So wagt sich Nina Jäckle mit ihrem Buch »Zielinski« durchaus auf schwieriges Gelände. Es berichtet ein Ich-Erzähler von seinem neuen »Mitbewohner« Zielinski, der sich in seinem Wohnzimmer eingerichtet hat und ab und an in Kontakt mit ihm tritt. Meist verkriecht sich Zielinski jedoch in einer Holzkiste, die mit blauem Samt ausgekleidet ist (der Buchumschlag nebst Lesebändchen unterstützt dies farblich kongenial). Zielinski ist gut gepflegt und perfekt gekleidet, während der Ich-Erzähler namens Schoch zusehends verkümmert. Er geht nicht mehr zur Arbeit. Auch das Einkaufen fällt ihm schwer. Es ist ihm nahezu unmöglich, die Wohnung zu verlassen. Nur noch wenige, immer wieder memorierte Verhaltensmaßregeln bestimmen sein Leben: Es gilt, die Kontrolle zu behalten und Wut zu vermeiden. Es gibt Regeln, die einzuhalten sind. Er zählt bis vier. Die Körpertemperatur wird zum Fetisch; das Fiebermessen zum fast konstituierenden Akt. Er erinnert sich zwar seiner Schwester, vermag sich jedoch trotz des zuweilen drängenden Wunsches, diese zu kontaktieren nicht mehr an ihren Namen zu erinnern. Eingehende Telefonate werden nicht beantwortet; der Anrufbeantworter zählt die vergeblichen Versuche der Kontaktaufnahme. Schoch ist nur noch auf Zielinski fixiert, dem er sich unterordnen möchte, um seine eigene Überforderung in und an dieser Welt zu delegieren: Suche keine Bedeutung deiner selbst. Er ist nicht mehr in der Lage, einer Radiosendung zu folgen; ich verstehe Schnelligkeit nicht mehr, verfällt physisch, duscht nur noch selten und lässt Haare und Fingernägel wachsen. Schoch definiert sich zu und mit Zielinski: Bäte ich ihn um Hilfe, würde er für mich einstehen, fragte ich ihn um Rat, würde er für mich Worte finden, handelte ich unrecht, würde er mich strafen. Die Strafen erfolgen mit harten und gezielten Stockhieben auf die Stirn.
Jäckle belässt es jedoch nicht mit der bloßen Beschreibung dieses Verfalls einer Person binnen drei oder vier Wochen. Denn zwischenzeitlich reflektiert Schoch sehr wohl über sein Verhalten, schaut sich in diesen lichten Momenten fast wie aus einer Vogelperspektive selbst zu und möchte die Lage verändern. Er sieht ein, dass ihm von einem Arzt geholfen werden könnte, aber er rafft sich dann doch nicht auf. Er sieht trotzdem klar: Dieser Zustand, mir selbst eine Variable zu sein, mir also vorstellen zu können, dass das eigene Erleben nicht vom tatsächlichen abhängt, sondern vielmehr von einer Entscheidung für die eine oder für die andere mögliche Variante, müsste mich eigentlich beängstigen. Er sieht und riecht Zielinski, obwohl er weiß, dass Zielinski für andere nicht sichtbar ist und dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass er gar nicht existiert.
Diese Schwellenmomente zwischen Wachsein und Wahnsinn sind die interessantesten des Buches: Jäckle gelingt es hier einen Spannungsbogen zu erzeugen, der die vage Möglichkeit einer Rettung oder, besser, Selbstrettung in Aussicht stellt. Schochs Gedanken gehen dabei nicht zum Exorzieren der Wahnfigur Zielinski, sondern eher in Richtung Emanzipation von ihr. Der Höhepunkt dieses Prozesses wird erreicht, als eine Anzeige der Nachbarin droht, die er tagelang in seiner Wohnung eingesperrt und gequält hatte, um sie dann doch nicht sterben zu lassen und in ihre Wohnung zurückbringt. Schoch überwindet sich, verlässt seine Wohnung und will nun Gast in dieser Welt sein. Obwohl es nicht von ihm angesprochen wird, scheint er instinktiv zu ahnen, dass die Nachbarin die Polizei alarmieren wird. Er packt die Koffer, fährt mit seinen Gummistiefeln, die niemanden zu stören scheinen, im Zug an die See und mietet sich in eine Pension ein. Jäckle zeigt meisterhaft die enormen Anstrengungen, die Schoch vollbringt, wenn dieser in die üblichen sozialen Reaktions- und Interaktionsmuster zurück muss, die er durch die selbstverordnete Einsamkeit (bzw. Zweisamkeit mit Zielinski) fast verloren hatte. Die Zugfahrt und das Arrangieren in der Pension verlangen große Selbstbeherrschung. Jäckle führt zudem den Leser auch für kurze Zeit auf den Leim, in dem sie suggeriert, es könnte eine Art Heilung geben.
Schließlich stellt sich heraus, dass die Postkarte, die er an Zielinski schickt und in der er ihm in knappen Worten die Wohnung überlässt, nicht der Beginn der Emanzipation ist, sondern nur eine weitere Etappe innerhalb der Krankheit. Als Schoch dann nach dem Beischlaf seine Wirtin erwürgt, verlässt er überstürzt den Urlaubsort und kehrt in seine Wohnung zurück. Der Briefkasten quillt über: Der Vermieter droht wegen ausbleibender Mietzahlungen mit der Zwangsräumung, der Strom ist abgeschaltet (Ravioli schmecken auch kalt) und der Arbeitgeber hat längst die Kündigung ausgesprochen. Die Postkarte ist nicht dabei. Aber Zielinski ist da, gut gekleidet wie immer und bestraft Schoch mit Stockhieben. Dieser macht sich irgendwann ein Holzfeuer in seiner Wohnung um Kartoffeln zu rösten und erschrickt ob des Qualms. Merkwürdig die Szene mit den zwei »Inspektoren«, die ihn befragen – bildet sich Schoch die nur ein? Auch das bestellen eines LKWs mit Kies mutet seltsam an. Woher hat er das Geld? Schließlich schreibt er seinem Vermieter, dass er wieder bezahlen will und versucht, eine alte Geige zu verkaufen, was scheitert, weil das Geschäft des Geigenbauers nicht mehr existiert. Die Situation mutet verzweifelt an. Das Ende des Buches soll hier nicht verraten werden.
Jäckles Figur erinnert zunächst nicht nur hinsichtlich des Namengleichklangs an Josef Bloch aus Peter Handkes »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter«. Auch Bloch erwürgt nach dem Akt scheinbar grundlos seine Bekanntschaft und ist durchaus gelegentlich zu selbst-reflexivem Verhalten in der Lage. Handke bekannte seinerzeit durch die Lektüre des Buches »Die beginnende Schizophrenie – Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns« von Klaus Conrad inspiriert worden zu sein. Es war sein »Buch des Jahres« 1968 (es erschien tatsächlich erstmals 1958; Conrad starb bereits 1961). In der Psychiatrie ist Conrads Buch längst zum Klassiker avanciert. Handkes These war, dass womöglich erst ein schizophrener Schock eine »radikale Bewußtseinsänderung« beim Menschen hervorrufen könnte.
Dennoch dominieren die Unterschiede zwischen beiden Romanen. Jäckle taucht in die Grenzen der Welt seiner Figur direkt ein. Dabei wäre müßig festzustellen, ob die Krankheitsbilder beider Protagonisten überhaupt diagnostisch vergleichbar sind. Das Buch entwickelt eine latente Spannung, weil die Autorin von ihrer streng reduktionistischen Erzähltechnik (wie beispielsweise in den Büchern »Noll« oder »Nai«) etwas abweicht und eher elliptisch erzählend auch vor einer gewissen Komik nicht Halt macht. Etwa wenn Schoch konstatiert, die Welt sei voller Idiotie, weshalb also nicht mitmachen. Verdichtung und Zauber entstehen aus der Ambivalenz der Figur, die sich zeitweilig zur Realität öffnet, etwa wenn sie ins Erzählen über ihre Kindheit kommt dann jedoch immer wieder in die Scheinwelt zurückfällt. Dass Nina Jäckle damit auf künstlich aufgesetzte »Thriller«-Elemente zu Gunsten der Erzählung (und letztlich dem »Wohl« der Hauptfigur) verzichtet, kann ihr nicht hoch genug angerechnet werden. Sie widersteht auch der Versuchung ins Skurrile abzudriften oder beispielweise über die Bestrafungsszenen sexuelle Konnotationen möglich zu machen. Gängige Deutungsmuster funktionieren hier nicht. In seiner sehnsuchtsvollen Weltabgewandtheit ist Schoch zuweilen fast erschreckend »normal«. »Zielinski« ist keinesfalls so harmlos, wie es zunächst scheint. Es ist ein Buch für Freunde des sanften, des nachhaltigen Schauderns.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Zwei Videoanimationen zum Buch: Hier als eine Art Lesung und hier mit der Autorin.
Was mir als eine Frage einfiele, die ich hier mal unkommentiert aufwerfen möchte:
Kann ein Autor überhaupt Wahnsinn in seinem kompletten Spektrum der Auswirkungen von einem Autor thematisiert werden, so lange dieser keinen Einblick in forensische oder psychatrische Anlagen erhalten hat? Aus Wilhelm Diltheys Begründung der Geisteswissenschaften kann man ableiten, dass Ähnliches nur von Ähnlichem erkannt werden kann. Gilt das auch exemplarisch für die Literatur oder den Film?
Gute Frage, die sich ja nicht nur in diesem Zusammenhang stellt, sondern generell die Frage nach dem Erfahrungshorizont des Autors stellt. Also kann ein Schriftsteller bspw. den Büroalltag darstellen, ohne selber in einem Büro gearbeitet zu haben?
Handke hatte damals Conrads Buch gelesen und sich einen gewissen Überblick über pathologische Schizophrenie verschafft. Bei Frau Jäckle weiß ich das nicht. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass die Authentizität eines literarischen Textes nicht unbedingt von der Erfahrungswelt des Autors abhängt. Es ist inzwischen fast Mode geworden, Kompetenzen für die beschriebene oder erzählte Szene außerhalb des literarischen Textes »nachzuliefern«, um eben einen Gott der Literaturkritik, die Authentizität, zu befriedigen. Fast scheint es so, dass der Autor immer mehr zur Beibringung von Formalqualifikationen genötigt wird, damit man ihm »glaubt«.
Aber ein Autor kann zuhören; sich von anderen erzählen lassen. Er kann Empathie entwickeln. Er kann Betriebsblindheiten erkennen. Er ist ein soziales Wesen, lebt in Interaktionen mit anderen Menschen. Ich will nicht auf diesem dummen Beispiel von Karl May rumreiten, der nie die Länder gesehen hat, über die er schrieb. Erfahrung ist wichtig. Aber wo sie dominiert, wo es sich um einen »coolen« Decouvrierungstext handeln würde – da wäre es doch fast schon keine Literatur mehr, sondern maximal eine Reportage. Literatur verwandelt immer auch ein bißchen die Realität. Sich auf sie nur zu berufen, ist zumeist schlechte Literatur.
Ähnliches wird ja auch immer vom Kritiker behauptet: Der soll erst einmal selber ein Buch, einen Roman, ein Theaterstück schreiben. Als wenn es darauf ankäme. Ich antworte darauf meist mit Lessing: Ich muß nicht Koch sein, um festzustellen, ob eine Suppe versalzen ist.