Alex­an­der Tes­ke: In­si­de Ta­ges­schau

Alexander Teske: inside Tagesschau

Alex­an­der Tes­ke:
in­si­de Ta­ges­schau

Ent­hül­lungs­bü­cher ha­ben meist ei­nen schlech­ten Ruf. Man un­ter­stellt den Au­toren ger­ne per­sön­li­che Mo­ti­ve bis hin zur Ra­che für tat­säch­li­che oder ein­ge­bil­de­te In­tri­gen. Man liebt zwar den Ver­rat, aber we­ni­ger den Ver­rä­ter, nicht zu­letzt, weil der Le­ser da­bei zu­wei­len brüsk mit sei­ner ei­ge­nen Des­il­lu­sio­nie­rung lan­ge ge­pfleg­ter Idea­le kon­fron­tiert wird. Die Be­trof­fe­nen re­agie­ren ent­täuscht bis be­lei­digt, manch­mal, aus pu­rer Ver­zweif­lung, zie­hen sie vor Ge­richt. Auch der NDR, so heißt es, prü­fe der­zeit ge­gen Alex­an­der Tes­kes Buch in­si­de Ta­ges­schau ju­ri­sti­sche Schrit­te. Der­weil ver­kauft sich das Buch gut und je­der möch­te es noch ha­ben, be­vor viel­leicht ei­ni­ge Stel­len ge­schwärzt wer­den müs­sen.

Der Le­ser rät­selt, wel­che Stel­len das sein sol­len. Alex­an­der Tes­ke ist ein Jour­na­list, der sein Hand­werk von der Pi­ke auf ge­lernt hat. Er ar­bei­te­te sechs Jah­re (von 2018 bis En­de 2023) in der Re­dak­ti­on der Ta­ges­schau in Ham­burg als »Pla­nungs­re­dak­teur«. Vor­her war er vier­zehn Jah­ren beim MDR, der ARD-An­stalt, die, wie man im Lau­fe des Bu­ches er­fährt, in Ham­burg aus ver­schie­de­nen Grün­den kei­nen gu­ten Ruf ge­nießt. Was ein Pla­nungs­re­dak­teur macht, wird skiz­ziert. Auch die Hier­ar­chien in­ner­halb die­ses Ge­bil­des Ta­ges­schau bzw. ARD-ak­tu­ell be­kommt man er­klärt. Ver­blüf­fend: Der bzw. die Chef­re­dak­teu­re (Mar­cus Born­heim, Hel­ge Fuhst und Ju­lia­ne Leo­pold) ha­ben zwar for­mal das Sa­gen, aber die wah­ren Herr­scher über die Nach­rich­ten sind die »Chefs vom Dienst« (von mir hier »CvD« ab­ge­kürzt), ein nicht öf­fent­lich agie­ren­der Kreis von rund zehn Re­dak­teu­ren.

Wer ein­mal CvD ist, bleibt dort meist bis zur Pen­sio­nie­rung. Män­ner sind über­re­prä­sen­tiert (2/3 von 10 sind, lie­ber Herr Tes­ke, sechs oder sie­ben?). Al­le CvD sind äl­ter als 45. Sie er­hal­ten 11.434 Eu­ro mo­nat­lich. Die mei­sten von ih­nen ha­ben in ih­rer Lauf­bahn eher sel­ten ei­nen Fern­seh­bei­trag sel­ber ver­fasst und wenn, dann vor sehr lan­ger Zeit. Au­ßer­halb von ARD-ak­tu­ell kennt sie nie­mand. Man wird nie er­fah­ren, wer bei wel­cher Sen­dung CvD war. Tes­ke nennt kei­ne Na­men, ver­wen­det Ab­kür­zun­gen (die ver­mut­lich noch ein­mal ver­frem­det sind). Ei­nen al­ler­dings nennt er, »emp­fiehlt« so­gar des­sen Web­sei­te. (Er ist seit kur­zem pen­sio­niert. Viel­leicht reicht es bald noch für ein ju­ri­stisch ein­wand­frei­es Im­pres­sum.) Dass ei­ne sol­che Per­son jah­re­lang be­stimmt hat, wel­che Nach­rich­ten ge­sen­det wer­den und wel­che nicht, lässt fast tie­fer blicken als al­les an­de­re, was Tes­ke so er­zählt.

Chef­re­dak­teur vs. Chef vom Dienst

Um die CvD schwir­ren ins­ge­samt mehr als 300 »Mit­ar­bei­ten­de« (manch­mal be­nutzt Tes­ke die­se Spra­che). Laut KEF ent­fie­len 2021 55,7 Mil­lio­nen Eu­ro Ge­büh­ren­gel­der auf ARD-ak­tu­ell, dem In­for­ma­ti­ons­kom­plex der ARD, da­von 12 Mil­lio­nen Eu­ro auf den Spar­ten­fern­seh­sen­der tagesschau24, ei­nem Sen­der, des­sen Markt­an­teil je nach Al­ters­grup­pe zwi­schen 0,4% und 0,5% liegt und in­zwi­schen ei­ne Art Hob­by von Hel­ge Fuhst zu sein scheint. Be­mer­kens­wert, dass phoe­nix, der »ge­mein­sa­me Er­eig­nis- und Do­ku­men­ta­ti­ons­ka­nal von ARD und ZDF«, im Buch kei­ne re­le­van­te Rol­le spielt, au­ßer, dass die Re­dak­teu­re aus Ham­burg die tagesschau24-Kol­le­gen ein­mal als »Schnarch­na­sen« ti­tu­lie­ren, weil sie bei ei­nem The­ma als letz­ter »auf­ge­sprun­gen« sind. Die­ses Igno­rie­ren könn­te dar­auf zu­rück­zu­füh­ren sein, dass phoe­nix ARD-sei­tig vom WDR be­treut wird – und da­mit nicht un­ter der Zu­stän­dig­keit von ARD-ak­tu­ell fällt. phoe­nix er­hält nach ei­ge­nen An­ga­ben 37 Mil­lio­nen Eu­ro pro Jahr und hat ei­nen Markt­an­teil um die 0,8%.

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Lud­wig Fels: Ein Sonn­tag mit mir und Bier

Ludwig Fels: Ein Sonntag mit mir und Bier

Lud­wig Fels: Ein Sonn­tag mit mir und Bier

Der Blick nach oben zu ei­nem Lämp­chen, viel­leicht ge­hört es ja zum Brat­wurst­häus­le in Nürn­berg, dem Ort der klei­nen, vier Jah­re nach sei­nem Tod er­schei­nen­den, nach­ge­las­se­nen Er­zäh­lung Ein Sonn­tag mit mir und Bier von Lud­wig Fels. Ein Text, der nach An­ga­be des Ver­lags 2018 ge­schrie­ben wur­de. Ge­ring­fü­gig sei er kor­ri­giert und ver­än­dert wor­den, heißt es. Scha­de, dass man nicht mehr er­fährt. Oder, bes­ser: Scha­de, dass man es über­haupt er­fährt. Das Büch­lein wirkt aus sich selbst. Weg mit dem »Faul­turm« der Kri­tik!

Ein »Selbst­por­trät im Gast­gar­ten« ist der Un­ter­ti­tel. Und tat­säch­lich setz­te sich der Schrift­stel­ler Lud­wig Fels an ei­nem Sonn­tag in die­sen Bier- oder Gast­gar­ten und woll­te dort ei­nen Ro­man schrei­ben, oder min­de­stens ein Ge­dicht oder er ist Haupt­fi­gur in ei­nem Film mit sich zu­gleich als Re­gis­seur oder al­les gleich­zei­tig.

Zwi­schen­zeit­lich hat­te man Lud­wig Fels fast schon für ei­nen öster­rei­chi­schen Schrift­stel­ler ge­hal­ten, aber das war er nicht, ob­wohl er jahr­zehn­te­lang in Wien leb­te. Er war ein »Vran­ge« (hoch­deutsch: Fran­ke) und zwar mehr als ihm lieb war, was sich jetzt in die­ser Hei­mat­be­schwö­rung mit vie­len frän­ki­schen Ein­spreng­seln zeigt. Das Es­sen ist be­stellt, die er­sten Maß Bier wir­ken schnell. Er er­in­nert sich an Bier­gär­ten und de­ren Er­zeug­nis­se in An­tana­na­ri­vo und Pa­pua-Neu­gui­nea, er­trägt mann­haft die Bus­la­dun­gen Tou­ri­sten in Wan­der­tracht, die das Brat­wurst­häus­le auf­su­chen, ima­gi­niert sei­ne (ver­geb­li­che) Su­che nach dem Ye­ti und setzt sich mit ei­nem Mann mit Ak­ten­ta­sche aus­ein­an­der, der ihm er­klärt, dass er 20 Mark Ho­no­rar für ei­nen Vier­zei­ler nicht ord­nungs­ge­mäss ver­steu­ert ha­be.

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Józ­sef De­brec­ze­ni: Kal­tes Kre­ma­to­ri­um

József Debreczeni: Kaltes Krematorium

Józ­sef De­brec­ze­ni: Kal­tes Kre­ma­to­ri­um

Józ­sef De­brec­ze­ni wur­de 1905 als Józ­sef Bru­ner in Bu­da­pest ge­bo­ren. Die jü­di­sche Fa­mi­lie floh 1919 vor an­ti­jü­di­schen Po­gro­men in den un­ga­risch spre­chen­den Teil des da­ma­li­gen Kö­nig­reichs Ju­go­sla­wi­en. Un­ter dem Pseud­onym De­brec­ze­ni ver­fass­te Bru­ner Ar­ti­kel und Kom­men­ta­re, wur­de Re­dak­teur und Her­aus­ge­ber über­re­gio­na­ler un­ga­ri­scher Zei­tun­gen und Ma­ga­zi­ne, schrieb aber auch Ge­dich­te, Ro­ma­ne und Thea­ter­stücke. Die un­ga­ri­schen Ras­se­ge­set­ze des Hor­ty-Re­gimes, ei­nem Ver­bün­de­ten Hit­lers, be­en­de­ten 1938 die Mög­lich­keit der Pu­bli­ka­ti­on. Er zog in die Re­gi­on Bač­ka (Voj­vo­di­na), die al­ler­dings 1941 von Un­garn an­nek­tiert wur­de. De­brec­ze­ni und sei­ne Fa­mi­lie wur­den in das Ar­beits­la­ger Bač­ka To­pola de­por­tiert. Am 1. April 1944 stieg er ei­nen Wag­gon. Ge­rüch­te spra­chen von Ausch­witz als Ziel.

Mit die­sem Trans­port be­ginnt Kal­tes Kre­ma­to­ri­um. Es en­det ir­gend­wann An­fang Mai 1945. Józ­sef De­brec­ze­ni hat über­lebt. Er ist frei. Sein »Be­richt aus dem Land na­mens Ausch­witz« (so der deut­sche Un­ter­ti­tel) er­schien 1950 in Ju­go­sla­wi­en. Von da an dau­er­te es nur et­was mehr als sie­ben Jahr­zehn­te bis es in Eng­li­sche und nun von Ti­mea Tan­kó ins Deut­sche über­setzt wur­de.

Über die Grün­de der Miss­ach­tung des Bu­ches kann nur spe­ku­liert wer­den. Viel­leicht weil es in Un­ga­risch ge­schrie­ben war? Ahn­te De­brec­ze­ni die Re­ser­viert­heit, ja Ab­leh­nung, sich mit die­sen Men­schen­ver­bre­chen zu be­schäf­ti­gen? Dem Be­richt ist ein Ge­dicht vor­an­ge­stellt, dass ei­ner ge­wis­se Ah­nung Aus­druck ver­leiht. Da heißt es un­ter an­de­rem:

»Wo­zu die Jah­res­zei­ten,
Wenn die Fa­schi­sten blei­ben,
Le­ben wie Ma­den im Speck?

Ob mei­ner Mut­ter Mör­der
Noch lebt als bra­ver Bür­ger,
Nach sei­ner Sün­den Beich­te?«

Es en­det fa­ta­li­stisch:

»Ein be­kann­ter Wind weht,
Neue Uni­form trägt
Der Mör­der mei­ner Mut­ter.«

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Zwi­schen Traum und Wirk­lich­keit

New York, Diens­tag, 25. Mai 1982

Bis ca. 12h Schlaf. Traum­aus­tausch mit S. Ich hat­te ein selt­sa­mes Traum­er­leb­nis – ei­ne Re­pa­ra­tur­hal­le, dar­in gro­ße Ma­schi­nen, ganz ver­ro­stet, gro­ße Au­tos, Last­wa­gen, Lo­ko­mo­ti­ven, al­les to­tal ver­ro­stet. Und un­ge­fähr 6 Män­ner, die die Me­cha­ni­ker wa­ren, al­te Män­ner, in ir­gend­wel­chen Staats­uni­for­men, die Re­pa­ra­tur­werk­stät­te of­fen­bar ein Staats­be­trieb. Aber al­le Ma­schi­nen, die man hier­her brach­te, be­kam man erst Mo­na­te spä­ter, oder aber nie­mals wie­der. Und ich soll­te her­aus­fin­den, war­um al­les so lan­ge dau­er­te bzw. ver­kom­men war. Stell­te fest, daß die 6 al­ten Me­cha­ni­ker ei­gent­lich über­haupt nicht ar­bei­te­ten, höch­stens ein­mal ei­ne Lo­ko­mo­ti­ve von ei­nem Werk­stät­ten­en­de zum an­de­ren scho­ben, nur das, nur das Hin- und Her­schie­ben ver­ro­sten­der Ma­schi­nen. Sehr ei­gen­ar­tig das Gan­ze. Die At­mo­sphä­re dort! Und die Män­ner in ih­ren Uni­for­men. Kap­pen wie Bahn­be­am­te. (…) Wir früh­stücken, d.h. die lie­be S. be­rührt vor dem Abend kei­ne Nah­rungs­mit­tel. Nur schwar­zen Kaf­fee. Beim Fort­ge­hen be­mer­ke ich, daß ich mei­nen Schlüs­sel­bund ver­lo­ren ha­be. Ge­stern. Beim Tan­zen? Ru­fe über­all an. Nein, nir­gend­wo ge­fun­den. Bin mü­de – bin schlecht bei­sam­men. Zum Post­amt, schlaf­trun­ken – 14. Stra­ße. Sen­de mein Hör­spiel1 an Jo­chen Scha­le2 und den Fi­scher Ver­lag. Bin froh, es end­lich ab­ge­sandt zu haben…Dann Fahrt zur Ver­mie­te­rin, sie wirkt nicht hoch­er­freut, gibt mir die 4 Schlüs­sel, die ich ko­pie­ren las­se.

Da­nach Sub­way nach Hau­se. Schla­fe. G. will mich se­hen – und S.? Was sa­ge ich S.? Ge­he um 20h30 zur G., brin­ge ihr das Hör­spiel. Din­ner in ei­nem lu­sti­gen fran­zö­si­schen Lo­kal, zu laut, aber sym­pa­thisch. (…) Ta­xi, ein Ber­li­ner Ju­de, ca. 60 Jah­re alt, wir re­den, nach­dem wir G. ab­ge­setzt ha­ben. Er spricht von der Kriegs­ge­fahr auf Er­den. Und daß »die Sa­che« mit Is­ra­el nicht gut ge­hen wer­de. Das Un­recht, das den Pa­lä­sti­nen­sern wi­der­fährt, wer­de sich rä­chen. Sein Stolz auf ei­ne Vi­si­ten­kar­te, die ihm vor we­ni­gen Ta­gen ein Fahr­gast in die Hand drück­te: Fürst von Ester­ha­zy steht dar­auf in schwar­zen Let­tern. Der Fürst lebt in Brook­lyn. / Te­le­pho­nie­re dann noch mit S. Bin ir­gend­wie froh, daß ich al­lein bin – Re­la­tiv frü­her Schlaf.

Mitt­woch, 26. Mai

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  1. Das Hörspiel ›Suchkraft‹, Regie von Heinz von Cramer, wurde am 4. 12. 1983 erstmals im WDR gesendet 

  2. Hans-Jochen Schale, Hörspieldramaturg, 1925 – 2013 

Die­ter Lie­wer­scheidt: Kon­struk­ti­ve
De­kon­struk­tio­nen

Dieter Liewerscheidt: Konstruktive Dekonstruktionen

Die­ter Lie­wer­scheidt:
Kon­struk­ti­ve De­kon­struk­tio­nen

Der Ti­tel klingt zu­nächst et­was kom­pli­ziert: Kon­struk­ti­ve De­kon­struk­tio­nen. Es ist ein de­zen­tes Wort­spiel über die vom Au­tor Die­ter Lie­wer­scheidt eher skep­tisch be­trach­te­ten De­kon­struk­ti­vi­sten. In sieb­zehn »Stu­di­en zur deut­schen Li­te­ra­tur« (die mei­sten da­von in den 2010er Jah­ren ent­stan­den und in di­ver­sen Pu­bli­ka­tio­nen ver­öf­fent­licht) liest der 1946 ge­bo­re­ne Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler mar­kan­te Wer­ke vom 18. bis 20. Jahr­hun­dert noch ein­mal, und zwar »kon­struk­tiv«. Es gilt, »Re­zep­ti­ons­kli­schees« zu durch­bre­chen, ver­gan­ge­ne Les­ar­ten zu be­fra­gen. Im Auf­satz zu Franz Kaf­kas Der Pro­ceß wird das Her­an­ge­hen auch pro­gram­ma­tisch um­ris­sen: »Die Un­ver­meid­lich­keit des Deu­tens, auch des psy­cho­ana­ly­ti­schen, ist ei­ne Kon­se­quenz aus dem Ver­ste­hens­an­spruch, den ei­ne her­me­neu­tisch ge­präg­te Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft wei­ter­hin auf­recht­erhält, wenn sie sich nicht auf Fra­gen der Text­ent­ste­hung, des Stils, der Mo­tiv­erhel­lung, der In­tra- und In­ter­tex­tua­li­tät be­schränkt«. Im Nach­wort schreibt Lie­wer­scheidt, dass sich ein »wirk­li­ches Kunst­werk« erst im Lau­fe sei­ner Re­zep­ti­ons­ge­schich­te als sol­ches her­aus­stel­le. »Je mehr ana­ly­ti­sche Be­mü­hun­gen an ihm ge­schei­tert sind« ist dann ei­nes der Kri­te­ri­en, wel­ches hier­für ins Feld ge­führt wird.

Das Buch lädt ein, all­zu lieb­ge­wor­de­ne Deu­tun­gen, die dem je­wei­li­gen Werk vor­aus­ei­len, ab­zu­le­gen. Da­bei stellt Lie­wer­scheidt in je­der Stu­die zu­nächst die gän­gi­gen Les­ar­ten (und mit­un­ter ih­re »Sai­son«) vor. Hier­für wird auf ein mehr als 150 Sei­ten um­fas­sen­des Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis für aus­gie­bi­ge Stu­di­en von Mo­no­gra­phien und ins­ge­samt 1074 An­mer­kun­gen zur Ver­fü­gung ge­stellt. Schließ­lich be­ginnt das Neu-Le­sen Lie­wer­scheidts, zu­meist als »Durch­gang durch die fik­ti­ve Er­eig­nis-Ober­flä­che« ei­nes Ro­mans, Ge­dichts oder Dra­mas. Der Fo­kus bleibt auf den (die) Prot­ago­ni­sten ge­rich­tet. Ziel ist der theo­rie­ar­me Zu­gang, was häu­fig ge­lingt. Lie­wer­scheidt ver­steht sei­ne Aus­füh­run­gen nicht als ab­so­lu­te und gar ein­zig mög­li­che Ge­gen­po­si­ti­on, son­dern als zu­sätz­li­ches An­ge­bot, mit dem an­de­re Deu­tungs­fä­den ge­ge­be­nen­falls neu ver­spon­nen wer­den kön­nen.

Den voll­stän­di­gen Text »Ver­such der Be­frei­ung« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Wel­ten und Zei­ten XV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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So­wohl als Le­ser wie auch als Schrei­ber glau­be ich bei be­stimm­ten Tex­ten et­was wie Dring­lich­keit zu spü­ren. Selt­sa­mer­wei­se oft bei äl­te­ren Tex­ten, und beim Schrei­ben so­zu­sa­gen: im­mer sel­te­ner. In der ge­gen­wär­ti­gen Li­te­ra­tur fin­de ich sol­che Dring­lich­keit kaum. Auch und ge­ra­de dann, wenn sich Au­toren um mög­lichst ak­tu­el­le The­men be­mü­hen, ent­steht der Ein­druck von Dring­lich­keit nicht, statt des­sen ein an­de­rer, näm­lich daß sie ein selbst auf­er­leg­tes Pro­gramm er­fül­len, ei­ne Pflicht er­le­di­gen. Vie­le wol­len die Be­dro­hung der Um­welt in den Tex­ten »un­ter­brin­gen«. In den Er­zäh­lun­gen wird es im­mer hei­ßer, dort und da bre­chen Brän­de aus, aber die Sät­ze bren­nen nicht un­ter den Nä­geln.

War­um? Li­te­ra­tur – soll ich sa­gen: ech­te Li­te­ra­tur? – ist in­ak­tu­ell, manch­mal so­gar an­ti­ak­tu­ell. Je­ne Dring­lich­keit, die ich mei­ne, ist zum Bei­spiel bei An­nie Er­naux zu spü­ren, die sich, je­den­falls in ih­ren li­te­ra­ri­schen Tex­ten (was sie über Pa­lä­sti­na denkt, hat da­mit we­nig zu tun), nicht um ak­tu­el­le The­men küm­mert. Ernst­haf­tig­keit ist ein ver­wand­ter Be­griff, ei­ne ähn­li­che Hal­tung. Ernst­haft kann hei­ßen: durch den Schlei­er der Spra­che zur Wirk­lich­keit durch­drin­gen wol­len. Dring­lich­keit und Durch­drin­gen. Weil Spra­che, weil un­se­re Er­zäh­lun­gen, un­se­re My­then, die all­ge­mei­nen wie die pri­va­ten, das Ge­sche­he­ne eher ver­decken als ent­hül­len. Au­toren wie Er­naux geht es um das Ent­hül­len: die Spra­che so weit wie mög­lich zu­rück­schrau­ben, in­ter­pre­ta­ti­ons­los schrei­ben, was war. Wahr­schein­lich kann es da im­mer nur An­nä­he­rung zei­gen. Bei Er­naux be­steht das Er­zäh­len im Mit­schrei­ben die­ser An­nä­he­rung.

Ernst­haf­tig­keit ist aber nicht al­les, sie hat ei­nen eh­ren­wer­ten Op­po­nen­ten: die Ver­spielt­heit. »Ver­spielt­heit« klingt ab­wer­tend, ist aber nicht so ge­meint. Spie­le­ri­sche Er­zähl­li­te­ra­tur, und nicht nur sprach­spie­le­ri­sche, son­dern mit Er­zähl­ele­men­ten und Bil­dern spie­len­de, trägt ih­re rai­son d’être in sich, sie ist Selbst­zweck, man muß sie nicht recht­fer­ti­gen. Kunst ist ih­rer Ge­ne­se nach ei­ne Form des Spiels, oh­ne das mensch­li­che Ent­wick­lung nicht mög­lich ist. Wer Künst­ler wird oder bleibt, ist bloß mehr Kind ge­blie­ben als an­de­re Er­wach­se­ne. Die­ses spie­le­ri­sche Mo­ment ent­hal­ten auch zahl­lo­se ernst­haf­te Er­zäh­lun­gen, et­wa die von Pe­ter Ste­phan Jungk, wo­bei ich an den au­to­bio­gra­phisch-sur­rea­len Ro­man Die Rei­se über den Hud­son eben­so den­ke wie an das li­te­ra­risch-eth­no­gra­phi­sche Kunst­werk Markt­ge­flü­ster. In der öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur gibt es ei­ne be­son­ders stark aus­ge­präg­te Nei­gung zum spie­le­ri­schen und ver­spiel­ten Schrei­ben: Ne­stroy, Herz­ma­nov­sky-Or­lan­do, die Wie­ner Grup­pe, Ernst Jandl, Franz­obel, He­le­na Ad­ler – um hier nur an­zu­deu­ten, was und wen ich im Blick ha­be. Auch Frie­de­ri­ke May­röcker. Sur­rea­lis­mus bringt die Ord­nun­gen und Ebe­nen durch­ein­an­der und baut neue Ord­nun­gen auf, die wir nicht im­mer so­fort nach­voll­zie­hen kön­nen oder wol­len. Dann las­sen wir uns vom Cha­os strei­cheln. Das nen­ne ich »Spiel«. »Cha­os­mos«, der von De­leu­ze ge­präg­te, je­doch von Ja­mes Joy­ce ge­klau­te Be­griff ge­fällt mir im­mer noch, ob­wohl der Phi­lo­soph mitt­ler­wei­le recht in­ak­tu­ell ge­wor­den ist. Zeit, ihn wie­der zu le­sen. Cha­os­mos: die Welt im Zu­stand ih­rer Ent­ste­hung.

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Heinz Strunk: Zau­ber­berg 2

Heinz Strunk: Zauberberg 2

Heinz Strunk:
Zau­ber­berg 2

Je­de Zeit kre­iert ih­re Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne, die ent­we­der zu Klas­si­kern wer­den, in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten oder ir­gend­wann mit Em­pha­se vom Klas­si­ker­thron ge­sto­ßen wer­den. Und wenn die zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur wie­der ein­mal droht, in ei­ne Gleich­för­mig­keit zu ver­sin­ken, blü­hen die Re­vi­vals, Va­ria­tio­nen von alt­be­kann­ten, einst be­reits als un­zeit­ge­mäß de­nun­zier­te Ro­ma­ne und de­ren Mo­ti­ve, trans­for­miert in die Ge­gen­wart. Ei­ner der Ro­ma­ne der Zeit scheint Der Zau­ber­berg von Tho­mas Mann zu sein, fast ge­nau vor ein­hun­dert Jah­ren er­schie­nen. Der Pu­bli­zist Jens Nord­alm er­klär­te kürz­lich in ei­nem ful­mi­nan­ten Text, war­um man ge­ra­de heu­te den Zau­ber­berg le­sen muss. In­mit­ten all der Auf­ge­regt­hei­ten ent­decken Li­te­ra­ten plötz­lich den Es­ka­pis­mus als letz­ten Aus­weg. Es ist der Wunsch nach Ab­ge­schie­den­heit von der zu­neh­mend als kom­pli­ziert wahr­ge­nom­me­nen, über­for­dern­den Welt mit der Mög­lich­keit der Über­win­dung von Le­bens- und/oder Lie­bes­kri­sen. Ol­ga Tok­ar­c­zuk ver­la­ger­te 2023 ihr Zau­ber­berg-Set­ting nach Nie­der­schle­si­en, Ti­mon Karl Ka­ley­ta schick­te sei­nen letz­ten Ro­man­hel­den in ein Sa­na­to­ri­um, Mo­ni­ka Zei­ner ließ in Hans-Cas­torp-Ma­nier das schwar­ze Schaf ei­ner In­du­stri­el­len­fa­mi­lie am Ort sei­ner Kind­heit sei­ne Ju­gend­er­in­ne­run­gen auf­fri­schen und Nor­man Oh­ler ver­fass­te ei­nen Kli­ma­wan­del-Ro­man mit Zau­ber­berg-Ele­men­ten (da­mit je­der dar­auf kommt, ist er im Ti­tel schon er­wähnt).

Und jetzt auch noch Heinz Strunk, der vor ei­ni­gen Jah­ren be­reits aus Tho­mas Manns Tod in Ve­ne­dig ei­nen Som­mer in Nien­dorf hä­kel­te. Sein neue­stes Buch heißt Zau­ber­berg 2. Der Held heißt Jo­nas Heid­brink, ist 1986 ge­bo­ren. Er fährt mit 36 Jah­ren und rund 180 kg Ge­päck in ei­ne bis zum Schluss na­men­los blei­ben­de Kli­nik, 4 Stun­den 52 Mi­nu­ten Fahr­zeit ent­fernt in der Nä­he ei­nes Sumpf­ge­biets in Meck­len­burg-Vor­pom­mern (wo­mög­lich in der Nä­he von Bo­tho Strauß’ Wohn­sitz – Strunk ist Strauß-Afi­ci­o­na­do). Heid­brinks Kon­trakt läuft auf drei­ßig Ta­ge, der Auf­ent­halt ist mit 823 Eu­ro am Tag nicht ge­ra­de bil­lig, aber er kann es sich lei­sten, weil sein Start-up wur­de vor ei­ni­ger Zeit auf­ge­kauft wur­de. Zwar be­deu­tet dies nach La­ge der Din­ge, das er aus­ge­sorgt hat, aber die de­pres­si­ven Zu­stän­de, be­reits vor der Start-up-Grün­dung vor­han­den, wäh­rend der Zeit in die­ser Fir­ma je­doch ruh­ten, tra­ten jetzt wie­der her­vor: Schlaf­lo­sig­keit, Lust­lo­sig­keit ge­paart mit Angst- und Pa­nik­zu­stän­den.

Das 25 m²-Zim­mer ist zu­nächst ein biss­chen kalt, an­son­sten obe­rer Stan­dard. Die Mahl­zei­ten (»Deut­sches Soul­food«) wer­den in ei­nem Spei­se­saal ein­ge­nom­men, der Tisch, an dem man sitzt, wird zu­ge­teilt. Es gibt Auf­nah­me­un­ter­su­chun­gen – zu­nächst die psy­cho­lo­gi­sche, dann die me­di­zi­ni­sche. Zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung wer­den ein Nie­ren­tu­mor und ein Me­la­nom fest­ge­stellt. Letz­te­res wird noch am glei­chen Tag der Ent­deckung ent­fernt. Am En­de wird für bei­de Fäl­le Ent­war­nung ge­ge­ben.

Heid­brink fin­det schwer Kon­takt, was auch dar­an liegt, dass er meist al­lei­ne an sei­nem Sech­ser­tisch sitzt und die Mahl­zei­ten ser­viert be­kommt. Der Tag ist mit den Mahl­zei­ten, Un­ter­su­chun­gen und The­ra­pie- und Grup­pen­ter­mi­nen gut struk­tu­riert. Ab und an gibt es ei­nen »Kul­tur­abend«. Ei­ne Spie­le­run­de der »Pa­ti­en­ten« (die be­vor­zug­te Be­zeich­nung der Be­woh­ner) gibt es auch, aber Heid­brink kann kein Dop­pel­kopf spie­len.

Der Ro­man plät­schert. Im­mer­hin: In der Be­schrei­bung der Heid­brink be­geg­nen­den Ärz­te, Kli­nik­an­ge­stell­ten und Pa­ti­en­ten läuft Heinz Strunk zu gro­ßer Form auf. Mal ist je­mand »so ma­ger, dass sie wie ihr ei­ge­nes Rönt­gen­fo­to aus­sieht«, oder, ei­ne an­de­re Teil­neh­me­rin, fällt durch ih­re »spar­gel­i­ge, fried­lich-freund­lich-ve­gan/­ve­ga­ta­ri­sche« Er­schei­nung auf. Uwe aus Dor­ma­gen ist dick und »trief­äu­gig«, sein Kör­per hat »Ähn­lich­keit mit ei­ner Kir­chen­glocke«, Si­mons Stirn »ist von ei­nem Spi­ral­ne­bel ent­zünd­li­cher Pu­steln über­sät«. Weib­li­che Wan­gen ha­ben die Durch­sich­tig­keit in »Su­shi-Qua­li­tät«, ein an­de­res Ge­sicht sieht aus wie ein »Trocken­pilz«, ein »lie­gen­des Fünf­eck« oder es »glänzt wie ei­ne kal­te Brat­kar­tof­fel«. Do­reen hat Trä­nen­säcke »wie ge­schmol­ze­nes Ker­zen­wachs«. Gro­ße Phan­ta­sie braucht man bei der Vor­stel­lung ei­nes Kör­per­ge­ruchs, »als hät­te man Blei­stift­spä­ne de­stil­liert«.

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