Eine Figur Nai, ohne Biografie, erzählend in einer naiv-infantil anmutenden Sprache, will ein sehr meisterhaftes Abenteuer erleben. Zu diesem Zweck trägt er sogar im Bett wacker Schuh über Strumpf, hat die Schleifen gebunden und bleibt – stets einsatzbereit – im aufrechten Stand. Aber wer ist Nai? Ein Kobold? Dafür spricht vielleicht die angedeutete Kleinheit, der kaum vorhandene Hals. Ein Schwachsinniger, der Stimmen hört und sich in mehrere Personen (Naizwei, Naidrei) aufspaltet? Und die Gedanken kommen und die Gedanken gehen. Das ist so im Kopf heißt es zu Beginn. Oder eine Mischung aus Lewitscharoffs Pong (der jedoch viel welthaltiger wirkte) und Kaspar Hauser? Nai trägt auch vor, thematisiert immer wieder in der Erzählung die Erzählung (genau an dieser Stelle ist nun die Seite vierzehn erreicht), spricht den Leser an, verfällt immer wieder in einen Singsang wenn das Abenteuer bedrohlich wird (Fernsein heißt Fremdsein, heißt Wogehtslang heißt Angstundbang) und am Ende in einen Monolog, der es irgendwann vorzieht, ein innerer Monolog zu sein, und davon hört man nichts, und zwar (Achtung!) soweit das Auge reicht. (Das Buch ist voll von solchen paradoxen Vergleichen.)
Nai ist »geworfen« in eine beckettsche leere Welt, die erst im Laufe der Erzählung ein wenig aufgefüllt wird, letztlich aber immer nur Kulisse bleibt. Plötzlich ist er kniehoch im Fluss, ohne dass ersichtlich wird, wie dies gekommen ist. Er kommt an ein Ufer und dort wohnt in einem Haus ein Mann mit Fernglas und Gewehr und versteckt sich aus Angst, erschossen zu werden. Nais Begreifen von Welt erfolgt auf dem Prinzip des Memorierens, ähnlich dem Spiel »Koffer packen«. Dabei wird ein neuer Eindruck den bereits bestehenden Eindrücken hinzugefügt und entsprechend repetiert: Auch ein Fakt ist das Fernglas, das der Mann, dem das Haus gehört, an seinem Fenster positioniert hat. Das Fernglas steht dort, wo der Mann, dem das Haus gehört, das Fernglas gut brauchen kann. Der Mann also, dem das Haus gehört, ist auch der Mann, dem das Fernglas gehört, und er ist auch der Mann dem der Landstrich gehört, und er ist auch der Mann, dem das Gewehr gehört.
Dieser drollig-manieristisch anmutende Tonfall wird im gesamten Buch beibehalten. Martin Lüdke erkannte bereits in Nina Jäckles »Noll« (2004) den bewussten Verzicht der »sinnliche[n] Präsenz der Außenwelt zugunsten einer schärferen Konturierung der Innenwelt«. Dieses Verfahren hat die Autorin in »Nai« noch weiter vorangetrieben. Dabei durchlebt Nai durchaus mehrere Etappen eines »Abenteuers« und es herrscht beileibe keine Handlungsarmut: Zunächst geht und geht er, sieht sich nicht weiter um, das ist von Vorteil, dann reitet auf einem Pferd, macht Bekanntschaft mit einer allerschönsten Frau, die von ihm sein Schuhwerk fordert und deren Angebot, sie zu entführen und zum wahren Helden aufzusteigen, er trotz einiger Verlockungen ablehnt, was dazu führt, dass man sich wieder trennt (die Frau wird somit zur allerschönste[n] Verlassene[n]), imaginiert sich in einer Art Fest (es dampft die größte Paella der Welt am Rande des Geschehens), kommt in die Nähe eines Fängers, der nun mit Nais Kopf das Geld zu jagen gedenkt nur um dann am Ende doch irgendwie aus einem Traum aufzuwachen. Oder war es doch kein Traum? Obwohl jetzt die Stimme und alle anderen Nais verschwunden sind.
Glaubt man anfangs das noch nicht einmal 90 Seiten umfassende Büchlein bequem an einem Nachmittag lesen zu können, so zeigen sich erstaunlicherweise schnell Widerhaken. Man stellt irgendwann fest, dass dieser Duktus gar nicht so infantil ist (ähnlich der Erfahrung, wenn man Kindern einmal genau zuhört). Der erste Eindruck einer eher zu leichten, eingängigen Sendung-mit-der-Maus-Sprache, weicht durchaus Reflexionskaskaden beim Leser.
Und je mehr man liest, um so williger, ja fast sehnsüchtiger sucht man nach Allegorien und Metaphern, was entweder ein Zeichen der Überforderung des Lesers ist oder ein Trick der Autorin, um einer Geschichte einen doppelten Boden anzukleben. Manchmal kann so etwas ja wunderbar miteinander verschmelzen, im Idealfall so dezent wie das geübte Entkorken einer Weinflasche. Hier gelingt dies nicht ganz. Einerseits wird die Phantasie des Lesers angeregt, der Figur Nai, seinem Abenteuer und den (meist eher feindselig gesonnenen) Protagonisten eine über die Erzählung hinausgehende Bedeutung zu verleihen. Da bietet sich eine Parabel auf das Menschsein und das Leben an. Aber nicht alle Menschen sind diese radikalen, leicht vergnügungssüchtigen Einzelgänger (eigentlich ist es eher die Minderheit). Oder ist Nai vielleicht »nur« das repräsentative Produkt unseres modernen Individualismus? Aber andererseits: Wäre diese Interpretation nicht ein bisschen dürftig? Wozu soll also dieser fast radikale Reduktionismus führen, außer vielleicht auf die Konzentration auf das Wesentliche (und zur zwischenzeitlichen Erleichterung wider all die polyphonen und multiperspektivischen Romane)?
Und so rätselt man weiter was wie so ist. Warum eigentlich nicht.
Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Abenteuer Leben
Ja, ich weiß nicht wie und wo ich anfangen soll, um Ihnen meinen Eindruck zu dieser Erzählung mitzuteilen ...
... mein Mann und ich haben unseren Kindern vor vielen Jahren gerne aus dem Bilderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“ ( Where the Wild Things Are“) von Maurice Sendak vorgelesen.
Nach dem Einstieg in die Erzählung „Nai“ fühlte ich mich ein wenig an obige Geschichte erinnert, vor allem aber auch wegen der Sprache, so wie Sie es beschreiben, „einer naiv-infantil anmutenden Sprache“, aber auch wegen des „Abenteuers“, das der Protagonist Max bei den wilden Kerlen im Traum erlebt.
Was ich anfangs nicht erwartet hatte ist der Sog, in dem ich mich plötzlich befand. Ich „liebe“ diese Art von lesen, egal was man/frau gerade zu tun hat, alles wird sekundär, jeder Platz und sei er noch so ungemütlich ist recht, weil nicht mehr wahrgenommen, um zum Ende der Geschichte zu kommen.
Wenn ich jetzt mal von den wilden Kerlen absehe und mich der Erwachsenenliteratur zuwende, dann stimme ich Ihnen zu: „Nai’s“ Unterwegssein findet hauptsächlich in einer beckettschen leeren Welt statt. Auch kamen mir Bilder von Alessandro Bariccos „Seide“ in den Sinn ( auch hier eine Reise und dem Unterwegs sein) oder, sicher noch näher an „Nai“ herangerückt, die Legende vom Ozeanpianisten „Novecento“ ( Geburt-Leben-Tod).
Und das Zusammenziehen von Worten, wie z.B. „Wogehtslang“, „Angstundbang“ erinnert mich an Herta Müllers Stilmittel in z.B. „Atemschaukel“.
Jäckles Wort-Satz und Absatzwiederholungen sind gewöhnungsbedürftig: z.B. Seite 23 bis Seite 25 zähle ich über fünfundzwanzigmal das Wort ‘gehört’. Die Autorin setzt dies mit Sicherheit als Stilmittel ein, aber mir ist es trotz Wohlwollen zu einer Erzählung, die zum Glück in keine Schublade passt, zuviel. Nina Jäckle teilt uns auf fast jeder Seite mit, was wie so ist.
Einige Passagen sollten zitiert werden; hmm, besser ist es doch, selbst zu lesen. Aber eine Passage, einen Absatz, den von Seite 59, will ich hier wiedergeben:
„ Allerschönste Schönheit ist auch eine Frage des Hinsehens. Sieht man immer nur dorthin, wo die Schönheit sich im besten Lichte zeigt, und nichts als die Schönheit, und immer nur allerschönste Schönheit zu sehen ist, so sieht man nichts als Perlenketten. Und dann gerät alles aus den Fugen, und das richtige Maß ist dahin, erzählt die Stimme.“ ( Gefällt mir sehr )
In Ihrem letzten Absatz schreiben Sie: „ Einerseits wird die Phanatsie...“, mir fehlt das andererseits ( oder habe ich es übersehen?). Und empfinden Sie die Figur Nai wirklich als radikal, leicht vergnügungssüchtigen Einzelgänger? Habe ich das so richtig herausgelesen? Habe ich nämlich überhaupt nicht so interpretiert.
Mir hat der Reduktionismus zugesagt, mir reicht hier die Konzentration auf das Wesentliche, ohne den sonstigen Schnick-Schnack über Leben und Tod zu schreiben.
Danke für diesen Lesetip!
Erst einmal vielen Dank für diesen Kommentar. Es ist ja ausgesprochen selten, dass man ein Feedback auf eine ziemlich aktuelle Neuerscheinung von einem anderen Leser erhält – und dann auch noch derart detailliert.
Das Anregen der Phantasie bezog sich auf das zweifellos im Buch vorhandene Allegorische. Es ist natürlich klar, dass hier keine »reale« Erzählung stattfindet, sondern eine Art Märchen (im übertragenen Sinn vielleicht sogar eine Fabel). Daher steht das erzählte Setting auch immer für etwas anderes. Und da beginnt für mich eben das Problem: Ich weiss nicht so recht, wofür. Ist eine Allegorie auf das Leben? Das wäre ziemlich platt und auch nicht gelungen. Oder steht es für einen abenteuerlichen Jugendlichen, einen romantischen Marschierer, der sein Bündel geschnürt hat? Daher mein Gedanke, hier zeige sich evtl. auch ein individualistischer Hedonist. Oder ein Phantast?
(Das von Ihnen erwähnte Buch kenne ich nicht; daher nur meine Reflexion auf Lewitscharoffs »Pong«.)
Das Suchen nach dem Allegorischen geschieht, weil alles andere ziemlich genau erklärt, beschrieben wird. Selbst seine Reflexionen erklärt Nai. Da bleibt dann für den Leser wenig »Interpretationsspielaum« – dieser muss sozusagen ausgelagert werden auf die – platt ausgedrückt – Botschaft.
Man steht einerseits auf einer Beckett-Bühne mit einer skurrilen Figur – andererseits springt da nicht der Funke über. Man sucht nach dem doppelten Boden (der Transzendenz), man erlebt sie nicht.
Ich würde, im übertragenen Sinne, in dieser Erzählung eine Fabel erkennen.
Und der überspringende Funke: bei mir hat es funktioniert, das kleine Glühen. Für ein großes Feuer hat es nicht gelangt; aber ein interessanter und ein anderer Erzählstil, der mich am Abend aus dem Alltag gezoomt hat.
Leider hat die Autorin die Frage, ob die Figur männlich oder weiblich ist auf Seite 30 aufgelöst. Eingangs ( u.a. Klappentext): „Und ein Junge ist Nai nicht, und ein Mädchen ist Nai nicht.“ werde ich als Leserin auf eine falsche Fährte gelenkt – schade. Ich hätte Nai geschlechtslos gelassen, denn „ Und die Gedanken kommen, und die Gedanken gehen. Das ist so im Kopf.“
Aus dem Alltag »gezoomt« ist eine schöne Formulierung. Und auch bezüglich der Erklärung des Geschlechts der Figur stimme ich Ihnen zu. (Klappentexte lese ich, wenn überhaupt, nur nach der Lektüre.)
Guten Tag,
ich finde es sehr spannend, was Sie hier über Nai schreiben. Anagramm ist der Name nicht. Also ist er schon, aber nicht vorsätzlich. Ein Versehentlichundnebenbeianagramm. Ich kann nicht nachvollziehen, weswegen Nai ungeschlechtlich bleiben sollte, der Verlauf, dass er nämlich zum Jungen erst wird, bis hin zur allerschönsten Liebelei, der ist mir notwendig gewesen. Das ist so.
Danke fürs Lesen!
Nina Jäckle
Es ist ein Privileg des Autors/der Autorin, den Mutmaßungen des Lesers zu widersprechen.
Schönen Dank.