In »Odessa Transfer« begibt man sich in dreizehn Etappen auf eine Reise rund um das Schwarze Meer, wobei, wie Katharina Raabe als Mitherausgeberin dieses Buches im Vorwort feststellt, viele Beiträge härter und politischer ausgefallen seien, als man dies erwartet hatte. Und der Leser schnauft mitunter über diesen tatsächlich verbissenen politischen Impetus, der einige dieser Erzählungen, Essays und Reportagen (es gibt auch ein Gedicht – und was für eines!) bestimmt und muss dabei wohl konstatieren, dass diese Region vorerst leider keine Postkartenidylle ist, in der zwanzig Jahre nach Aufhebung der bipolaren Welt per Knopfdruck paradiesische Zustände eingetreten sind.
Es beginnt mit Aka Morchiladzes wunderbarer Ortserzählung über die georgisch-türkische Grenzstadt Batumi, welche den Schatz der Ewigkeit besitzt und immer auch nach Flucht riecht und dem Autor gelingt es auf diesen noch nicht einmal zwanzig Seiten fast die ganze Geschichte vom 15. Jahrhundert über Stalin bis in die Gegenwart dieses Ortes zu evozieren und auf die Frage, was wohl das Schönste an Batumi sei, gibt es diese kleine Eloge (und für einen Moment möchte man sofort dort hin):
Gehen Sie im Hochsommer frühmorgens vom äußersten Süden aus die Küste entlang. Zu dieser zeit kehren am Rande der Stadt die Fischer in ihren Booten ans Ufer zurück, und in den Netzen zappeln und glitzern die silbernen Fische. Noch weiß man nicht, ob die Sonne durchkommt oder ob es regnen wird. Beides kann sogar gleichzeitig geschehen. Das Meer ist ruhig: Weit draußen im Norden schaukelt ein Schiff, dessen Größe und Herkunft nicht auszumachen sind. Unmerklich nähert man sich der Stadt, ohne genau zu erkennen, wo sie beginnt. Zu dieser Zeit ist ringsum alles, wie es ursprünglich war. Die Häuser, die Palmen und die langen Bänke am Strand sind wie hingetupft – als ob es sie gar nicht gäbe. Die sanfte Stimme des Meeres, das dumpfe Geschrei der Möwen – das einzige vernehmbare Geräusch.
Und direkt danach, wider die Geschichtsvergessenheit dieses Ortes: Jenseits davon existiert ein ganzes Universum der Flucht, der Rettung, der Veränderung und ein unendliches, unentdecktes Territorium – natürlich nur, wenn man sich in dieses Meer hineinwagt. Diese letzten Worte der Erzählung von Morchiladze können fast programmatisch für dieses Buch genommen werden.
Von Batumi geht es im Uhrzeigersinn (Raabe) mit Emine Sevgi Özdemar an die türkische Schwarzmeerküste (ein expressionistisch-politischer Text). Danach folgt Andrzej Stasiuks mitreißende Roadmovie-Erzählung in der er von Serbien über Bulgarien (es gibt im bulgarischen Hotelfernsehen, so stellt der Autor fest, nur Pornos oder Eurosport; bei letzterem schläft er dann ein) bis nach Istanbul fährt und dem Leser diesen Raum zum Reisen in schönen Bildern mit belebenden Abschweifungen nahebringt. Man erfährt so nebenbei, warum Stasiuk für die EU-Mitgliedschaft Serbiens plädiert (damit es an den Grenzen keine bürokratisch-aufreibenden Kontrollen mehr gibt, die den ungehinderten Verkehr und vor allem die schnelle Autofahrt aufhalten) und wie verblüfft er schließlich ist, als er auf türkischem Gebiet fahrend so rein gar nichts entdeckt, was seinem Bild vom Orient entspricht und sich eher an eine deutsche Autobahn oder den amerikanischen Maisstaat Iowa erinnert fühlt. Und vorher der Grenzbeamte an der bulgarisch-türkischen Grenze mit seinem elegant gestutzte[n] Schnurrbärtchen, der im Häuschen mit dem großen Portrait von Atatürk mit Feierlichkeit und Gesetztheit, ja sogar Würde die violette Marke des Staates in den Paß klebte und fast euphorisch wird bemerkt: Das Land gefiel mir von Anfang an.
Supermächte der Mythologie, Ovid und der Mantel der Mutter
Danach übernimmt Sibylle Lewitscharoff verspielt-assoziativ (von Ferne Thomas Pynchon anhimmelnd), wobei die ansonsten so gerne vorgetragene Bulgarien-Haßliebe der Autorin diesmal weitgehend ausbleibt. Diesen Part übernahm vorher bereits Stasiuk mit dem Vergleich Bulgariens mit Bangladesh (auch wenn es nur um die Qualität des Asphalts der bulgarischen Straßen ging). Takis Theodoroupoulos’ wunderbar ironischer, aber niemals despektierlicher Aufsatz über die Supermächte der Mythologie ist dann einer der Höhepunkte dieses Buches. Wir erfahren so einiges über den bedauernswerten Mann Odysseus, der tatsächlich gar kein richtiger Seefahrer war und dessen Antipode Jason, diesem zum ruhelosen Herumirren Verurteilten. Wir lernen, dass die Griechen ihre Kolonien nicht als Eroberer führten, lesen einiges über Medea (die im Gegensatz zu Maria Callas in Pasolinis Film in Wirklichkeit blond gewesen sein soll) und der Bogen zum Schwarzen Meer wird mit dem Zug der Argonauten und die imaginäre Eroberung des Gastlichen Meeres geschlagen.
Mircea Cărtărescu zieht es von Kindheit an immer wieder in die Verbannungsstadt Ovids (Tomis bzw. Constanţa), der hier die Sprache des Unglücks erfunden hatte. 1995 war das Meer merkwürdig alt geworden und in einer Vision schmilzt das Bronze-Denkmal Ovids dahin. Ein schönes Bild wie trotz (oder wegen?) der touristischen Aufbereitung für den seinerzeit von Rom Vergessenen und von den Barbaren beweinten irgendwann wieder zum Vergessen führen kann und die Vergeblichkeit all dieses Treibens wird am Ende auf die Spitze getrieben, wenn der Hitzetod des endlosen Universums in ein paar Milliarden Jahren »droht«.
Auch Attila Bartis kommt immer wieder nach Constanţa, seinem Sehnsuchtsort der Kindheit. Sein Beitrag ist eminent politisch und beschäftigt sich mit dem Ceauşescu-Regime Rumäniens (der Name des Diktators fällt nie; diese Ehre wird nicht gewährt). Als Angehöriger der ungarischen Minderheit machte der Ich-Erzähler, der mit Bartis identisch ist (eine Verfremdung wird erst gar nicht versucht), von Kind an Bekanntschaft mit Argwohn, Pression und Verfolgung und stellt resigniert fest, dass das »neue« Rumänien zu häufig auf den alten Strukturen (Personen) aufbaut. Da mag man den manchmal arg moralisierenden Gestus nachsehen und Bartis erkennt selber, dass es eigentlich seine Aufgabe wäre…über die Zukunft des Schwarzen Meeres zu schreiben, aber die Zukunft ist hier so eng mit der Vergangenheit verknüpft, dass das Vergegenwärtigen der Vergangenheit zur Zukunft zu gehören scheint. (Ist das wirklich so?)
Und so auch die Reminiszenz an die Mutter am Ende der Erzählung, ein Moment des Glücks, zu sehen auf einem Foto von ihr, aufgenommen vor genau fünfzig Jahren, jemand hat mit Tintenstift das Datum auf die Rückseite geschrieben […] Constanţa, 1958. Ich rechne nach, sie war damals einunddreißig Jahre alt. Also war sie von ihrem ersten Mann schon geschieden. Also kannte sie meinen Vater noch nicht, denn mein Vater saß zu der Zeit im Gefängnis. Wieder und wieder rechne ich nach: genau fünf Jahre zuvor war ihre Tochter gestorben. […] Eigentlich erkenne ich sie nur an ihrem Mantel. Auch zwanzig Jahre später noch war das ihr Herbstmantel. Irgendwann gegen Ende der siebziger Jahre verschwand dieser Popelinmantel von den Herbstfotos. Fast ein ganzes Leben lang hatte sie ihn besessen. Mit wehendem Haar, einen langen Schal um den Hals, steht sie am Ufer des Meeres. Ihren Mantel knöpft sie nicht zu, hält ihn nicht zusammen, läßt einfach geschehen. Öffnet sich jemandem. Schön und frei ist sie. Fremd. Weder in Vergangenheit noch in die Zukunft schaut sie, nur jemandem in die Augen. Sie ist glücklich. Weit im Hintergrund ist ein Leuchtturm. Von Vásárhely aus ist dieser Leuchtturm, zumindest in Kilometern gemessen, der fernste Punkt, an den sie in ihrem Leben je gelangt ist.
Bluejeans, Tee und Einheitskindheit
Katja Lange-Müller erzählt eine deutsch-rumänische, ein bisschen verschrobene Liebesgeschichte bevor Nicoleta Esinencu mit ihrem fulminanten Gedicht »Odessa Transfer« (der ja auch Titel des Buches ist) ansetzt. Hier erscheint dieses Schwarzmeer-Vielvölkergemisch in seiner ganzen Vielfältigkeit, Schönheit und gleichzeitig Verzweiflung. Viel mehr als manche politische Reportage entsteht hier ein historisch-kultureller Abriß der letzten dreißig, vierzig Jahre und das auf leichte, aber keineswegs seichte Art. Da ist Perestroika irgend so ein neues amerikanisches wort // das mein bruder aus odessa mitgebracht hat und Jeans werden zu Statussymbolen (wobei: echte jeans müssen abgenutzt sein). Da wird die Geschichte Bessarabiens erzählt und das jetzige Leben zwischen Moldawien, Rumänien und der Ukraine gespiegelt, welches sich außer der zum Teil abenteuerlichen Hin- und Herreiserei über Staatengrenzen hinweg (hinreißend das Schildern des Textilschmuggels im Übereinanderanziehen von Hosen, Pullovern und Jacken) kaum von der früheren Zeit unterscheidet. Und die Menschen seufzen o gott daß wir ausgerechnet im ärmsten land // von europa geboren werden mussten. Aber in constanţa ist das meer grün, Guirguileşti ist eine Stadt am Meer (!), bluejeans sind so was banales geworden und das schwarze meer hat die farbe des waffenhandels und drogenhandels // in transnistrien.
Man wandert mit Karl-Markus Gauß durch Odessa (für ihn eine Art Triest des Ostens) und entdeckt mit dem neuen Shooting Star der osteuropäischen Literaturszene, dem Ukrainer Serhij Zadan, »Postsowjetische Paradiese«, in dem man einer jugendlichen Diebesbande bei der »Arbeit« zuschaut und am Ende einer der Diebe in den erotischen Bann einer deutlich älteren Generalswitwe gerät. Daneben pflanzen ein paar Moldawier wilden Hanf an und in Jalta wird in einem Betonmischer in einem seltsamen alchemistischen Unternehmen bis zu einer Tonne Normalkaffee hergestellt, wobei es von Vorteil war, dass die Alchemisten Vegetarier waren und sich nur bombenstarken Tee brauten. Hier werden sowohl die Erinnerungen an die Sowjetzeit als auch das neue, verwirrende Leben in der Gegenwart mit einem heiter-magischen Realismus erzählt, wie es ihn vielleicht im Moment nur aus Osteuropa gibt.
Getragen und ernst wird es als man mit Katja Petrowskaja das Kinderlager Orljonok besucht (dieser weltgrößte[n] Enklave für die glückliche Kindheit) und von der Autorin äußerst suggestiv die Parallele zwischen sowjetischer Umerziehungsanstalt und nationalistischem Indoktrination à la Putin nahegelegt bekommt. Damals wie heute eine Einheitskindheit mit dem Ziel einer manipulierbaren Gesellschaft und man bezweifelt gar nichts an diesem Bericht, findet es auch ganz schlimm, wenn auf einer Wanderung noch »Aufgaben« zu lösen sind, wird aber durch diesen besserwisserischen Duktus skeptischer als nötig und möchte die Autorin einmal nach Deutschland einladen um ihr zu zeigen, wie viel feiner aber in der Wirkung ähnlich hier die Jugend konditioniert wird, aber da erfährt man aus der Kurzbiographie am Ende des Buches, dass sie seit 1999 in Berlin lebt und für die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und die Deutsche Welle arbeitet.
Abchasien
Den Abschluss des Buches bildet ein überaus interessanter Essay des britischen Journalisten und Osteuropakenners Neal Ascherson, der tatsächlich für eine politische und diplomatische Anerkennung Abchasiens plädiert. Im Gegensatz zu Süd-Ossetien (wie Abchasien einer von Georgien abtrünnigen Provinz), die sich durch die einseitige Autonomie mit dem russischen Nord-Ossetien vereinigen und in Russland aufgehen will, attestiert Ascherson Abchasien die Chance durch eine politische Selbständigkeit aus dem Einflussbereich Russlands heraustreten zu können. Er hält Abchasien für einen vertrauenswürdige[n] und ökonomisch lebensfähige[n] Ministaat, der im Moment in Georgien schlechter aufgehoben sei als weiland in der UdSSR, als Abchasien offiziell als autonomes Gebiet geführt wurde. Die ökonomische Frage streift Ascherson mit der Bemerkung, Abchasien liege dort, wo die Küste des Schwarzen Meeres am Schönsten sei und setzt damit also auf den Tourismus.
Abchasiens allgemeine politische Anerkennung würde nicht nur die Loslösung von Georgien bedeuten, sondern könnte auch die Vormachtstellung Russlands eindämmen. Russlands Hilfe würde von den Abchasen (Ascherson zeigt, dass diese Zuordnung nicht ethnisch verstanden werden kann) ebenso argwöhnisch betrachtet, aber man nimmt sie mangels Alternative an, so die These. Gleichzeitig wird über die Knebelung der georgischen Regierung an USA und NATO referiert. Der Westen würde mit seiner Unterstützung der unrealistischen georgischen Gebietsansprüche sicherstellen, dass Georgien ihr ohnmächtiger Klient bleiben würde und Tbilissi noch stärker auf militärische, wirtschaftliche und diplomatische Patronage Washingtons angewiesen sei.
Ascherson sieht eine Parallele zum sehr langen Beharren der deutschen Nachkriegsregierungen auf die Grenzen von 1937. Erst mit der Regierung Brandt/Scheel wurde in den 70er Jahren die sogenannte Oder-Neiße-Grenze anerkannt und die Bundesrepublik aus der Falle herausgeführt. Nicht zu Unrecht sieht Ascherson erst in der Anerkennung dieser neuen Nachkriegsordnung (die dann freilich 1990 innerhalb des sogenannten »Zwei-plus-Vier«-Vertrag noch einmal von der dann souverän werdenden Bundesrepublik bestätigt werden musste) die formale Möglichkeit zur späteren Wiedervereinigung (die Frage war tatsächlich 1990 kaum noch Diskussionsthema in der deutschen Politik; allenfalls einige Ewiggestrige artikulierten Vorbehalte).
Wann werden wir den georgischen Willy Brandt erleben? wird durchaus pikant gefragt. Der pointierte Essay beleuchtet leider nicht die oppositionellen Gruppen in Georgien, die sich durch ihre vorherigen Regierungszeiten ebenfalls diskreditiert haben. Und er berücksichtigt nicht die Signalwirkung im Kaukasus, die eine Anerkennung eines Staates Abchasien nach sich ziehen würde. Nicht zuletzt durch ein Vorpreschen des Anerkennens von Slowenien und Kroatien durch die Bundesrepublik Deutschland und der EU wurden seinerzeit die Kriege in Ex-Jugoslawien gerade nicht unterbunden, sondern erst entfacht.
Wo ist der Geist des Anfangens?
Ach ja, und da gibt es ja noch die Bilder von Andrzej Kramarz, die klug zwischen die jeweiligen Beiträge eingefügt wurden. Eine Mischung von altsozialistischer Tristesse, merkwürdig kraftstrotzender Gegenwart und Augenblickglückseligkeit zeigt sich dem Leser dort. Und dieser ist nach der Lektüre hin- und hergerissen zwischen Faszination und Bangigkeit und das Wort von Katharina Raabe vom Anfang scheint mehr Bedrohung als Zustandsbeschreibung: Jede nur denkbare Zukunft scheint am Schwarzen Meer schon Vergangenheit zu sein. Die Möglichkeiten friedlichen Zusammenlebens extrem unterschiedlich geprägter Menschen, die Religion, Sprache und Traditionen trennt; die Möglichkeit mörderischen Hasses, der zu Flucht, Vertreibung und Auslöschung führt – alles wurde schon einmal ausprobiert.
Und man fragt sich wie bei all diesem Traditions‑, Erinnerungs- und Geschichtsgeröll, der auch in fast all den Beiträgen im Buch hinauf- und heruntergewälzt wird, so etwas wie ein Neubeginn möglich sein soll. Wo ist denn dieses »regenerative Genie« der Menschen, von dem Peter Sloterdijk in seinen Poetikvorlesungen sprach? Jenes Genie, welches statt »vor die tödlichen Kapitel der Geschichte zurückzublättern« und die »heillosen Überlieferungen« zu repetieren »mit der Stiftung neuer Lebensformen aus dem Geist des Anfangens« antwortet. Dieser »Geist des Anfangens« könnte, ja müsste von den Dichtern aufgegriffen werden. Von zwar von denen, die eben nicht nur zurückblättern. In diesem Sinne gibt es ein paar Anfänge in »Odessa Transfer«. Aber ob sie gehört werden? (Und wieder braucht man die Hoffnung.)
»Der wilde Osten«
Lang schon stört mich der hiesigerseits immer noch eher einseitige Blick nach Westen. Und öfter schon dachte ich: Ich würde gern jede einzelne meiner USA-Erfahrungen gegen eine aus Osteuropa tauschen.
Etwas von Stasiuks Geist – ein etwas aufmüpfiger, die Fehler in beiden hergebrachten Systemen kennender, in jedem Falle eigenständiger und dabei doch kosmopolitischerer Geist als bei vielen reiseerfahrenen Jüngeren „im Westen“ – schätze ich seit Längerem bei Schriftstellern aus dem aus unserer Sicht oft so folkloristisch abgetanen „wilden“ Osten.
Und ebenso seit Längerem habe ich die Bilder aus dem Film Carpatia im Kopf – ein ganz anderer, aber ebenso eigenständiger Raum im Osten, einer weiterer von denen, die hier zugleich so vorstellungsüberladene und dabei doch so ungeläufig sind. (Ist natürlich hier nur eine subjektive Verbindung, aber ich fühlte mich während des Lebens ein paar Mal daran erinnert.)
An den Geist das Anfangens glaube ich aktuell nicht so recht, trotz des neuen Jahres – aber das ist vielleicht etwas, das sich in der Erfahrung dann dort revidieren ließe. Sehr wohl aber daran, dass die eigentlich regenerative Wirkkraft aus der Vielfalt solcher schlicht geographischer Kräfte kommen kann. (Ein bisschen davon steckte ja vielleicht auch in dem „Horizont Jugoslawien“ im Sinne Handkes [trotz der Serben]: alle könnten ein bisschen freier sein, gäbe es einfach mehr Verschiedenheit und damit Befruchtung mit dem jeweils Besseren und mehr gegenseitig neutralisierte Dominanzen.)
Dass sich das träge, teils längst in den ökonomischen Fängen seiner Vereinheitlichung siech gewordene Europa womöglich aus einem solch entlegenen Raum inspirieren oder erneuern ließe, das wäre ein schöner Gedanke. Das Buch jedenfalls hätte ich vielleicht übersehen und würde es nun gerne lesen!
Natürlich habe ich mehrmals bei der Lektüre an Handke und »sein« Jugoslawien gedacht. Der »Geist des Anfangens« war hier – einmal als These gesetzt – die »heilvolle« Überlieferung des gemeinsamen Zerschlagens der NS-Besatzung, welches von uns an die »unheilvollen« Überlieferungen fernerer Zeit überlagern, wenn nicht auslöschen sollte. Handke betont diese Gemeinsamkeit sehr häufig – und musste dann feststellen, dass sie nicht hält.
Dass, was man dann bei den Serben »Nationalismus« nannte und bei den Slowenen, Kroaten, Bosniern, Mazedoniern, Monenegrinern und zuletzt Kosovaren dann »Freiheitskampf« schürt diese unheilvollen Erzählungen nicht nur, sondern erweckt sie wieder zum Leben. Wenn man dann Abchasien anerkennen möchte ist das ungefähr so, als würde man das Feuer mit Öl löschen wollen.
Inzwischen versucht die Politik in supranationalen, nicht mehr emphathiefähigen Gebilden den Nationalismus zu Gunsten eines Regionalismus auszutreiben, der sich dann tatsächlich mehr oder weniger zur regionalen Folklore entwickelt bzw. sich zu entwickeln droht.
Einige Beiträge waren mir schon ihrer Moralität zu sehr auf den »Westen« und dessen Vorstellungen ausgerichtet, aber lesenswert ist das allemal.
Aus dem Flachland
Immer wenn ich einem Freund gegenüber mit meiner Begeisterung für Vielfalt komme, will er das als relativierendes Element der Postmoderne abtun (und sieht nicht, dass er sich da seinerseits an einem Frontverlauf bewegt, es aber nicht „rüber“ schafft).
Den Gedanken in einer solchen Idee mit dem gemeinsamen „Heil“ sehe ich schon – empfinde ihn aber (kann sein wg. meines „Deutschtums“, dem das Unselige der neueren Vergangenheit ja geradezu zum Kollektiv-Konstituierenden wurde, das nun längst auch ein bisschen klappert) mittlerweile etwas „zu spät“. Jedenfalls weiß ich von ein paar jüngeren Bekannten aus „dem Osten“ (Polen resp. Russland resp. Kroatien), dass diese die Überwindung ihres Systems eben zu wenig durch deutsch-gründliche „Aufarbeitung“ überwunden sehen, als durch ein „vorwärts und vergessen“ (und auch viel Verdrängen). Mir ist darüber klar geworden, dass die so einen heilenden wie unseren seinerzeit ausgleichenden „rheinischen“ Kapitalismus ja so nie kennen gelernt haben und es auch nicht werden. (Etwa im Sinne Jochen Schimmangs.) Da gibt’s zwar Produktivität, aber kollektiv eher die alte Ungleichheit. Und das alles zusammen, Historienreste bis in die Kontinuität der Personen (Rumänien) und wirtschaftlichen Rückfall in fast vormoderne Zeit (Ukraine) produziert eher wieder Ungleichzeitigkeit.
Könnte man die dann (Stasiuk sieht es manchmal so) als die „Vielfalt“ auf einem zeitlichen Vektor begreifen? Oder kann man fehlende Kontinuität mit einem größeren Gewicht an (von mir aus etwa „mythischer) Vergangenheit ausgleichen? Sprünge macht die Geschichte ja aber auch eher nicht.
Über die politische Dimension der neuen Nationalismen traue ich mich nicht recht zu urteilen, ist das als Wechselbald einer „Selbstfindung“ der ja tatsächlich auch „neuen“ Länder vielleicht doch legitim. (Ich denke etwa an Slowenien; allerdings ist das auch zu klein für – etwa die kroatischen oder serbischen – Großmannstöne.)
Ich glaube, Handke hat eher Recht mit seiner Notwendigkeit einer „poetischen“ oder vielleicht tiefen-erzählerischen Ader in den Geschichten [Geschichtsgebungen] der Völker, einer gemeinsamen großen Erzählung (wiederum postmodern im Sinne Lyotards?). Und die scheinen uns im Umbrüche-zerklüfteten Osten also „tiefer“ als bei Flachland-Westlern.
Oder werden sie da nicht bald ebenso aussterben wie „bei uns“? Wenn demnächst der ganze Balkan europäisch ist, könnte das eine gute Schlagseite für das Gesamtgebilde bringen. Aber werden wir uns vom fremden Heil noch mal so anstecken lassen wie mit unserem simpel-amerikanischen, das ja auch erlöserische Züge hatte? Oder geht es uns eher um die Projektion des Rest-Utopischen solch vorzugsweise unerreichbar zu denkenden Orte? Um so nötiger wäre es dann vielleicht, sie à la Handke zu „träumen“. Doch ich fürchte, die Leute wollen Flachbildschirme.
Tja, die große gemeinsame Erzählung – ein schönes Ideal. Aber der band zeigt einmal wieder deutlich, wieviele unterschiedliche Erzählungen und Interpretationen auf eher kleinem Raum immer noch existieren und eben jene »unheilvollen« (Sloterdijk) Sub-Erzählungen konstutuieren. Handkes »gemeinsame« Erzählung im Fall von Jugoslawien war tatsächlich der Widerstand, der dann aus vermutlich eher profanen Gründen nicht genug Klebstoff beinhaltete.
Der Nationalismus von Slowenien, Kroatien, Bosnien usw. hat ja merkwürdigerweise eben genau das Ziel, sich in der Bedienungsanleitung für Flachbildschirme eine eigene Rubrik (mit entsprechendem Autokennzeichen vorab) zu sichern. Danach geht man dann unter das Dach EU und/oder NATO, weil das Brennholzsammeln zusammen einfacher scheint (und man sofort mitreden darf, wie das Gesammelte verteilt wird).
Aber wo und wie soll in einer EU eine gemeinsame Erzählung entstehen? Und erfahren wir nicht gerade in Deutschland das diese großen Erzählungen immer nur Rekurse auf jene unheilvollen Zeiten sind? Wir diskutieren um Ereignisse, deren »Aufarbeitung« nach 65 Jahren derart komplex institutionalisiert werden müssen – nur: warum noch einmal? Eine Frau Steinbach, die normalerweise Friseurin oder Bäckereifachverkäuferin hätte werden sollen (von mir aus auch eine jene feschen Unternehmensberaterinnen, die mit gestrengem Blick picklige Firmenerben auf die richtige Spur bringen können) stellt einer gewählten Regierung »Forderungen« um ein Ereignis in ihrer Sichtweise darstellen zu können. Das ist für mich genau so absurd wie die Denkmalerei und Feiertagsbewältigungsrhetorik, die sich immer noch durch den (Nachrichten-)Raum zieht.
Als Kompromiß ist dann jemand wie Schimmang und dessen Idealisierung der alten Bundesrepublik. Das sah man, als man mittendrin war, vermutlich deutlich anders (siehe Koeppen). Und Gott bewahre (falls es ihn gibt), dass wir nicht noch irgendwann einmal die Schröder- oder Merkelzeit als die »gute, alte« hervorholen wie ein Greis ein vergilbtes Foto seiner Jugendliebe.
So werden die großen Erzählungen vielleicht längst schon anderswo geschrieben und erscheinen als Hollywood-Schinken oder Fußball-Drama verwandelt. Das ist natürlich DIE grosse Trivialisierung einer Kultur. Aber es würde erklären, warum die Leute Flachbildschirme brauchen.