Pe­ter R. Neu­mann: Die Rück­kehr
des Ter­rors

Peter R. Neumann: Die Rückkehr des Terrors

Pe­ter R. Neu­mann: Die Rück­kehr des Ter­rors

In Zei­ten der in­fla­tio­nä­ren Ver­wen­dung des »Experten«-Begriffs wird es zu­neh­mend schwie­rig, wirk­li­che Spe­zia­li­sten zu fin­den, die zu mehr in der La­ge sind, als nur Schlag­wor­te und Phra­sen an­ein­an­der­zu­rei­hen. Ei­ner der we­ni­gen deutsch­spra­chi­gen Ex­per­ten für in­ter­na­tio­na­len Ter­ro­ris­mus ist Pe­ter R. Neu­mann. Er ist Pro­fes­sor für Si­cher­heits­stu­di­en am King’s Col­lege Lon­don und lei­te­te dort das In­ter­na­tio­nal Cent­re for the Stu­dy of Ra­di­cal­i­sa­ti­on (ICSR). Da­her war­te­te man ge­spannt auf sein neu­es Buch mit dem be­un­ru­hi­gen­den Ti­tel Die Rück­kehr des Ter­rors. Ge­meint ist, wie der Un­ter­ti­tel na­he­legt, der dschi­ha­di­sti­sche Ter­ror. Eu­ro­pa ste­he, so die The­se, »am An­fang ei­ner neu­en ter­ro­ri­sti­schen Wel­le […], die den Kon­ti­nent noch jah­re­lang be­schäf­ti­gen wird.«

Nun ist Neu­mann nie­mand, der fahr­läs­sig Pa­nik schürt. Im Ge­gen­teil. Sein Buch ist ei­ne nüch­ter­ne, wenn auch ein­dring­li­che Mah­nung, un­ter­legt mit wis­sen­schaft­li­chen und geo­stra­te­gi­schen For­schungs- und kri­mi­na­li­sti­schen Er­mitt­lungs­er­geb­nis­sen (er konn­te so­gar ei­ni­ge Prot­ago­ni­sten von Si­cher­heits­be­hör­den be­fra­gen), um das Phä­no­men und die neue Be­dro­hungs­la­ge zu er­fas­sen. Der Quel­len­ap­pa­rat be­steht aus fast 300 An­mer­kun­gen, mehr als drei Vier­tel da­von aus dem eng­lisch­spra­chi­gen Raum. Wer sich vor­wie­gend aus deutsch­spra­chi­gen Leit­me­di­en in­for­miert, er­hält hier ei­ne ve­ri­ta­ble und, wie sich zeigt, drin­gend not­wen­di­ge Er­wei­te­rung des Ho­ri­zonts, wenn nicht gar ei­ne ganz an­de­re Sil­hou­et­te des Ho­ri­zonts.

Zu­nächst stellt Neu­mann die Zehn-Jah­re-Wel­len­theo­rie des un­längst ver­stor­be­nen ame­ri­ka­ni­schen Ex­tre­mis­mus­for­schers Da­vid C Ra­po­port vor und un­ter­sucht die »Ter­ror­wel­len« der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te, die in die west­li­che Welt (USA und Eu­ro­pa) schwapp­ten. Im Ge­gen­satz zu Ra­po­port macht Neu­mann meh­re­re, kur­ze »Mi­ni­wel­len« aus, die zeit­lich teil­wei­se in­ein­an­der­grei­fen. Un­ter dem Ober­be­griff Is­la­mis­mus (»Is­la­mi­sten be­grei­fen den Is­lam nicht nur als Re­li­gi­on, son­dern vor al­lem als po­li­ti­sche Ideo­lo­gie, nach der al­le Aspek­te des ge­sell­schaft­li­chen Le­bens ge­stal­tet wer­den sol­len«) wer­den Un­ter­grup­pen de­fi­niert. Die re­le­van­te­ste und be­droh­lich­ste wird un­ter dem Be­griff Dschi­ha­dis­mus zu­sam­men­ge­fasst. Dschi­ha­di­sten sind »der Über­zeu­gung, dass zur Er­rich­tung is­la­mi­sti­scher Herr­schaft der Ein­satz ge­walt­sa­mer Mit­tel nicht nur not­wen­dig, son­dern ver­pflich­tend ist«.

Die­se Wel­len be­gin­nen zu­meist »mit ei­nem ein­schnei­den­den Er­eig­nis und führt nach Pha­sen der Re­pres­si­on und Ra­di­ka­li­sie­rung et­wa zehn bis zwölf Jah­re spä­ter schließ­lich zu ei­ner Ge­gen­re­ak­ti­on und zur Er­schöp­fung der Be­we­gung«. So war der Sturz des Schah und die Aus­ru­fung der »Is­la­mi­schen Re­pu­blik Iran« 1979 ei­nes der wich­tig­sten Er­eig­nis­se, wel­ches gro­ße Strahl­kraft in der ge­sam­ten mus­li­mi­schen Welt ent­fal­te­te. Jüng­ste Bei­spie­le sind der 11. Sep­tem­ber nebst Irak­krieg-In­ter­ven­ti­on 2003 und die »Sy­ri­en-Wel­le«, aus­ge­löst durch den Bür­ger­krieg 2010, die zur »IS-Wel­le« der 2010er Jah­re wur­de. Ein sol­ches Er­eig­nis ist ak­tu­ell der 7. Ok­to­ber 2023, der Tag des Ter­rors der Ha­mas, der »er­ste Über­griff auf is­rae­li­sches Ter­ri­to­ri­um seit der Grün­dung des Staa­tes Is­ra­el« bei dem mit knapp 1250 Men­schen »die größ­te An­zahl von Ju­den, die seit dem Ho­lo­caust an ei­nem Tag ge­tö­tet wur­den«.

Neu­mann un­ter­sucht die Wur­zeln des is­la­mi­stisch mo­ti­vier­ten Ter­rors, skiz­ziert da­bei die Ge­schich­te der Mus­lim­brü­der­schaft, de­kon­stru­iert den My­thos der Mud­scha­hed­din in Af­gha­ni­stan und cha­rak­te­ri­siert di­ver­se Grup­pie­run­gen wie Ha­mas, His­bol­lah, al-Qai­da und Is­la­mi­scher Staat. Die furcht­ba­ren An­schlä­ge und gro­ßen au­ßen­po­li­ti­schen Feh­ler der letz­ten 25 Jah­re wer­den noch ein­mal sicht­bar. Da­bei gibt es in­ner­halb der di­ver­sen Grup­pen durch­aus Un­ter­schie­de (vor al­lem sind es re­li­giö­sen Dif­fe­ren­zen – sun­ni­tisch vs. schii­tisch), die bis zur la­ten­ten Feind­schaft ge­hen. Ei­nig­keit herrscht je­doch im Feind­bild Is­ra­el und der west­li­chen Ge­sell­schaft. Or­ga­ni­sa­tio­nen wie dem IS gal­ten »al­le Aspek­te des Le­bens in west­li­chen Ge­sell­schaf­ten als falsch und feind­lich und durf­ten oh­ne Ein­schrän­kun­gen an­ge­grif­fen wer­den.« Dies dürf­te, wie sich spä­ter zeigt, noch im­mer Gül­tig­keit be­sit­zen.

Im Blick auf die Hi­sto­rie wer­den die Neue­run­gen der ak­tu­el­len Be­dro­hun­gen deut­lich. Die zu er­war­ten­de, neue Ter­ror­wel­le speist sich aus drei Quel­len. Da sind zum ei­nen die in Af­gha­ni­stan agie­ren­den »am­bi­tio­nier­ten und zum Teil hoch­pro­fes­sio­nel­len Ter­ro­ri­sten des Is­la­mi­schen Staats Pro­vinz Kho­ra­san (ISPK)«. Neu­mann er­läu­tert die Ge­schich­te die­ser Or­ga­ni­sa­ti­on, die im Wett­be­werb mit den Ta­li­ban steht, sich al­ler­dings sehr viel am­bi­tio­nier­ter um den zen­tral­asia­ti­schen Raum der ehe­ma­li­gen So­wjet­uni­on (Ta­dschi­ki­stan, Us­be­ki­stan, Kir­gi­stan) be­müht, bis hin­ein in die chi­ne­si­schen Xin­jiang-Pro­vinz. Der ISPK, so Neu­mann »hat durch sei­ne geo­gra­fi­sche Po­si­ti­on ei­nen an­de­ren Blick auf die Welt«. Die Or­ga­ni­sa­ti­on ist pro­pa­gan­di­stisch sehr gut auf­ge­stellt und hat zahl­rei­che An­schlä­ge aus­ge­führt. Die Neu­re­kru­tie­rung ins­be­son­de­re in Ta­dschi­ki­stan ist enorm. Neu­mann sieht im ISPK »die Keim­zel­le für den künf­ti­gen glo­ba­len Dschi­had.«

Die zwei­te Res­sour­ce sind die sich im In­ter­net ra­di­ka­li­sie­ren­den, häu­fig noch min­der­jäh­ri­gen Ju­gend­li­chen, die er »Tik­Tok-Dschi­ha­di­sten« nennt. Sie wer­den pro­pa­gan­di­stisch von ge­schickt agie­ren­den »Pre­di­gern« auf­ge­wie­gelt und schließ­lich an ent­spre­chen­de Ter­ror­zel­len ver­mit­telt. Neu­mann zi­tiert Stu­di­en, dass der Fun­ke vom blo­ßen Kon­sum zur Tat in den letz­ten Mo­na­ten ver­mehrt über­ge­sprun­gen ist.

Schließ­lich stellt der »staat­lich ge­spon­ser­ten Ter­ro­ris­mus der ira­ni­schen Re­vo­lu­ti­ons­gar­den so­wie ih­rer Part­ner in der so­ge­nann­ten ›Ach­se des Wi­der­stands‹« die wo­mög­lich größ­te Be­dro­hung dar. Die­se drei he­te­ro­ge­nen »Ge­sich­ter« des ak­tu­ell sich for­mie­ren­den Ter­ro­ris­mus gilt es, in den Blick zu ha­ben. »Sie be­dro­hen die Idee ei­nes plu­ra­li­sti­schen Eu­ro­pas, in dem Men­schen un­ter­schied­li­cher Her­kunft und Iden­ti­tät fried­lich zu­sam­men­le­ben. Be­son­ders eu­ro­päi­sche Ju­den und jü­di­sches Le­ben in Eu­ro­pa ste­hen be­reits un­ter Druck«. Auch das wird aus­führ­lich be­han­delt.

Be­reits zu Be­ginn gibt es ei­nen Sei­ten­hieb auf die Ein­ord­nun­gen der di­ver­sen At­tacken und An­schlä­ge durch Po­li­tik und Me­di­en, die häu­fig von »Ein­zel­ta­ten« spre­chen. Die schein­ba­re He­te­ro­ge­ni­tät der Ta­ten ver­lei­tet da­zu, die An­grif­fe zu ba­ga­tel­li­sie­ren. Tat­säch­lich sind es, so Neu­mann, »streng ge­nom­men Ein­zel­fäl­le, be­gan­gen von Ein­zel­tä­tern. Aber die An­zahl die­ser Ein­zel­fäl­le hat sich seit dem Ok­to­ber 2023 dra­ma­tisch er­höht.« Und sie ge­hö­ren eben ein­ge­bet­tet in die Re­cher­chen und Er­mitt­lun­gen der Si­cher­heits­be­hör­den und klar be­nannt.

Wie die Ver­gan­gen­heit zeigt, gibt es ein Zeit­fen­ster, in dem sich Eu­ro­pa auf die Be­dro­hun­gen ein­stel­len kann, be­vor es zu grö­ße­ren An­schlä­gen kom­men könn­te. Hier­für gibt Neu­mann fünf Rat­schlä­ge, was jetzt zu tun ist. Ne­ben ei­ner »aus­ge­wo­ge­nen Prio­ri­sie­rung«, die auch den Rechts­ra­di­ka­lis­mus nicht aus dem Au­ge las­sen darf (der sich un­ter an­de­rem in über­zo­gen an­ti­mus­li­mi­schen Re­fle­xen äu­ßert), »ge­ziel­ter Re­pres­si­on« (kon­se­quen­te­re Ab­schie­bun­gen und stren­ge­re Ein­rei­se­kon­trol­len), der Im­ple­men­tie­rung lang­fri­sti­ger, ef­fek­ti­ver Prä­ven­ti­ons­an­bie­ter und ei­ner aus­ge­wo­ge­nen Au­ßen­po­li­tik geht es ihm vor al­lem dar­um, Über­re­ak­tio­nen zu ver­mei­den, »dass die Re­ak­ti­on auf den dschi­ha­di­sti­schen Ter­ro­ris­mus die Spal­tung und Po­la­ri­sie­rung – die die Dschi­ha­di­sten ja letzt­lich be­zwecken – nicht auch noch be­för­dert.«

Über­haupt ist Neu­mann sehr dar­auf be­dacht, ei­nen Ge­ne­ral­ver­dacht ge­gen den Is­lam zu zer­streu­en und er at­tackiert die kur­sie­ren­den Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen nicht nur in Groß­bri­tan­ni­en und den Nie­der­lan­den son­dern auch durch die deut­sche AfD. War­um da­bei al­ler­dings Gau­lands Aus­sa­ge, die Scha­ria sei nicht mit Grund­ge­setz ver­ein­bar, her­an­ge­zo­gen wird, er­schließt sich dem Le­ser nicht – hier­bei dürf­te es sich um ei­ne Bin­sen­weis­heit han­deln, die un­ab­hän­gig vom Spre­cher gül­tig sein dürf­te. Si­cher, die »Nor­ma­li­sie­rung der Is­lam­feind­lich­keit« (Neu­mann) könn­te die Spal­tung der Ge­sell­schaft noch wei­ter be­för­dern und da­mit in­di­rekt dem Ter­ro­ris­mus in die Hän­de spie­len. Aber dass die­se Ent­wick­lun­gen ei­ne Ur­sa­che dar­in ha­ben könn­te, dass Po­li­tik und Si­cher­heits­be­hör­den jah­re­lang den Schutz des öf­fent­li­chen Raums aus Furcht vor Ap­plaus von der »fal­schen Sei­te« ver­nach­läs­sigt ha­ben, hät­te man min­de­stens er­wäh­nen kön­nen. In­ter­es­san­ter noch wä­re es ge­we­sen, die sich be­son­ders im uni­ver­si­tä­ren Mi­lieu of­fen zei­gen­de pro­pa­lä­sti­nen­si­sche So­li­da­ri­sie­rungs­ef­fek­te zu un­ter­su­chen. Soll­ten die­se tat­säch­lich al­le au­ßen­ge­steu­ert sein?

Neu­mann er­wähnt die Sym­bol­kraft des Ter­ro­ris­mus, der kei­ne un­mit­tel­ba­re po­li­ti­sche Ver­än­de­rung er­zeu­gen will und dies auch gar nicht in­ten­diert. Ter­ro­ris­mus sei »vor al­lem ei­ne Form der psy­cho­lo­gi­schen Kriegs­füh­rung mit der Bot­schaft nie­mand sei si­cher, so­lan­ge die Po­li­tik nicht ge­än­dert wür­de.« Ter­ro­ris­mus-For­scher zei­gen al­ler­dings gleich­zei­tig auf, dass Ter­ro­ris­mus ei­ne (per­fi­de) Form der Kom­mu­ni­ka­ti­on ist – viel­leicht ist die­ser Aspekt in der di­gi­ta­len Welt noch re­le­van­ter, als in der Ver­gan­gen­heit. Aber – und das ge­hört da­zu: Ter­ro­ris­mus ist un­ter Um­stän­den durch­aus lang­fri­stig er­folg­reich. Ich den­ke an die Ter­ror­se­rie der PLO (und de­ren Ab­le­ger wie bspw. die »Fa­tah«, die man heu­te »Pro­xys« nen­nen wür­de), die 1972 im At­ten­tat auf die is­rae­li­schen Sport­ler bei den Olym­pi­schen Spie­len in Mün­chen mün­de­te, bei der al­le Gei­seln ums Le­ben ka­men (teil­wei­se al­ler­dings durch den di­let­tan­ti­schen Po­li­zei­ein­satz). So ver­ab­scheu­ungs­wür­dig der An­schlag auch war – er war er­folg­reich und rich­te­te welt­weit den Fo­kus auf die »pa­lä­sti­nen­si­sche Sa­che«. Zwei Jah­re spä­ter er­hielt die PLO »als Ver­tre­ter des pa­lä­sti­nen­si­schen Vol­kes an­er­kannt« den »Be­ob­ach­ter­sta­tus bei den Ver­ein­ten Na­tio­nen«. Ähn­li­che »Er­fol­ge« kann man im lang­jäh­ri­gen Frie­dens­pro­zess um Nord­ir­land se­hen – auch hier waren/sind ehe­ma­li­ge Ter­ro­ri­sten­füh­rer zu po­li­ti­schen Man­dats­trä­gern le­ga­li­siert ge­wor­den.

Trotz al­ler Kri­tik­punk­te ist Die Rück­kehr des Ter­rors ei­ne Pflicht­lek­tü­re, wenn man in den ak­tu­el­len De­bat­ten kon­struk­tiv mit­re­den möch­te.

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