Ni­na Jäck­le: Ziel­in­ski

Nina Jäckle: Zielinski

Ni­na Jäck­le: Ziel­in­ski

Schil­de­run­gen von schlei­chen­dem Wahn­sinn gibt es in der Li­te­ra­tur seit je­her. Zu­meist do­mi­nier­ten je­doch eher in­di­rek­te, oft­mals dis­kret-um­schrei­ben­de Er­zäh­lun­gen über die je­wei­li­ge Fi­gur und de­ren Wahn­bild, die im Fort­gang des Ge­sche­hens ein­ge­floch­ten wer­den. Wahn­sin­ni­ge in das Zen­trum ei­ner Ge­schich­te zu rücken kam ver­stärkt erst mit der li­te­ra­ri­schen Mo­der­ne. Am schwie­rig­sten sind da­bei je­ne Kon­stel­la­tio­nen, die den of­fen­sicht­lich Wahn­sin­ni­gen selbst er­zäh­len las­sen. Sie un­ter­lie­gen gleich zwei Pro­ble­men: Ei­ner­seits darf der Au­tor die Fi­gur nicht vor­füh­ren und de­nun­zie­ren. Hier­zu wür­de man auch ei­ne über­trie­be­ne Sen­sa­tio­na­li­sie­rung mit­tels bil­li­ger Schock­ef­fek­te zäh­len. An­de­rer­seits droht bei ei­ner zu of­fen­sicht­li­chen und em­pha­ti­schen Par­tei­nah­me die Ge­fahr ei­ner fal­schen He­roi­sie­rung oder gar Ba­ga­tel­li­sie­rung.


So wagt sich Ni­na Jäck­le mit ih­rem Buch »Ziel­in­ski« durch­aus auf schwie­ri­ges Ge­län­de. Es be­rich­tet ein Ich-Er­zäh­ler von sei­nem neu­en »Mit­be­woh­ner« Ziel­in­ski, der sich in sei­nem Wohn­zim­mer ein­ge­rich­tet hat und ab und an in Kon­takt mit ihm tritt. Meist ver­kriecht sich Ziel­in­ski je­doch in ei­ner Holz­ki­ste, die mit blau­em Samt aus­ge­klei­det ist (der Buch­um­schlag nebst Le­se­bänd­chen un­ter­stützt dies farb­lich kon­ge­ni­al). Ziel­in­ski ist gut ge­pflegt und per­fekt ge­klei­det, wäh­rend der Ich-Er­zäh­ler na­mens Schoch zu­se­hends ver­küm­mert. Er geht nicht mehr zur Ar­beit. Auch das Ein­kau­fen fällt ihm schwer. Es ist ihm na­he­zu un­mög­lich, die Woh­nung zu ver­las­sen. Nur noch we­ni­ge, im­mer wie­der me­mo­rier­te Ver­hal­tens­maß­re­geln be­stim­men sein Le­ben: Es gilt, die Kon­trol­le zu be­hal­ten und Wut zu ver­mei­den. Es gibt Re­geln, die ein­zu­hal­ten sind. Er zählt bis vier. Die Kör­per­tem­pe­ra­tur wird zum Fe­tisch; das Fie­ber­mes­sen zum fast kon­sti­tu­ie­ren­den Akt. Er er­in­nert sich zwar sei­ner Schwe­ster, ver­mag sich je­doch trotz des zu­wei­len drän­gen­den Wun­sches, die­se zu kon­tak­tie­ren nicht mehr an ih­ren Na­men zu er­in­nern. Ein­ge­hen­de Te­le­fo­na­te wer­den nicht be­ant­wor­tet; der An­ruf­be­ant­wor­ter zählt die ver­geb­li­chen Ver­su­che der Kon­takt­auf­nah­me. Schoch ist nur noch auf Ziel­in­ski fi­xiert, dem er sich un­ter­ord­nen möch­te, um sei­ne ei­ge­ne Über­for­de­rung in und an die­ser Welt zu de­le­gie­ren: Su­che kei­ne Be­deu­tung dei­ner selbst. Er ist nicht mehr in der La­ge, ei­ner Ra­dio­sen­dung zu fol­gen; ich ver­ste­he Schnel­lig­keit nicht mehr, ver­fällt phy­sisch, duscht nur noch sel­ten und lässt Haa­re und Fin­ger­nä­gel wach­sen. Schoch de­fi­niert sich zu und mit Ziel­in­ski: Bä­te ich ihn um Hil­fe, wür­de er für mich ein­ste­hen, frag­te ich ihn um Rat, wür­de er für mich Wor­te fin­den, han­del­te ich un­recht, wür­de er mich stra­fen. Die Stra­fen er­fol­gen mit har­ten und ge­ziel­ten Stock­hie­ben auf die Stirn.

Jäck­le be­lässt es je­doch nicht mit der blo­ßen Be­schrei­bung die­ses Ver­falls ei­ner Per­son bin­nen drei oder vier Wo­chen. Denn zwi­schen­zeit­lich re­flek­tiert Schoch sehr wohl über sein Ver­hal­ten, schaut sich in die­sen lich­ten Mo­men­ten fast wie aus ei­ner Vo­gel­per­spek­ti­ve selbst zu und möch­te die La­ge ver­än­dern. Er sieht ein, dass ihm von ei­nem Arzt ge­hol­fen wer­den könn­te, aber er rafft sich dann doch nicht auf. Er sieht trotz­dem klar: Die­ser Zu­stand, mir selbst ei­ne Va­ria­ble zu sein, mir al­so vor­stel­len zu kön­nen, dass das ei­ge­ne Er­le­ben nicht vom tat­säch­li­chen ab­hängt, son­dern viel­mehr von ei­ner Ent­schei­dung für die ei­ne oder für die an­de­re mög­li­che Va­ri­an­te, müss­te mich ei­gent­lich be­äng­sti­gen. Er sieht und riecht Ziel­in­ski, ob­wohl er weiß, dass Ziel­in­ski für an­de­re nicht sicht­bar ist und dass die Wahr­schein­lich­keit hoch ist, dass er gar nicht exi­stiert.

Die­se Schwel­len­mo­men­te zwi­schen Wach­sein und Wahn­sinn sind die in­ter­es­san­te­sten des Bu­ches: Jäck­le ge­lingt es hier ei­nen Span­nungs­bo­gen zu er­zeu­gen, der die va­ge Mög­lich­keit ei­ner Ret­tung oder, bes­ser, Selbst­ret­tung in Aus­sicht stellt. Schochs Ge­dan­ken ge­hen da­bei nicht zum Ex­or­zie­ren der Wahn­fi­gur Ziel­in­ski, son­dern eher in Rich­tung Eman­zi­pa­ti­on von ihr. Der Hö­he­punkt die­ses Pro­zes­ses wird er­reicht, als ei­ne An­zei­ge der Nach­ba­rin droht, die er ta­ge­lang in sei­ner Woh­nung ein­ge­sperrt und ge­quält hat­te, um sie dann doch nicht ster­ben zu las­sen und in ih­re Woh­nung zu­rück­bringt. Schoch über­win­det sich, ver­lässt sei­ne Woh­nung und will nun Gast in die­ser Welt sein. Ob­wohl es nicht von ihm an­ge­spro­chen wird, scheint er in­stink­tiv zu ah­nen, dass die Nach­ba­rin die Po­li­zei alar­mie­ren wird. Er packt die Kof­fer, fährt mit sei­nen Gum­mi­stie­feln, die nie­man­den zu stö­ren schei­nen, im Zug an die See und mie­tet sich in ei­ne Pen­si­on ein. Jäck­le zeigt mei­ster­haft die enor­men An­stren­gun­gen, die Schoch voll­bringt, wenn die­ser in die üb­li­chen so­zia­len Re­ak­ti­ons- und In­ter­ak­ti­ons­mu­ster zu­rück muss, die er durch die selbst­ver­ord­ne­te Ein­sam­keit (bzw. Zwei­sam­keit mit Ziel­in­ski) fast ver­lo­ren hat­te. Die Zug­fahrt und das Ar­ran­gie­ren in der Pen­si­on ver­lan­gen gro­ße Selbst­be­herr­schung. Jäck­le führt zu­dem den Le­ser auch für kur­ze Zeit auf den Leim, in dem sie sug­ge­riert, es könn­te ei­ne Art Hei­lung ge­ben.

Schließ­lich stellt sich her­aus, dass die Post­kar­te, die er an Ziel­in­ski schickt und in der er ihm in knap­pen Wor­ten die Woh­nung über­lässt, nicht der Be­ginn der Eman­zi­pa­ti­on ist, son­dern nur ei­ne wei­te­re Etap­pe in­ner­halb der Krank­heit. Als Schoch dann nach dem Bei­schlaf sei­ne Wir­tin er­würgt, ver­lässt er über­stürzt den Ur­laubs­ort und kehrt in sei­ne Woh­nung zu­rück. Der Brief­ka­sten quillt über: Der Ver­mie­ter droht we­gen aus­blei­ben­der Miet­zah­lun­gen mit der Zwangs­räu­mung, der Strom ist ab­ge­schal­tet (Ra­vio­li schmecken auch kalt) und der Ar­beit­ge­ber hat längst die Kün­di­gung aus­ge­spro­chen. Die Post­kar­te ist nicht da­bei. Aber Ziel­in­ski ist da, gut ge­klei­det wie im­mer und be­straft Schoch mit Stock­hie­ben. Die­ser macht sich ir­gend­wann ein Holz­feu­er in sei­ner Woh­nung um Kar­tof­feln zu rö­sten und er­schrickt ob des Qualms. Merk­wür­dig die Sze­ne mit den zwei »In­spek­to­ren«, die ihn be­fra­gen – bil­det sich Schoch die nur ein? Auch das be­stel­len ei­nes LKWs mit Kies mu­tet selt­sam an. Wo­her hat er das Geld? Schließ­lich schreibt er sei­nem Ver­mie­ter, dass er wie­der be­zah­len will und ver­sucht, ei­ne al­te Gei­ge zu ver­kau­fen, was schei­tert, weil das Ge­schäft des Gei­gen­bau­ers nicht mehr exi­stiert. Die Si­tua­ti­on mu­tet ver­zwei­felt an. Das En­de des Bu­ches soll hier nicht ver­ra­ten wer­den.

Jäck­les Fi­gur er­in­nert zu­nächst nicht nur hin­sicht­lich des Na­men­gleich­klangs an Jo­sef Bloch aus Pe­ter Hand­kes »Die Angst des Tor­manns beim Elf­me­ter«. Auch Bloch er­würgt nach dem Akt schein­bar grund­los sei­ne Be­kannt­schaft und ist durch­aus ge­le­gent­lich zu selbst-re­fle­xi­vem Ver­hal­ten in der La­ge. Hand­ke be­kann­te sei­ner­zeit durch die Lek­tü­re des Bu­ches »Die be­gin­nen­de Schi­zo­phre­nie – Ver­such ei­ner Ge­stalt­ana­ly­se des Wahns« von Klaus Con­rad in­spi­riert wor­den zu sein. Es war sein »Buch des Jah­res« 1968 (es er­schien tat­säch­lich erst­mals 1958; Con­rad starb be­reits 1961). In der Psych­ia­trie ist Con­rads Buch längst zum Klas­si­ker avan­ciert. Hand­kes The­se war, dass wo­mög­lich erst ein schi­zo­phre­ner Schock ei­ne »ra­di­ka­le Be­wußt­seins­än­de­rung« beim Men­schen her­vor­ru­fen könn­te.

Den­noch do­mi­nie­ren die Un­ter­schie­de zwi­schen bei­den Ro­ma­nen. Jäck­le taucht in die Gren­zen der Welt sei­ner Fi­gur di­rekt ein. Da­bei wä­re mü­ßig fest­zu­stel­len, ob die Krank­heits­bil­der bei­der Prot­ago­ni­sten über­haupt dia­gno­stisch ver­gleich­bar sind. Das Buch ent­wickelt ei­ne la­ten­te Span­nung, weil die Au­torin von ih­rer streng re­duk­tio­ni­sti­schen Er­zähl­tech­nik (wie bei­spiels­wei­se in den Bü­chern »Noll« oder »Nai«) et­was ab­weicht und eher el­lip­tisch er­zäh­lend auch vor ei­ner ge­wis­sen Ko­mik nicht Halt macht. Et­wa wenn Schoch kon­sta­tiert, die Welt sei vol­ler Idio­tie, wes­halb al­so nicht mit­ma­chen. Ver­dich­tung und Zau­ber ent­ste­hen aus der Am­bi­va­lenz der Fi­gur, die sich zeit­wei­lig zur Rea­li­tät öff­net, et­wa wenn sie ins Er­zäh­len über ih­re Kind­heit kommt dann je­doch im­mer wie­der in die Schein­welt zu­rück­fällt. Dass Ni­na Jäck­le da­mit auf künst­lich auf­ge­setz­te »Thriller«-Elemente zu Gun­sten der Er­zäh­lung (und letzt­lich dem »Wohl« der Haupt­fi­gur) ver­zich­tet, kann ihr nicht hoch ge­nug an­ge­rech­net wer­den. Sie wi­der­steht auch der Ver­su­chung ins Skur­ri­le ab­zu­drif­ten oder bei­spiel­wei­se über die Be­stra­fungs­sze­nen se­xu­el­le Kon­no­ta­tio­nen mög­lich zu ma­chen. Gän­gi­ge Deu­tungs­mu­ster funk­tio­nie­ren hier nicht. In sei­ner sehn­suchts­vol­len Welt­ab­ge­wandt­heit ist Schoch zu­wei­len fast er­schreckend »nor­mal«. »Ziel­in­ski« ist kei­nes­falls so harm­los, wie es zu­nächst scheint. Es ist ein Buch für Freun­de des sanf­ten, des nach­hal­ti­gen Schau­derns.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.


Zwei Vi­deo­ani­ma­tio­nen zum Buch: Hier als ei­ne Art Le­sung und hier mit der Au­torin.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Was mir als ei­ne Fra­ge ein­fie­le, die ich hier mal un­kom­men­tiert auf­wer­fen möch­te:

    Kann ein Au­tor über­haupt Wahn­sinn in sei­nem kom­plet­ten Spek­trum der Aus­wir­kun­gen von ei­nem Au­tor the­ma­ti­siert wer­den, so lan­ge die­ser kei­nen Ein­blick in fo­ren­si­sche oder psy­cha­tri­sche An­la­gen er­hal­ten hat? Aus Wil­helm Dil­theys Be­grün­dung der Gei­stes­wis­sen­schaf­ten kann man ab­lei­ten, dass Ähn­li­ches nur von Ähn­li­chem er­kannt wer­den kann. Gilt das auch ex­em­pla­risch für die Li­te­ra­tur oder den Film?

  2. Gu­te Fra­ge, die sich ja nicht nur in die­sem Zu­sam­men­hang stellt, son­dern ge­ne­rell die Fra­ge nach dem Er­fah­rungs­ho­ri­zont des Au­tors stellt. Al­so kann ein Schrift­stel­ler bspw. den Bü­ro­all­tag dar­stel­len, oh­ne sel­ber in ei­nem Bü­ro ge­ar­bei­tet zu ha­ben?

    Hand­ke hat­te da­mals Con­rads Buch ge­le­sen und sich ei­nen ge­wis­sen Über­blick über pa­tho­lo­gi­sche Schi­zo­phre­nie ver­schafft. Bei Frau Jäck­le weiß ich das nicht. Ich ste­he auf dem Stand­punkt, dass die Au­then­ti­zi­tät ei­nes li­te­ra­ri­schen Tex­tes nicht un­be­dingt von der Er­fah­rungs­welt des Au­tors ab­hängt. Es ist in­zwi­schen fast Mo­de ge­wor­den, Kom­pe­ten­zen für die be­schrie­be­ne oder er­zähl­te Sze­ne au­ßer­halb des li­te­ra­ri­schen Tex­tes »nach­zu­lie­fern«, um eben ei­nen Gott der Li­te­ra­tur­kri­tik, die Au­then­ti­zi­tät, zu be­frie­di­gen. Fast scheint es so, dass der Au­tor im­mer mehr zur Bei­brin­gung von For­mal­qua­li­fi­ka­tio­nen ge­nö­tigt wird, da­mit man ihm »glaubt«.

    Aber ein Au­tor kann zu­hö­ren; sich von an­de­ren er­zäh­len las­sen. Er kann Em­pa­thie ent­wickeln. Er kann Be­triebs­blind­hei­ten er­ken­nen. Er ist ein so­zia­les We­sen, lebt in In­ter­ak­tio­nen mit an­de­ren Men­schen. Ich will nicht auf die­sem dum­men Bei­spiel von Karl May rum­rei­ten, der nie die Län­der ge­se­hen hat, über die er schrieb. Er­fah­rung ist wich­tig. Aber wo sie do­mi­niert, wo es sich um ei­nen »coo­len« De­cou­vrie­rungs­text han­deln wür­de – da wä­re es doch fast schon kei­ne Li­te­ra­tur mehr, son­dern ma­xi­mal ei­ne Re­por­ta­ge. Li­te­ra­tur ver­wan­delt im­mer auch ein biß­chen die Rea­li­tät. Sich auf sie nur zu be­ru­fen, ist zu­meist schlech­te Li­te­ra­tur.

    Ähn­li­ches wird ja auch im­mer vom Kri­ti­ker be­haup­tet: Der soll erst ein­mal sel­ber ein Buch, ei­nen Ro­man, ein Thea­ter­stück schrei­ben. Als wenn es dar­auf an­kä­me. Ich ant­wor­te dar­auf meist mit Les­sing: Ich muß nicht Koch sein, um fest­zu­stel­len, ob ei­ne Sup­pe ver­sal­zen ist.