bewirkt, so dass man sie letzten Endes als Desinformierte wird bezeichnen müssen. »Unsere« Gesellschaft ist eine Desinformationsgesellschaft. Nie stand soviel Wissen zur Verfügung, nie protzten die Leute so sehr mit ihrem Wissen, nie wussten sie faktisch so wenig (das sage ich im Bewusstsein meiner Arroganz). So gut wie jeder bleibt, wenn er im Internet nach Informationen sucht, bei Wikipedia hängen. Als »Beweis« gilt heute ein link, das eine Wort wurde durch das andere ersetzt, und als link gilt den allermeisten nur einer, der zu Wikipedia führt. Wikipedia ist de facto die einzige Wissensquelle; sucht man konkret nach einer Information, kommt der Wikipedia-Eintrag immer an erster Stelle. Was ist das, wenn nicht Gleichschaltung? Freiwillige, automatische, technisch gestützte, ebenso wundersame wie wunderbare Gleichschaltung. Ich schreibe »wunderbar«, weil Wikipedia in sich selbst vielfältig ist, seinem Prinzip der pluralen und anonymen Autorschaft folgend, dessen Problem, wie man weiß, die Kontrolle ist, ohne die es ebenfalls nicht existieren kann. Die Vielfalt kann sich vergrößern, und eine der Denkanstrengungen, die sich in diesem Zusammenhang lohnen, bezieht sich auf die Frage, welche Maßnahmen konkret zu ergreifen wären, um sie zu vergrößern und so die unvermeidliche Gleichschaltung abzumildern, zum Teil vielleicht rückgängig zu machen. (Eine Möglichkeit wäre, zu einem Stichwort mehrere Einträge zu veröffentlichen. Wobei sich als nächste Frage erhebt: Wie rubrizieren? Welche Kriterien wenden wir an?)
Wunderbar, wundersam und wunderlich: Die Relativitätstheorie steht da gleichberechtigt – ein bisschen umfangreicher erläutert, schon wahr – neben x‑beliebigen Popsternchen und drittklassigen Fußballspielern, über die irgendein »Autor« die »Informationen« mit bewundernswerter Akribie zusammengetragen hat.
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Ich hole Atem... Atmen kann man ja noch, Luft gibt es, Natur, immer da. Der Himmel oben, die Wolken, die Sterne, nachts. Nietzsche war, das muss man bei aller Sympathie sagen, Sozialdarwinist. Er hat Darwin, der damals im Schwange war, für sich entdeckt, gelesen, mit seinen frühen Erkenntnissen und Beobachtungen kurzgeschlossen. Der »Psycholog« wird zum »Hygieniker«; Reinemachen im christlich-demokratischen Saustall der Seelen. Okay. Als Ronald Reagan und Margaret Thatcher die Weltherrschaft des sogenannten Neoliberalismus einläuteten, konnte man noch pro und kontra sein. Man konnte abwägen und dafürhalten. In Argentinien habe ich erlebt, welche flächendeckenden Verwüstungen der Privatisierungswahn in Wirtschaft, Gesellschaft und Seelen angerichtet hat. In Japan habe ich gesehen, dass es unter bestimmten Bedingungen egal ist, ob eine Einheit, ein Betrieb, eine Bahnlinie, eine Gruppe, eine Institution »privat« oder »öffentlich« ist. Die Bedingungen waren und sind so, dass man zuerst an den anderen und dann an sich denkt. Ganz schlicht gesprochen. Es ist dieselbe Ethik, fraglos und ohne viel Reflexion praktiziert, die der aus Litauen stammende Philosoph Emmanuel Lévinas geduldig schriftlich entwickelt hat, aus der wohlverstanden, gewiß auch kritisch betrachteten jüdisch-christlichen Zivilisation heraus und hinein in das mörderische 20. Jahrhundert, das Leute wie Lévinas in Gasöfen steckte. Nietzsche, das arme Schwein, war der erste, der diese Zivilisation in Bausch und Bogen und mit vielen detaillierten Argumenten, tausenden Nadelstichen, verwarf.
Wir sind Tiere, gut; aber warum sollen wir sein wie die Tiere? Warum sollen wir Tiere werden? Nein, Mensch, Konsument, Usant: Werde nicht, was du bist! Werde ein anderer, ein Nicht-Tier! Du hast alle Trümpfe in der Hand! Vor allem du, junge Verkäuferin! Du, Jugendlicher! Du, Kind! Du brauchst kein Computerspiel, keine Love-Action, keine Parade, keine Sozialkontakte! Du kannst das alles selbst, allein, zu zweit, und was du nicht kannst, kannst du lernen! Du kannst spielen, kannst lieben, kannst dich austauschen. Es ist nichts dabei! Die dort, die grauen Herren, also die Massenmedien –das, was heute, »System« ist – die wollen dir das nur einreden. Sie reden in einem fort auf dich ein, mit und ohne Musik, die früher einmal ein Freiheitsborn war. (Madonna, was für Wörter es gibt!) Bedenke, du musst niemanden aus dem Feld schlagen. Freundschaft kann so abenteuerlich sein wie der Überlebenskampf im Dschungel im Fernsehen (vergiss den Dschungel, vergiss das Fernsehen). Bedenke, du bist nicht einsam, du bist nicht gefangen, du kannst jederzeit zwischen den Gitterstäben durch. »Flimmertier Lid rudert nach oben, gibt einen Blick frei...« Das hat Paul Celan geschrieben, in einem Gedicht namens Sprachgitter... Gar nicht so enigmatisch, wie die akademischen Ausleger tun. Nimm es dir einfach zu Herzen: Gib den Blick frei und nimm den Blick deines Gegenübers auf, so kommst du auch zwischen dickeren Stäben durch.
Gerade habe ich Emmanuel Lévinas »gegoogelt«, wie man sagt (eines der neuen »Tätigkeitswörter«). Erster Eintrag Wikipedia, was sonst. Der Umfang etwa so groß wie bei einem zweitklassigen Fußballer. Haarsträubend, echt: Mir sträuben sich die Haare. Über Fernando Cavenaghi, einen Fußballspieler der zweiten argentinischen Liga, erfährt man mehr als über Lévinas, der sich denkend und schreibend mit seinem Jahrhundert auseinandergesetzt hat (wurde neunzig Jahre alt und war bis zuletzt geistig rege). Aber egal, an derlei sind wir gewöhnt, ich entnehme dem Eintrag immerhin die Information, dass er Begegnung als grundlegende Möglichkeit zum Angelpunkt des ethischen Denkens gemacht hat (etwas, das der Sozialdarwinismus nicht vorsieht) und den Nächsten, das Gegenüber, zum Alter Ego erklärt, dem man schon aus Gründen der Eigenliebe keinen Schaden zufügen sollte. Alte, jüdisch-christliche, aber anpassungsfähige, erneuerbare, keineswegs religiös gebundene Werte. Die natürlich die konkreten Probleme, etwa im Gefolge der sogenannten Globalisierung, nicht lösen werden, aber vielleicht lösen helfen. Werte dienen der Orientierung, sie werden kaum je im vollen Sinn »verwirklicht« – Nietzsche hat diese Tatsache, dieses Verhältnis viel zu wenig berücksichtigt, er hat immer so getan und oft wahrscheinlich geglaubt, dass das, was christliche und sozialistische Prediger verkünden, gesellschaftliche Realität sei. Nein, eben weil es nicht Realität ist, brauchen wir die Werte, die die Erbärmlichkeit unserer Realität – dieser sekundären Pseudo-Realität heute – mildern helfen. Franz Schuh hat es unlängst so formuliert: »Moralische Ansprüche an andere Menschen und an einen selbst können stimmen, selbst wenn auf der Welt niemals ein Mensch existierte, der sie je erfüllte.«
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Schuh hat noch etwas anderes formuliert, d. h. zugespitzt, seiner Kunst und Vorliebe entsprechend. Er hat vorgeschlagen, den Werterelativismus, ohne den eine demokratische, pluralistische, der in ihrem Schoss wirkenden Gleichschaltungstendenz widerstehende Gesellschaft nicht existieren kann, mit einer Werthaltung zu verbinden. Mit »Werthaltung« meint er, wenn ich ihn richtig verstehe, das Festhalten auf einer überschaubaren Zahl von Grundwerten, die zwar diskutierbar, aber dennoch verbindlich sein sollen. Dieses Projekt bezeichnet er als »Quadratur des Kreises«, mit Recht: Jedes geistige Unternehmen, das seinen Namen verdient, ist eine solche Quadratur. Wenn wir, mit welchen Begriffen auch immer, unser Dasein bedenken, ohne bei einer Transzendenz Zuflucht zu nehmen, führt es uns in seiner Immanenz zu Aporien, die wir nicht »überwinden«, mit denen wir aber auf diese oder jene Weise zurechtkommen können (und müssen).
Mit der Kierkegaard-Krücke aufgezäumt: Vielleicht ist es im je einzelnen Dasein möglich, das Ästhetische und das Ethische zu verbinden. Vielleicht kann es sogar genügen (schließlich wollen wir keine übermenschlichen Anstrengungen verlangen, nur etwas recht Normales), bald den Augenblick zu genießen, also sich in erotischen und/oder ästhetischen Situationen zu behaupten, und ethische Prinzipien zu verwirklichen, die Rücksicht und Voraussicht verlangen. Vielleicht wird man nicht schizophren, wenn man bald das eine, bald das andere tut – oder schizophren in einem anderen, positiv gewerteten Sinn, ein bisschen wie bei Deleuze und Guattari. Je nach den konkreten Maßgaben wird man das ästhetische oder das ethische Kriterium vorziehen und geltend machen. Ein solches Verhalten nennt man »pragmatisch«, und ein schizophrenes Verhalten könnte man, mit einem älteren, antikischen Wort, als paradox bezeichnen. So dass sich sogar eine Formel ergäbe, für Werbekampagnen geeignet: PARADOXE PRAGMATIK.
Der paradoxe Pragmatiker stellt sich nicht vor die tragisch angehauchte Entscheidung des Entweder-Oder. Er lebt in einem Sowohl-Als-auch, einem, unter zeitlichem Gesichtspunkt, »Bald dies, bald jenes«, und er muss sich jedesmal neu entscheiden, Tag für Tag, wissend, dass es keine Tragödie ist, sondern meistens wieder gutzumachen, wenn er sich einmal täuscht.
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Ach ja, Wikipedia... In den USA kann man die Seite der Seiten heute gar nicht besuchen, es herrscht dort ein eintägiges Informations-Blackout. Im Ernst: Unter heutigen Bedingungen weiß ohne Wikipedia niemand mehr irgend etwas, die Leute speichern ja selber nichts; ihre Gedächtnisleistungsfähigkeit ist tief gesunken, statt nachzudenken klicken sie an ihren Maschinchen herum. Der US-amerikanische Gesetzgeber, durch den sich die Wikipedia-Betreiber bedroht sehen, ist durch den Schutz des »Eigentums« motiviert, d. h. durch bestimmte Eigentümer, deren ökonomisch-politische Macht riesig und weltumspannend ist.
Ich selbst, nun ja, ich habe nichts zu sagen, aber sei’s drum: Ich bin kein Freiheitsapostel. Ich produziere, falls überhaupt etwas, geistige Dinge (die auf materielle Träger angewiesen sind), hatte aber noch nie das Gefühl, sie gehörten mir, noch nie das Bedürfnis, sie zu schützen. Im Gegenteil, ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen meine Hervorbringungen aneignen. Jene, die am lautesten nach dem Schutz von geistigem Eigentum rufen, sind die Herren der »Unterhaltungsbranche« im engen und harten Sinn, nicht unbedingt (oder nicht ganz) in dem von meiner Verkäuferin gemeinten, es sind die Kulturkonzerne, die eine der großen kulturellen Hoffnungen zerstört haben, nämlich die Pop-Musik und nicht nur die Musik, sondern die gesamte Pop-Kultur. Statt dessen, im Namen des »Pop«, der jetzt auch seine Anführungszeichen verdient, beackern sie die Welt mit ihren Verdämlichungsstrategien. Sie haben die Neuerungen der sechziger und siebziger Jahre ihrer Wirtschaftsordnung eingegliedert und dem lebendigen Ausdruck der Schöpfer den Boden entzogen.
Der Austausch soll frei sein! Es soll ein Austausch sein, der diesen Namen verdient! Das sagt einer der leisen Rufer, ein Versprengter der Unterhaltungsbranche, der sich nicht mit dem Klicken auf OK-Felder begnügen will.
© Leopold Federmair
Dieser Text ist erstmalig in der Grazer Literaturzeitschrift »Lichtungen« erschienen; Heft 129 des Jahrgangs 2012.
Bemerkung: Inzwischen ist der Eintrag in der deutschen Wikipedia über Lévinas ausführlicher als der über den argentinischen Fussballspieler. Was vielleicht auch ein Zeichen sein könnte. – G. K. -
Das immerhin könnte man dem Wikipedia-Eintrag entnehmen, dass Levinas sich eben so schreibt und nicht Lévinas ... À propos Schreibweise: Ich frage mich, was die Rechtschreibreform mit der Sprachqualität der Facebook-Kommentare zutun haben kann. Wie kann eine Veränderung der Schreibweisen einiger Wörter den Sprachgebrauch beinflussen?
Es kann sein, dass ich das »é« gegen das »e« ersetzt habe, weil ich ein Buch von ihm mit dieser Schreibung besitze. Im angelsächsischen Raum wird er sehr häufig »Lévinas« geschrieben. Salomon Malkas Biographie folgt auch dieser Schreibweise, was daran liegen kann, dass er Franzose ist (im Perlentaucher-Vorabdruck hat man das dann getilgt).
Ihre Frage ob die unterschiedliche Schreibweise den Sprachgebrauch beeinflussen kann, ist interessant. (Bei Lévinas oder Bohème gegen Levinas und Boheme kann ich das mindestens was die Aussprache angeht, bejahen.)
Will man dieses sprachliche Detail wirklich erörtern, sollte man zunächst bedenken, daß Levinas in Litauen geboren ist. Dort wurde sein Name wohl ohne Akzent geschrieben. »Lévinas« ist eine Anpassung an die in Frankreich übliche Aussprache des Namens, aber tatsächlich findet man bis heute beide Schreibweisen. Im französischen Wikipediaeintrag steht Levinas ohne Akzent, im englischen mit.
(Meine französischen Freunde schreiben mich manchmal spontan »Léopold«. Mir gefällt das. Im deutschsprachigen Bereich bin ich natürlich »Leopold«.)
Was die Rechtschreibreform anbelangt: Ich habe nie die Notwendigkeit verstanden, die Konjunktion »daß« nach Jahrhunderten problemlosen orthographischen Gebrauchs auf »dass« zu ändern. Nach meiner Beobachtung ist ein großer Teil der deutschsprachigen Bevölkerung seither unsicher, wenn sie zwischen »das« und »dass« unterscheiden soll. Die Konjunktion von Dass-Sätze wird sehr oft falsch geschrieben, wie man z.B. in Internet-Foren sehen kann. Mir scheint, daß die Reform in einigen Punkten langfristig Verwirrung gestiftet und nicht zur Stärkung des allgemeinen Sprech- und Schreibvermögens beigetragen hat, was nach meiner Auffassung Ziel einer solchen Reform sein sollte (falls man sie überhaupt für nötig erachtet).
Vielleicht nur eine persönliche Sache: Ich werde mich nie an Schreibungen wie »im Übrigen«, »im Folgenden« usw. gewöhnen. Jedesmal, wenn ich hier den Großbuchstaben lese, zucke ich zusammen.
Hm, ich empfinde das »im Übrigen«, u.ä., als folgerichtig, womit ich weniger zu recht komme, ist, dass viele Worte nicht mehr zusammengesetzt bleiben, sondern, meinem Empfinden nach, aus einander gerissen werden.
Die Getrenntschreibung stört mich auch manchmal. In diesen Bereichen sollte es mehr Freiheit geben, denke ich, oder man nimmt sich die Freiheit eben. »Im Übrigen« ist logisch, ja, weil vor dem Wort ja ein Artikel steht. Aber dem semantischen Empfinden entspricht es (bei mir) nicht. Ähnlich wie wenn in einem Text für ein Kind immer wieder das Pronomen »es« verwendet wird.
Zum Hinweis Keuschnigs auf Wikipedia: Ich gehöre zu denen, die die großen Möglichkeiten von Wikipedia zu schätzen wissen. Zum Beispiel das dauernde Korrigieren und Aktualisieren von Beiträgen.
Eines der wesentlichen Probleme scheint mir mit dem Wucherungscharakter des Internets zusammenzuhängen; die Redakteure von Wikipedia versuchen ja durchaus, dem entgegenzuwirken. Die dem sozusagen objektiven Wuchern entsprechende subjektive Verhaltensweise ist das Surfen. Ich fürchte, daß bei jüngeren und noch kommenden Generationen dadurch die Art und Weise fundamental geprägt wird, wie Information und Wissen aufgenommen bzw. angestreift werden, und auch, wie Zusammenhänge hergestellt werden, nämlich im zufallsgesteuerten Selbstlauf. Die Allgegenwart solcher Enzyklopädien – und letztlich dieser einen, denn auf andere greift kaum noch ein »User« zurück – führt dazu, daß man sich Wissen nicht mehr »aneignen« muß, weil man sie ja immer aufs neue »anklicken« kann. Man muß sich sozusagen gar nichts mehr merken und ist trotzdem nicht dumm. Man muß nur die Klick- und Surftechnik beherrschen.
Als ich Ende der 1970er Jahre meine Ausbildung machte, sagte ein von mir damals geschätzter Chef zu mir, man müsse sich nicht alles merken, es genüge, wenn man wüsste, wo man es nachlesen könnte.
Inzwischen ist dies tatsächlich Realität geworden. Ich benutze die Wikipedia ja auch und verlinke sie manchmal hier. Aber der Schein der allumfassenden und vor allem korrekten Information ist doch sehr trügerisch. Wenn man sich auf dem ein oder anderen Gebiet etwas besser auskennt, merkt man durchaus Fehler und Ergänzungsnotwendigkeiten. Ich habe das früher dann korrigiert, aber schnell wieder seingelassen, weil es teilweise wieder zurückgenommen wurde und von mir Belege verlangt wurden.
Die Gefahr besteht, dass solche Fehler zur Wahrheit erklärt werden – und umgekehrt, abweichende Aussagen im Vergleich zur Wikipedia alleine deswegen als falsch gelten. Suchmaschinen verstärken solche Effekte noch, weil sie nur quantitativ vorgehen können. Wenn ‑zigmal Sachverhalt A1 genannt ist und einmal Sachverhalt A2 wird auf den ersten Seiten der Suchergebnisse immer A1 genannt werden und als Faktum gelten.
Zur Rechtschreibreform: Ich kann mich noch daran erinnern, dass man in den 80ern sogar die Gross- und Kleinschreibung abschaffen wollte. Ich behaupte, wenn wir damals bereits »globalisiert« gewesen wären, hätte man das womöglich mit dem Argument der »Wettbewerbsfähigkeit« der deutschen Sprache durchgeboxt. Womöglich wären dann auch Umlaute und das »ß« vollkommen verschwunden.
Ich gestehe, in etlichen Punkten bei der »richtigen« Rechtschreibung nicht mehr durchzublicken. Zusammen-/Getrenntschreibung; »im übrigen« oder »im Übrigen« – ich muss das immer nachschlagen und wenn die Aussagen nicht eindeutig sind, entscheide ich nach Gefühl. Das gilt insbesondere für die Setzung von Kommata. Das Doppel‑s statt »ß« macht mir nichts aus; eher im Gegenteil. Ich stelle fest, dass ich handschriftlich automatisch »daß« schreibe; in Texten aber fast immer »dass« (so habe ich auch diesen Essay von Leopold Federmair entsprechend verändert, was ich nachträglich bedauere).
Beim Lesen von Texten bemerke ich die Differenzen kaum (außer im »daß«/»dass«). Probleme habe ich mit längeren, durchgängig in Kleinbuchstaben geschriebenen Texten (wie bei der frühen Jelinek bspw). Eine größere Gefahr als die Schreibweise von Wörtern stellt für mich die fortschreitende Verhunzung der Sprache durch Anglizismen dar. Nicht, dass ich für eine »reine« Sprache eintreten würde, aber wenn rd. 80% der Geschäfte in den Einkaufszentren mit »SALE« werben, so frage ich mich, wie bescheuert man dafür sein muss. (Meine Schwiegermutter, 86, kann damit rein gar nichts anfangen und frug mich einmal, was die da eigentlich verkaufen.)
Was sich mit den beschriebenen Prozessen verändert hat, ist, dass Wissen kaum noch systematisiert angeeignet bzw. angelegt wird; ich sehe das an mir selbst, wenn ich mit älteren Semestern spreche, ich meine dort auf eine Ordnung zu treffen, die ich gar nicht mehr kenne (wobei hinzu kommt, dass ich grundsätzlich zum Chaotischen tendiere). Natürlich hat das auch mit der Vielfalt zu tun auf die man zugreifen kann.
Die Errungenschaften der Wikipedia sind unbestritten, für sie gilt was für jede Enzyklopädie gilt: Sie muss sich beschränken, um das sein zu können was sie sein soll. An die Grenzen jeder Enzyklopädie stößt man m.E. recht schnell, wenn man sich mit einem Thema eingehender beschäftigt, aber das liegt, wie gesagt, in der Natur der Sache. Problematischer ist da eher ihre vorherrschende Stellung, toll wäre, wenn es mehrere konkurrierende und frei zugängliche Enzyklopädien gäbe.
Zur Rechtschreibung: Mir geht es ähnlich wie Gregor, gewisse Dinge weiß ich einfach nicht. Das scheinen aber keine Einzelfälle zu sein, und vielleicht ist in diesem Kontext Freiheit (die ich sonst sehr schätze) gar keine so gute Idee gewesen, weil sie Unsicherheit bzw. Unklarheit mit sich bringt.
Vielleicht habe ich den Artikel falsch gelesen und nicht mitbekommen, dass es um Rechtschreibung geht. Ich persönlich muss schon überlegen, ob Kommunikation zwei mm aufweist oder ob: Hol’s der Kuckuck einen Apostroph braucht. Wenn es aber um Kontakte zum Nächsten geht, genügte mir schon oft ein fehlerhaftes Sprechen in einer Fremdsprache, um spannende Augenblicke heraufzubeschwören im direkten Austausch mit einem Gegenüber aus Fleisch und Blut. So habe ich den Artikel eigentlich verstanden, dass wir echte Begegnungen aus dem Augenblick heraus suchen, anstatt in der virtuellen Welt umherzugeistern. Somit suche ich das Lächeln der Verkäuferin und betrachte ihren fremdländischen Akzent als Bereicherung. Ich liebe die Vielfalt der Sprache, ich liebe sie auch als Spielfeld, wobei ich die Grenzen gern nach Belieben ausweite und gern auch ein wenig Verwirrung stifte, denn Regeln sind da um eingehalten zu werden oder eben auch nicht.
Rechtschreibungsfragen sind in dem Artikel nur ein Nebenaspekt. Ich persönlich messe ihnen auch keinen allzu großen Stellwert bei. Wie man heutzutage mit Wissen umgeht, ist die Ausgangsfrage, aber auch, wie die entsprechenden Veränderungen auf menschliche Beziehungen wirken. In meinen Essays komme ich von Erklärungesversuchen zum Erzählen und umgekehrt. Manchmal sage ich mir, ich sollte weniger erklären.
Keuschnig spricht die Rankings der Suchmaschinen an: eine Dynamik, die der Tendenz zur endlosen Pluralisierung scharf entgegenwirkt und die scheinbare Vielfalt auf ein Einheitsdenken zurückbiegt. Mehrere konkurrierende Enzyklopädien im Internet zu haben, wäre prinzipiell nicht schlecht. Andererseits enthält Wikipedia in sich diese Möglichkeiten, man könnte zu einzelnen Stichworten mehrere Artikel akzeptieren. Dazu müßte die redaktionelle Arbeit allerdings wesentlich mehr entwickelt werden. Prinzipiell kann ja jeder, können alle Sichtweisen und Denkrichtungen an dem Projekt mitwirken. Ich habe selbst nie an einem Wikipedia-Artikel geschrieben, aber nach dem, was Keuschnig von seinen Erfahrungen erzählt, ist eine kontrollierte Diversifizierung dieser Art nicht zu erwarten.
Ein Anregender Text.
Beeinspruchen möchte ich die Gleichsetzung des Ästhetikers (der vielleicht zu definieren wäre) mit Don Giovanni: Ich gehe mit, dass letzterer, hinsichtlich der Maximierung von Vergnügen oder Sinnlichkeit, die er als bloße Quantität begreift, der »Mann« unserer Tage ist; aber: Tut der Ästhetiker nicht etwas gänzlich anderes? Für ihn ist das sinnliche Erlebnis doch a) nicht gleichmäßig über die Welt verteilt, also, sozusagen, an das Objekt mit seiner Besonderheit und das Subjekt mit seinen Fähigkeiten gebunden, und darüber hinaus: Ist er nicht derjenige, der sein Erlebnis entgegen der Abstumpfung seiner Sinne, des zu viel, zu erhalten trachtet (und auch weiß)? Und ist, in diesem Letzten, weil es keine reine Sinnlichkeit mehr ist, weil Verstand und Vernunft bereits herein spielen, nicht schon die Grundlage einer Ethik enthalten, Ihre paradoxe Pragmatik?
Ist der Konsument tatsächlich König oder nicht vielmehr das Gegenteil (mir schlägt an der betreffenden Stelle eigentlich keine Ironie entgegen)? Und ist das Spiel, dass er spielt, überhaupt eines? Nicht schon längs (auch) Zwang? Die immer weiter aufgehobene Trennung von öffentlichen und privaten Angelegenheiten, das Sich-verkaufen-müssen um jeden Preis, ist das nicht ein Indiz dafür (Ich erinnere mich gerade an den Hinweis eines Bekannten, eine Detail am Rande: Dass man seine Hobbys in einer Bewerbung auflistet, ist völlig normal geworden.)? — Später schreiben Sie auch von »Massenzwangsneurose«.
Dass das Internet eine Gleichschaltung der Informierten bewirkt, bezweifle ich (oder anders: Wenn dann geschieht das in den übrigen Medien genauso, oder noch in viel stärkerem Maß, warum soll das Netz hier eine herausragende Position einnehmen, nirgendwo anders kann man sich durch eigenes Bemühen so leicht und schnell anderen Sichtweisen zuwenden, vorausgesetzt man will das?).
Dass Wikipedia die einzige Wissensquelle wäre, ist einfach nicht richtig, das kann ich nach fast zehnjähriger Diskussionserfahrung im Netz zumindest für mein Umfeld sagen; wo Wikipedia immer eine Rolle spielt, ist, wenn man an einem Abend in heiterer Runde zusammen sitzt und rasch eine Streitfrage lösen will (aber meist interessiert das nach fünf Minuten niemand mehr). — Einen Link verstehe ich als Verweis auf eine Quelle, die genauso kritisch zu betrachten ist, wie jede andere, die herkömmlichen inkludiert. Und ich finde, bevor man, zugegeben nicht ganz falsch, kritisiert, dass niemand mehr etwas weiß, sollte man auch thematisieren, wie die Pole dessen, was man wissen sollte und überhaupt noch kann, einander gegenüber stehen, wie kompliziert und unübersichtlich die Welt geworden ist (denken wir nur einmal an die unglaubliche Anhäufung des nach naturwissenschaftlicher Methode geschaffenen Wissens).
Sehr schön und auch ergreifend das Plädoyer an »die junge Verkäuferin«, auch wenn ich mir manchmal, warnend denke, dass man von außen Vorstellungen und Bilder an andere heran trägt. Interessant auch der Hinweis auf die Zerstörung der Hoffnungen der Pop-Kultur. Was hatten Sie da im Sinn?
Ah, wenn ich jetzt nicht auf Facebook geguckt haette, waere mir dieser Artikel bzw. diese Seite nicht unter die augen gekommen. Oh,oh, und ich gehoere zu den sprachschluderinnen;also entschuldigt. Leben wir nicht in einer Zeit wo »Wissen« mal wieder verloren geht wie schon im sogenannten »finsteren« Mittelalter ?
Doch ich mache mir Gedanken auch wenn ich sie hier nicht so schriftlich auessern kann, wie ich vielleicht gerne moechte.
An metepsilomena (aber nicht nur):
In meinem Essay weise ich darauf hin, daß ich die Gegenüberstellung »ethische vs. ästhetische Lebensweise« von Kierkegaard übernommen habe. Kierkegaard exemplifiziert sie mit der Figur des Don Giovanni (nach Mozart/Da Ponte) – und beim ethisch orientierten Familienvater denkt er womöglich an sich selbst, oder beschreibt einfach einen Idealtypus. Es ist dies ein anregendes Denkmodell, nicht mehr und nicht weniger, ein Herausarbeiten von Gegensätzen ähnlich wie Nietzsche es mit dem Dionysischen und dem Apollinischen gemacht hat. Ich weiß nicht, ob man das Modell immer auf die Wirklichkeit anwenden kann. Wirkliche Menschen sind in der Regel viel mehr gemischt und widersprüchlich in ihren Haltungen und Handlungen als solche Idealtypen. Das gesamte bürgerliche Zeitalter hat ja der Ethik den Vorzug gegeben, die Ästhetiker waren durch ihre bloße Existenz Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, oder, etwas bescheidener gesagt: Störenfriede, Außenseiter, Leute, die bewußt oder unbewußt zeigten, daß etwas anderes möglich ist. Während der Umwälzungen in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg hat sich dieses Verhältnis meiner Ansicht nach umgekehrt, das Ästhetische (im Sinne Kierkegaards), also die Augenblicksbezogenheit, der Hedonismus, auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber dem anderen (für die Don Giovanni stehen kann), lockere Familienstrukturen, Single-Dasein, das alles wurde mehr und mehr positiv bewertet und in die Ökonomie einbezogen: man kann damit sehr viel Geld machen. Natürlich gab und gibt es Gegenbewegungen, Widerstände, Unbehagen. Es gibt die Konservativen, die auf alten Werten bestehen, und es gibt in der Blütezeit der Popkultur groß gewordene Menschen wie mich, die sich im Rückblick fragen, wohin uns das gebracht hat. In den sechziger und siebziger Jahren bedeutete Pop Befreiung von verknöcherten Strukturen, die Bewegung hatte oft auch politische Implikationen, ihre Repräsentanten waren am Rand der Kulturindustrie tätig oder sogar gegen sie. Woodstock kam ohne Eventagenturen aus, die Musik von Bob Dylan oder Jimi Hendrix fußte nicht auf technisch perfekten Soundmaschinen. Heute ist der Pop weitgehend von der Industrie aufgefressen worden, Alternatives blüht allenfalls im Verborgenen (auch wenn prinzipiell durch Internet usw. große Möglichkeiten bestünden: Ich verwende den Konjunktiv). Immer wieder begegne ich jungen Leuten, die sagen: Das war damals Musik, das war Ausdrucksstärke, das hatte Leben. Und sie hören diese Musik auch, oder sehen die Filme der Nouvelle Vague, beispielsweise. Man kann sich dank der Zugänglichkeit von allem und jedem, was kommerzialisierbar ist, ja Zugang verschaffen. Solche Stimmen des Früher-war-es-besser höre ich von Leuten, die dieses Früher nicht selbst erlebt haben, in Japan, wo ich wohne, allerdings nur in sehr kleinen Kreisen; ich höre sie in Argentinien, wo die Jungen die frühe Musik des »rock nacional« (um 1970, die Jahre vor der Militärdiktatur) hören; ich lese sie im Internet, auf Youtube, in Kommentaren zum Beispiel zu Aufnahmen von Grace Slick und Jefferson Airplane. Im Großen und Ganzen scheint mir die Entwicklung über diese Bewegungen, die vor vier Jahrzehnten vielleicht die Mehrheit (!) der Jugendlichen in den westlichen Ländern erreichte, unterdrückt oder, im besseren Fall, kanalisiert worden zu sein, von einem ökonomisch-ideologischen Komplex, der sie für seine Zwecke, d.h. natürlich Profitzwecke, dienstbar zu machen verstand – Stichwort »Urheberrecht« (ich gebrauche bewußt Anführungszeichen).
Nicht alles läßt sich unterdrücken, das ist wahr. Vor kurzem bin ich zu einem »Fan« geworden – mit den Jahren wird es natürlich schwieriger, sich einer Sache zu verschreiben, und bei solchen Rückblicken, das sage ich mir selbst, sollte man immer bedenken, was aus einem selbst geworden ist und welche Verantwortung man dafür trägt. Ich bin zu einem Martha-Wainwright-Fan geworden und habe die größte Freude, wenn ich verfolgen kann, wie sich die Musikfamilie Wainwright entwickelt hat. Eine oft streitende, seltsame, längst getrennte und zeitweise wiedervereinigte Familie, wie es unseren postmodernen, ästhetischen, hedonistischen, egoistischen, neoliberalen Zeiten entspricht. 1973 habe ich als Jugendlicher in einem Supermarkt in den USA eine LP von Loudon Wainwright III gekauft, dem Vater von Martha und Rufus. Und jetzt könnte ich hier diese Geschichte erzählen als Beispiel für einen aufrechten Alternativ-Pop-Parcours über die Generationen hinweg – aber ich denke, das würde den Diskussionsrahmen hier sprengen.
Gelegentlich ertappe ich mich selber als »Stimme des Früher-war-es-besser«, aber das hat vielleicht mit dem Alter zu tun und der zunehmenden Verweigerung einer zum Teil künstlich verkomplizierten Welt. Dann höre ich mir manchmal bewusst Musik aus den 70ern an oder schaue (wie vergangenes Jahr) für eine halbe Stunde das »Jahrhundertspiel«. Und dabei entdecke ich, wieviel Verklärung zumeist in diesen Urteilen liegt. Ich durfte damals das Spiel im Fernsehen anschauen und ärgerte mich unsäglich über den ungerechten Schiedsrichter. Nicht, weil ich ein expliziter Deutschland-Fan war, sondern weil es nach Betrug roch. Es ist der Augenblick, die Situation, an dem man heute noch mit Melancholie oder von mir aus Wehmut zurückdenkt, der einem das Frühere als »besser« erscheinen lässt. Dieser »geglückte Augenblick« (Anlehnung an Handkes geglückten Tag, den es ja gar nicht gibt, wie er auch selber schreibt), der durchaus auch eine Krise oder ein trauriger Anlass sein kann, hält sich als Pflock in der Biographie. Das wird natürlich seltener im Laufe der Zeit und gerade daher wird es dann so wirkungsmächtig.
(Das Spiel selber war, wenn man heutige Spiele damit vergleicht, langsam, fast pomadig. Heute wird Fußball schneller und dadurch attraktiver gespielt, aber darauf kommt es eben in diesem Moment nicht an.)
Ich habe neulich eine Lesung einer Schriftstellerin im Radio gehört. Sie ist auch eine gute Freundin und ich weiss von ihrer schweren Krankheit, die sie kurz nach der Lesung (es war eine Aufzeichnung) anging, zu bekämpfen (derzeit sieht es ganz gut aus). Als die Lesung hörte erinnerte mich an meine Lektüre ihres Buches. Ich las es als ich auf Urlaub an der Nordsee war (mit meiner Frau und meiner Schwiegermutter) und obwohl erst anderthalb Jahre vergangen waren, kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Wir hatten gutes Wetter, hatten anregende Gespräche mit den Freunden und vor allem erinnerte ich mich der Nachmittage, als ich das Buch gelesen hatte und den Blick auf die herbstliche Nordsee. Ich werde dieses Buch nie ohne diese Erinnerung lesen können. Und während ich ihr zuhörte erinnerte ich mich an ein Buch von Handke (»Don Juan, erzählt von ihm selbst«), dass ich nach der Lektüre nie mehr auch nur in die Hand genommen hatte, weil ich es damals, während heißer, unerträglicher Juli-Tage las, an denen ich große Rückenschmerzen hatte und weder längere Zeit sitzen noch liegen konnte.
Warum heute 30jährige mit dieser Wehmut auf Dylan oder von mir aus die Beatles schauen, weiss ich allerdings auch nicht. Ich hätte einige westentaschenpsychologische Erklärungen im Angebot, aber das hülfe nicht weiter.
Ihre Geschichte zu Martha Wainwright würde mich schon sehr reizen. Dieser Blog steht Ihnen zur Verfügung – wir könnten, können einen eigenen Beitrag daraus machen.
Ein anregendes Denkmodell, in der Tat. Aber besteht der Wert eines solchen nicht gerade (auch) in der Kontrastierung mit dem was wir Realität, Gesellschaft oder Menschen nennen? Vor allem in dem vorliegenden Kontext? Und ergeben sich daraus nicht eine Fülle neuer Aspekte? Ich muss daran denken, dass z.B. die Erfahrung von Schönheit, sei es in der Natur, in der Kultur oder Kunst, doch eigentlich immer auch eine Wertsetzung beinhaltet: Der Schutzgedanke, der bewusste Erhalt von Natur, ist der ohne unser ästhetisches Erleben derselben überhaupt denkbar?
Ich bin einer der seltsamen Menschen, die mit Pop relativ wenig anfangen können, ich höre gelegentlich dieses oder jenes, und man kann, glaube ich, in den meisten Fällen erkennen ob etwas gut oder gekonnt gemacht ist oder nicht. Vor wenigen Jahren hat sich mir eine Tür (eher: ein Türchen) zur barocken und alten Musik hin geöffnet, das sehr lange fest verschlossen war, ich lebe da, zu Teilen, quasi in einer anderen Zeit.
In beide, Vergangenheit und Zukunft, mischen sich unsere Hoffnungen, Projektionen und Wünsche: Auf die erstere blickt man zurück, die andere ahnt man bestenfalls: Vielleicht hakt man sich in dem was »konkreter« vorliegt, wessen man habhafter ist, leichter und besser fest. — Jedenfalls tut man es nicht, oder weniger, wenn die Gegenwart intensiv hervor tritt.