Ni­na Jäck­le: Nai

Nina Jäckle: Nai

Ni­na Jäck­le: Nai

Un­schwer zu er­ken­nen: Nai ist ein An­na­gramm aus den drei ver­schie­de­nen Buch­sta­ben des Vor­na­mens von Ni­na Jäck­le. Aber ist der Jun­ge Nai des­halb das (männ­li­che? kind­li­che?) Al­ter Ego der Au­torin?

Ei­ne Fi­gur Nai, oh­ne Bio­gra­fie, er­zäh­lend in ei­ner na­iv-in­fan­til an­mu­ten­den Spra­che, will ein sehr mei­ster­haf­tes Aben­teu­er er­le­ben. Zu die­sem Zweck trägt er so­gar im Bett wacker Schuh über Strumpf, hat die Schlei­fen ge­bun­den und bleibt – stets ein­satz­be­reit – im auf­rech­ten Stand. Aber wer ist Nai? Ein Ko­bold? Da­für spricht viel­leicht die an­ge­deu­te­te Klein­heit, der kaum vor­han­de­ne Hals. Ein Schwach­sin­ni­ger, der Stim­men hört und sich in meh­re­re Per­so­nen (Naiz­wei, Na­i­d­rei) auf­spal­tet? Und die Ge­dan­ken kom­men und die Ge­dan­ken ge­hen. Das ist so im Kopf heißt es zu Be­ginn. Oder ei­ne Mi­schung aus Le­witschar­offs Pong (der je­doch viel welt­hal­ti­ger wirk­te) und Kas­par Hau­ser? Nai trägt auch vor, the­ma­ti­siert im­mer wie­der in der Er­zäh­lung die Er­zäh­lung (ge­nau an die­ser Stel­le ist nun die Sei­te vier­zehn er­reicht), spricht den Le­ser an, ver­fällt im­mer wie­der in ei­nen Sing­sang wenn das Aben­teu­er be­droh­lich wird (Fern­sein heißt Fremd­sein, heißt Wo­gehts­lang heißt Angst­und­bang) und am En­de in ei­nen Mo­no­log, der es ir­gend­wann vor­zieht, ein in­ne­rer Mo­no­log zu sein, und da­von hört man nichts, und zwar (Ach­tung!) so­weit das Au­ge reicht. (Das Buch ist voll von sol­chen pa­ra­do­xen Ver­glei­chen.)

Nai ist »ge­wor­fen« in ei­ne beckett­sche lee­re Welt, die erst im Lau­fe der Er­zäh­lung ein we­nig auf­ge­füllt wird, letzt­lich aber im­mer nur Ku­lis­se bleibt. Plötz­lich ist er knie­hoch im Fluss, oh­ne dass er­sicht­lich wird, wie dies ge­kom­men ist. Er kommt an ein Ufer und dort wohnt in ei­nem Haus ein Mann mit Fern­glas und Ge­wehr und ver­steckt sich aus Angst, er­schos­sen zu wer­den. Nais Be­grei­fen von Welt er­folgt auf dem Prin­zip des Me­mo­rie­rens, ähn­lich dem Spiel »Kof­fer packen«. Da­bei wird ein neu­er Ein­druck den be­reits be­stehen­den Ein­drücken hin­zu­ge­fügt und ent­spre­chend re­pe­tiert: Auch ein Fakt ist das Fern­glas, das der Mann, dem das Haus ge­hört, an sei­nem Fen­ster po­si­tio­niert hat. Das Fern­glas steht dort, wo der Mann, dem das Haus ge­hört, das Fern­glas gut brau­chen kann. Der Mann al­so, dem das Haus ge­hört, ist auch der Mann, dem das Fern­glas ge­hört, und er ist auch der Mann dem der Land­strich ge­hört, und er ist auch der Mann, dem das Ge­wehr ge­hört.

Die­ser drol­lig-ma­nie­ri­stisch an­mu­ten­de Ton­fall wird im ge­sam­ten Buch bei­be­hal­ten. Mar­tin Lüd­ke er­kann­te be­reits in Ni­na Jäck­les »Noll« (2004) den be­wuss­ten Ver­zicht der »sinnliche[n] Prä­senz der Au­ßen­welt zu­gun­sten ei­ner schär­fe­ren Kon­tu­rie­rung der In­nen­welt«. Die­ses Ver­fah­ren hat die Au­torin in »Nai« noch wei­ter vor­an­ge­trie­ben. Da­bei durch­lebt Nai durch­aus meh­re­re Etap­pen ei­nes »Aben­teu­ers« und es herrscht bei­lei­be kei­ne Hand­lungs­ar­mut: Zu­nächst geht und geht er, sieht sich nicht wei­ter um, das ist von Vor­teil, dann rei­tet auf ei­nem Pferd, macht Be­kannt­schaft mit ei­ner al­ler­schön­sten Frau, die von ihm sein Schuh­werk for­dert und de­ren An­ge­bot, sie zu ent­füh­ren und zum wah­ren Hel­den auf­zu­stei­gen, er trotz ei­ni­ger Ver­lockun­gen ab­lehnt, was da­zu führt, dass man sich wie­der trennt (die Frau wird so­mit zur allerschönste[n] Verlassene[n]), ima­gi­niert sich in ei­ner Art Fest (es dampft die größ­te Pa­el­la der Welt am Ran­de des Ge­sche­hens), kommt in die Nä­he ei­nes Fän­gers, der nun mit Nais Kopf das Geld zu ja­gen ge­denkt nur um dann am En­de doch ir­gend­wie aus ei­nem Traum auf­zu­wa­chen. Oder war es doch kein Traum? Ob­wohl jetzt die Stim­me und al­le an­de­ren Nais ver­schwun­den sind.

Glaubt man an­fangs das noch nicht ein­mal 90 Sei­ten um­fas­sen­de Büch­lein be­quem an ei­nem Nach­mit­tag le­sen zu kön­nen, so zei­gen sich er­staun­li­cher­wei­se schnell Wi­der­ha­ken. Man stellt ir­gend­wann fest, dass die­ser Duk­tus gar nicht so in­fan­til ist (ähn­lich der Er­fah­rung, wenn man Kin­dern ein­mal ge­nau zu­hört). Der er­ste Ein­druck ei­ner eher zu leich­ten, ein­gän­gi­gen Sen­dung-mit-der-Maus-Spra­che, weicht durch­aus Re­fle­xi­ons­kas­ka­den beim Le­ser.

Und je mehr man liest, um so wil­li­ger, ja fast sehn­süch­ti­ger sucht man nach Al­le­go­rien und Me­ta­phern, was ent­we­der ein Zei­chen der Über­for­de­rung des Le­sers ist oder ein Trick der Au­torin, um ei­ner Ge­schich­te ei­nen dop­pel­ten Bo­den an­zu­kle­ben. Manch­mal kann so et­was ja wun­der­bar mit­ein­an­der ver­schmel­zen, im Ide­al­fall so de­zent wie das ge­üb­te Ent­kor­ken ei­ner Wein­fla­sche. Hier ge­lingt dies nicht ganz. Ei­ner­seits wird die Phan­ta­sie des Le­sers an­ge­regt, der Fi­gur Nai, sei­nem Aben­teu­er und den (meist eher feind­se­lig ge­son­ne­nen) Prot­ago­ni­sten ei­ne über die Er­zäh­lung hin­aus­ge­hen­de Be­deu­tung zu ver­lei­hen. Da bie­tet sich ei­ne Pa­ra­bel auf das Mensch­sein und das Le­ben an. Aber nicht al­le Men­schen sind die­se ra­di­ka­len, leicht ver­gnü­gungs­süch­ti­gen Ein­zel­gän­ger (ei­gent­lich ist es eher die Min­der­heit). Oder ist Nai viel­leicht »nur« das re­prä­sen­ta­ti­ve Pro­dukt un­se­res mo­der­nen In­di­vi­dua­lis­mus? Aber an­de­rer­seits: Wä­re die­se In­ter­pre­ta­ti­on nicht ein biss­chen dürf­tig? Wo­zu soll al­so die­ser fast ra­di­ka­le Re­duk­tio­nis­mus füh­ren, au­ßer viel­leicht auf die Kon­zen­tra­ti­on auf das We­sent­li­che (und zur zwi­schen­zeit­li­chen Er­leich­te­rung wi­der all die po­ly­pho­nen und mul­ti­per­spek­ti­vi­schen Ro­ma­ne)?

Und so rät­selt man wei­ter was wie so ist. War­um ei­gent­lich nicht.


Die kur­siv ge­setz­ten Stel­len sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

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  1. Aben­teu­er Le­ben
    Ja, ich weiß nicht wie und wo ich an­fan­gen soll, um Ih­nen mei­nen Ein­druck zu die­ser Er­zäh­lung mit­zu­tei­len ...
    ... mein Mann und ich ha­ben un­se­ren Kin­dern vor vie­len Jah­ren ger­ne aus dem Bil­der­buch „Wo die wil­den Ker­le woh­nen“ ( Whe­re the Wild Things Are“) von Mau­rice Send­ak vor­ge­le­sen.
    Nach dem Ein­stieg in die Er­zäh­lung „Nai“ fühl­te ich mich ein we­nig an obi­ge Ge­schich­te er­in­nert, vor al­lem aber auch we­gen der Spra­che, so wie Sie es be­schrei­ben, „ei­ner na­iv-in­fan­til an­mu­ten­den Spra­che“, aber auch we­gen des „Aben­teu­ers“, das der Prot­ago­nist Max bei den wil­den Ker­len im Traum er­lebt.

    Was ich an­fangs nicht er­war­tet hat­te ist der Sog, in dem ich mich plötz­lich be­fand. Ich „lie­be“ die­se Art von le­sen, egal was man/frau ge­ra­de zu tun hat, al­les wird se­kun­där, je­der Platz und sei er noch so un­ge­müt­lich ist recht, weil nicht mehr wahr­ge­nom­men, um zum En­de der Ge­schich­te zu kom­men.
    Wenn ich jetzt mal von den wil­den Ker­len ab­se­he und mich der Er­wach­se­nen­li­te­ra­tur zu­wen­de, dann stim­me ich Ih­nen zu: „Nai’s“ Un­ter­wegs­sein fin­det haupt­säch­lich in ei­ner beckett­schen lee­ren Welt statt. Auch ka­men mir Bil­der von Ales­san­dro Ba­ric­cos „Sei­de“ in den Sinn ( auch hier ei­ne Rei­se und dem Un­ter­wegs sein) oder, si­cher noch nä­her an „Nai“ her­an­ge­rückt, die Le­gen­de vom Oze­an­pia­ni­sten „No­ve­cen­to“ ( Ge­burt-Le­ben-Tod).
    Und das Zu­sam­men­zie­hen von Wor­ten, wie z.B. „Wo­gehts­lang“, „Angst­und­bang“ er­in­nert mich an Her­ta Mül­lers Stil­mit­tel in z.B. „Atem­schau­kel“.

    Jäck­les Wort-Satz und Ab­satz­wie­der­ho­lun­gen sind ge­wöh­nungs­be­dürf­tig: z.B. Sei­te 23 bis Sei­te 25 zäh­le ich über fünf­und­zwan­zig­mal das Wort ‘ge­hört’. Die Au­torin setzt dies mit Si­cher­heit als Stil­mit­tel ein, aber mir ist es trotz Wohl­wol­len zu ei­ner Er­zäh­lung, die zum Glück in kei­ne Schub­la­de passt, zu­viel. Ni­na Jäck­le teilt uns auf fast je­der Sei­te mit, was wie so ist.

    Ei­ni­ge Pas­sa­gen soll­ten zi­tiert wer­den; hmm, bes­ser ist es doch, selbst zu le­sen. Aber ei­ne Pas­sa­ge, ei­nen Ab­satz, den von Sei­te 59, will ich hier wie­der­ge­ben:
    „ Al­ler­schön­ste Schön­heit ist auch ei­ne Fra­ge des Hin­se­hens. Sieht man im­mer nur dort­hin, wo die Schön­heit sich im be­sten Lich­te zeigt, und nichts als die Schön­heit, und im­mer nur al­ler­schön­ste Schön­heit zu se­hen ist, so sieht man nichts als Per­len­ket­ten. Und dann ge­rät al­les aus den Fu­gen, und das rich­ti­ge Maß ist da­hin, er­zählt die Stim­me.“ ( Ge­fällt mir sehr )

    In Ih­rem letz­ten Ab­satz schrei­ben Sie: „ Ei­ner­seits wird die Pha­nat­sie...“, mir fehlt das an­de­rer­seits ( oder ha­be ich es über­se­hen?). Und emp­fin­den Sie die Fi­gur Nai wirk­lich als ra­di­kal, leicht ver­gnü­gungs­süch­ti­gen Ein­zel­gän­ger? Ha­be ich das so rich­tig her­aus­ge­le­sen? Ha­be ich näm­lich über­haupt nicht so in­ter­pre­tiert.
    Mir hat der Re­duk­tio­nis­mus zu­ge­sagt, mir reicht hier die Kon­zen­tra­ti­on auf das We­sent­li­che, oh­ne den son­sti­gen Schnick-Schnack über Le­ben und Tod zu schrei­ben.
    Dan­ke für die­sen Le­se­tip!

  2. Erst ein­mal vie­len Dank für die­sen Kom­men­tar. Es ist ja aus­ge­spro­chen sel­ten, dass man ein Feed­back auf ei­ne ziem­lich ak­tu­el­le Neu­erschei­nung von ei­nem an­de­ren Le­ser er­hält – und dann auch noch der­art de­tail­liert.

    Das An­re­gen der Phan­ta­sie be­zog sich auf das zwei­fel­los im Buch vor­han­de­ne Al­le­go­ri­sche. Es ist na­tür­lich klar, dass hier kei­ne »rea­le« Er­zäh­lung statt­fin­det, son­dern ei­ne Art Mär­chen (im über­tra­ge­nen Sinn viel­leicht so­gar ei­ne Fa­bel). Da­her steht das er­zähl­te Set­ting auch im­mer für et­was an­de­res. Und da be­ginnt für mich eben das Pro­blem: Ich weiss nicht so recht, wo­für. Ist ei­ne Al­le­go­rie auf das Le­ben? Das wä­re ziem­lich platt und auch nicht ge­lun­gen. Oder steht es für ei­nen aben­teu­er­li­chen Ju­gend­li­chen, ei­nen ro­man­ti­schen Mar­schie­rer, der sein Bün­del ge­schnürt hat? Da­her mein Ge­dan­ke, hier zei­ge sich evtl. auch ein in­di­vi­dua­li­sti­scher He­do­nist. Oder ein Phan­tast?

    (Das von Ih­nen er­wähn­te Buch ken­ne ich nicht; da­her nur mei­ne Re­fle­xi­on auf Le­witschar­offs »Pong«.)

    Das Su­chen nach dem Al­le­go­ri­schen ge­schieht, weil al­les an­de­re ziem­lich ge­nau er­klärt, be­schrie­ben wird. Selbst sei­ne Re­fle­xio­nen er­klärt Nai. Da bleibt dann für den Le­ser we­nig »In­ter­pre­ta­ti­ons­spiel­aum« – die­ser muss so­zu­sa­gen aus­ge­la­gert wer­den auf die – platt aus­ge­drückt – Bot­schaft.

    Man steht ei­ner­seits auf ei­ner Beckett-Büh­ne mit ei­ner skur­ri­len Fi­gur – an­de­rer­seits springt da nicht der Fun­ke über. Man sucht nach dem dop­pel­ten Bo­den (der Tran­szen­denz), man er­lebt sie nicht.

  3. Ich wür­de, im über­tra­ge­nen Sin­ne, in die­ser Er­zäh­lung ei­ne Fa­bel er­ken­nen.
    Und der über­sprin­gen­de Fun­ke: bei mir hat es funk­tio­niert, das klei­ne Glü­hen. Für ein gro­ßes Feu­er hat es nicht ge­langt; aber ein in­ter­es­san­ter und ein an­de­rer Er­zähl­stil, der mich am Abend aus dem All­tag ge­zoomt hat.

    Lei­der hat die Au­torin die Fra­ge, ob die Fi­gur männ­lich oder weib­lich ist auf Sei­te 30 auf­ge­löst. Ein­gangs ( u.a. Klap­pen­text): „Und ein Jun­ge ist Nai nicht, und ein Mäd­chen ist Nai nicht.“ wer­de ich als Le­se­rin auf ei­ne fal­sche Fähr­te ge­lenkt – scha­de. Ich hät­te Nai ge­schlechts­los ge­las­sen, denn „ Und die Ge­dan­ken kom­men, und die Ge­dan­ken ge­hen. Das ist so im Kopf.“

  4. Aus dem All­tag »ge­zoomt« ist ei­ne schö­ne For­mu­lie­rung. Und auch be­züg­lich der Er­klä­rung des Ge­schlechts der Fi­gur stim­me ich Ih­nen zu. (Klap­pen­tex­te le­se ich, wenn über­haupt, nur nach der Lek­tü­re.)

  5. Gu­ten Tag,
    ich fin­de es sehr span­nend, was Sie hier über Nai schrei­ben. Ana­gramm ist der Na­me nicht. Al­so ist er schon, aber nicht vor­sätz­lich. Ein Ver­se­hent­li­ch­und­ne­ben­bei­ana­gramm. Ich kann nicht nach­voll­zie­hen, wes­we­gen Nai un­ge­schlecht­lich blei­ben soll­te, der Ver­lauf, dass er näm­lich zum Jun­gen erst wird, bis hin zur al­ler­schön­sten Lie­be­lei, der ist mir not­wen­dig ge­we­sen. Das ist so.
    Dan­ke fürs Le­sen!
    Ni­na Jäck­le