Peer Steinbrück hat ein neues Buch geschrieben. Wie pervers dieser Betrieb ist, kann man daran ablesen, dass er erwähnen muss, dass er es selber geschrieben hat. Seine Titelthese ist einfach: Der Wahlerfolg der Unions-Parteien 2013 (41,5%) geht darauf zurück, dass die Wähler das Bedürfnis nach Ruhe und vor allem politischer Kontinuität gewünscht hätten. Steinbrück bestätigt damit weitgehend die Aussage der Auguren, die Merkels Wahlkampfstrategie mit der von Konrad Adenauer 1957 verglichen hatten, der mit seinem Konterfei und »Keine Experimente« die absolute Mehrheit gewonnen hatte. Die Unionsparteien hätten diese Beschwichtigungsstrategie nicht zuletzt mit Hilfe der Medien erfolgreich umgesetzt. Jede Kritik an den Verhältnissen sei als Miesepeterei angesehen worden. Die Tendenz ging und geht, so Steinbrück, zur »konfliktscheuen Politik«.
Deutlich wird er, wenn es darum geht, dass die SPD sich fragen lassen müsse, warum sie die Wähler nicht habe mobilisieren und aufrütteln können. Die SPD unterschätzte das »Selbstbildnis der Republik«, so Steinbrück. Der Wunsch nach Kontinuität resultierte nicht zuletzt aus den reinen ökonomischen Zahlen. Sie sprachen für die amtierende Kanzlerin. Steinbrück sah sich zudem in der Falle, da er seinem Naturell entsprechend einige politische Entscheidungen von schwarz-gelb nicht kritisieren konnte, weil er ihnen eigentlich selber zustimmte. Dazu zählte der Abbau der Staatsneuverschuldung (»Schwarze Null«) genauso wie die diversen Rettungsschirme für notleidende Euro-Länder. Eine Gegenposition hierzu kam für Steinbrück und die SPD in beiden Fällen nicht infrage.
Perfekt hätten es die Unionsparteien verstanden, die Wähler für ihr »Notariat über die bürgerlich-konservative Interessenwahrung« zu mobilisieren. Der Spagat für die Opposition bestand darin, dass man das Land nicht schlechter reden wollte, als es in großen Teilen der Bevölkerung empfunden wurde. Die Parole nicht alles anders, aber einiges besser machen zu wollen, war bereits vergeben. Steinbrück suchte sich Themen. Diese zündeten jedoch nicht, was er uneingeschränkt eingestand.
Von allen Rücksichten befreit
Die meisten Besprechungen über »Vertagte Zukunft« rekapitulieren die Einlassungen Steinbrücks zur Kanzlerkandidatur und der Partei. Das alles sei zu früh, unvorbereitet und dilettantisch gewesen, so erkennt er heute. Was anders gewesen wäre, wenn die Kandidatur drei oder vier Monate später erfolgt wäre, schreibt er nicht. Diese zum Teil mit Süffisanz gewürzten Passagen machen jedoch nur rund ein Drittel des Buches aus. Steinbrück hält es sogar für notwendig, seinen Wunsch nach »Beinfreiheit« zu rechtfertigen. Wie Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung anmerkte, war aber alleine die Tatsache, dass Steinbrück diese erbeten hatte ein Eingeständnis von Schwäche. Umgekehrt hätte man ihm »Basta«-Mentalität vorgeworfen, wenn er sich diese Beinfreiheit einfach genommen hätte. Denn Steinbrück kennt seine SPD genau. Mehrmals appelliert er an seine Partei, die Gründe für die auch für ihn ernüchternde Niederlage 2013 zu suchen, damit es 2017 nicht zu einem ähnlichen Effekt kommt. Die Große Koalition als Dauereinrichtung hält er für fatal; »österreichische Verhältnisse« für nicht erstrebenswert. Ein Bündnis im Bund mit den Linken bezeichnet er allerdings als »Selbstentleibung« der SPD. Dezent weist er im übrigen darauf hin, dass sich die scheinbar linke Mehrheit im Parlament nicht im Wahlergebnis zeigt: Die Mehrheit der Deutschen habe 2013 konservativ bis rechts gewählt: Union, FDP und AfD kamen auf 51%, SPD; Grüne und Linke jedoch nur auf 42,7%.
Was Steinbrück nicht schreibt: Er hatte auf dem Papier alle Chancen. Im Vorfeld waren seine demoskopischen Zahlen auch im Vergleich zur Kanzlerin ausgesprochen gut. Wie die beiden letzten sozialdemokratischen Kanzler ging auch ihm der Ruf voraus, eigentlich in der falschen Partei zu sein. Für etliche Wähler der »Mitte« und vor allem des linkskatholischen Milieus wäre er eine mögliche Alternative gewesen. Das Problem bestand nicht nur in der zum Teil hysterisch geführten Diskussion um seine Vortragshonorare. Es könnte sein, dass die Wähler bei Steinbrück so etwas wie eine mittelfristige programmatische Alternative vermissten. Es hätten ja nicht gleich Visionen sein müssen.
In seinem Buch ist er nun von allen Rücksichtnahmen gegenüber Partei und Journaille befreit. Um dauerhaft aus der 25%-Marke auszubrechen müsse sich die SPD der Zeit anpassen, so Steinbrück. Die historische Aufgabe der Sozialdemokratie sei »weitgehend erfüllt«. Zwar sei die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren immer weiter aufgegangen und dies müsse auch bekämpft werden, aber eigentlich sei Deutschland ein gut funktionierender Sozialstaat. Es gehe nicht mehr darum, Gelder zu verteilen. Ein paar Euro mehr Kindergeld helfe Familien nicht bei der Beschaffung eines Kita-Platzes. Es müsse mehr in die soziale Infrastruktur investiert werden, statt mit marginalen Leistungserhöhungen zu hantieren. Die Aufgabe des Staates soll darin bestehen, soziale Schieflagen im Vorfeld zu erkennen und mit verbesserten Rahmenbedingungen entsprechend zu handeln. Steinbrück plädiert für einen präventiven Sozialstaat statt für einen nur mehr alimentierenden. Zwar verteidigt Steinbrück den Begriff der »Umverteilung«, interpretiert ihn aber nicht im Sinne der Robin-Hood-Traditionalisten in seiner Partei, die aus der SPD einen »überalterte[n] Gesinnungsverein« machen wollen.
Man könnte, Steinbrück interpretierend, von zwei rivalisierenden Gruppen in der SPD sprechen: traditionalistische Dogmatiker und Pragmatiker. Dogmatiker sind die rückwärtsgewandten, sozialutopischem Denken verhafteten Ideologen, die sich nur dann zufrieden geben, wenn sie 100% ihrer Forderungen durchsetzen können. Er selber sieht sich wohl eher als Pragmatiker und ist fürs erste schon zufrieden, 50% Programmatik umsetzen zu können.
Freiheit zu
Strategisch sollte sich die SPD nicht nur nach NRW und den dortigen Stammwählern sondern vielmehr den wichtigen Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen zuwenden. Hier seien 36% der Wähler beheimatet, aber die Resultate der SPD niederschmetternd. Das große neue Thema der SPD sieht Steinbrück in der Freiheit, und zwar nicht nur von (wie »Knechtschaft, Fremdherrschaft äußerem Zwang und Willkür«), sondern »zu etwas wie zu einem selbstbestimmten Leben, zu Teilhabe und Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, zu Bildung und Wohlstand«. Wirtschaftspolitisch plädiert Steinbrück für eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft; das Erbe Erhards solle man – so etwas pathetisch – der CDU entreißen. Einher müsste das Bekenntnis zu einem Liberalismus stehen, aber nicht der »Vulgärliberalismus« in Form des Marktfundamentalismus der dem Untergang geweihten FDP.
Steinbrücks Weckrufe an seine Partei könnten aus einem einfachen Grund verhallen: Derzeit ist die SPD eine Ländermacht. In 14 von 16 Bundesländern sitzt sie in der Regierung und stellt in neun Bundesländern den Ministerpräsidenten. Es könnten diese vorläufigen Ergebnisse sein, die die SPD in eine Art Selbstzufriedenheit verharren lassen.
Auf fast zwei Dritteln des Buches beschäftigt sich Steinbrück mit aktuellen politischen Problemen – und deren Lösungen. Vier große Themenblöcke sind es, die er durchknetet: Nationalismus und EU; die nach wie vor entgrenzten Finanzmärkte; die »digitale Revolution« und deren Auswirkungen; Russland und die drohende geopolitische Instabilität. Vieles, was er anspricht, ist eigentlich Berliner Mainstream. Dazu gehört das euphorische Bekenntnis zu »Europa«, was voreilig mit »EU« gleichgesetzt wird. Zwar erkennt Steinbrück Legitimationsdefizite in den Institutionen der Europäischen Union, träumt von mehr Befugnissen für das Europäische Parlament und seiner einer 2. Kammer, belässt es aber vorauseilend resignierend bei kleineren Einwänden.
Scharf schießt er auf die sogenannten Rechtspopulisten in einigen Ländern, ohne den Ursachen für die Akzeptanz dieser Kräfte nachzuforschen. Diese Entwicklungen dienen Steinbrück dazu, Habermas’ Vorschläge für eine umfassende, von den jeweiligen Völkern getragene Europäische Verfassung als zu idealistisch in Bezug auf die zu erwartenden Resultate zu verwerfen. Auf Deutsch: Die Leute sind zu dumm, um die Vorteile der EU zu erkennen. Das dieser politische Paternalismus inzwischen Teil des Problems der Akzeptanz der EU bis weit in das linksintellektuelle Milieu hinein darstellt, kommt ihm dabei nicht in den Sinn.
Wuchtig seine Äußerungen zur sogenannten »digitalen Revolution«, die, so der Gestus, global zu bändigen und zu kontrollieren sei. Deutsche bzw. europäische Datenschutzregeln sollen dabei wie selbstverständlich globalisiert werden. Die von Steinbrück andernorts gerne als »Technikfeindlichkeit« der Deutschen gebrandmarkte Skepsis, praktiziert er bei der Bewertung des Internets selber: Er verfällt in eine Art Schirrmacher-Alarmismus und sieht mehr die Risiken als die Chancen. Holzschnittartig die Kritik an den »Internetriesen«, die er als Weltusurpatoren beschreibt. Geradezu lächerlich, wenn er die Steuerflucht dieser (und anderer) Großunternehmen als moralische Verruchtheit aufbläst. Er scheint zu vergessen, dass einzig die Politik an diesen Umständen Schuld ist. Erst in einem späteren Kapitel gibt er kleinlaut zu, dass der Steuerwettbewerb innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten gewollt sei. Eindämmen möchte er ihn per sofort nicht, was seine Argumentation noch absurder werden lässt.
Die geopolitische Lage Europas sieht er nach der Krim-Annexion Russlands als grundlegend verändert und bedrohlich. So herzhaft seine Ablehnung der nationalistischen Politik Putins auch ist, so deutlich nimmt Steinbrück Stellung zu Versäumnissen und Fehleinschätzungen der EU in Bezug auf deren Ukraine-Politik. Steinbrück plädiert eindringlich für ein wiedererstarktes Vertrauensverhältnis zwischen den USA und Deutschland. TTIP betrachtet er nicht nur als ökonomisches, sondern auch als politisch-strategisches Projekt. Ein Scheitern sei fatal. Am Protest zu TTIP insbesondere in Deutschland macht er den virulenten Pessimismus der deutschen Gesellschaft fest. Die Frage nach einer drängenderen Verantwortung Deutschlands in der Welt beantwortet der ansonsten so meinungsfreudige Steinbrück zusammengefasst mit einem glasklaren Jein. Wert legt er vor allem darauf, dass Deutschland niemals mehr politische Alleingänge ohne seine europäischen Partner durchzuführen habe. Und schließlich bemerkt er ein bisschen spitzfindig, dass Verantwortung nicht gleichgesetzt werden muss mit militärischen Einsätzen. Wenngleich Deutschland seine militärischen Bündnisverpflichtungen der NATO gegenüber zu erfüllen habe.
Zahlreiche Vorschläge
Konkreter wird Steinbrück wenn es um sein Lieblingsthema, den globalen Finanzkapitalismus, geht. Die nach wie vor fast ungehindert agierenden Dealer in der Finanzindustrie sieht er als großes Risiko einer stabilen und halbwegs gerechten Weltordnung. Es ist aber inkonsequent, einerseits Gerhard Schröder als Politiker und Kanzler zum Vorbild zu nehmen, andererseits jedoch mehr Regulierung zu fordern. War es doch Schröder, der die Deregulierungen von Clinton und Blair nach Deutschland transformiert hatte. Wenn sich Steinbrück für ein Trennbankengesetz einsetzt und die US-amerikanischen Dodd-Frank-Acts und den Volcker-Rule von 2010 anführt, vergisst er zu erwähnen, dass die Neugesetzgebung keinesfalls identisch mit dem von Clinton 1998 abgeschafften Glass-Steagall-Act ist und zahlreiche Ausnahmemöglichkeiten vorsieht. Von einem europäischen Trennbankengesetz wie es in den 1930ern in den USA konzipiert und auch umgesetzt wurde, sind wir weit entfernt. Zudem hätte es interessiert, warum Steinbrück glaubt, Deutschland sitze hier innerhalb der EU »im Bremserhäuschen«.
Steinbrücks Wort von der »selbstzufriedenen Republik« basiert im Wesentlichen auf zwei Annahmen: Zum einen die ungebremste Exportmacht Deutschlands, die eine gesamtwirtschaftliche Baisse wie in anderen Euro- und EU-Ländern weitgehend verhindert hatte. (Dass Steinbrück hierfür auch die Agenda-Maßnahmen Schröders, die in ähnlicher Form anderen wichtigen Ländern bisher unterblieben seien, als Ursache sieht, sei am Rande erwähnt.) Die Exporteinnahmen machen satt und genügsam. Wichtige notwendige Reformen werden verschoben. Deutschland erscheint als eine Insel der Seligen.
Gefährlich wird jedoch zum anderen, so Steinbrück, wenn man nun glaubt, die Finanz- und Eurokrise der Jahre 2007ff sei praktisch überwunden. Eindringlich zeigt er, dass diese Annahme falsch ist. Zum einen geriert sich fast heimlich die Europäische Zentralbank als »Bad Bank«, in dem sie in großem Stil Staatsanleihen in Zahlung nimmt. Ihre Niedrigzinspolitik zwingt Anleger förmlich in riskante Anlageformen, von Aktien bis Hedge-Fonds. Der Aktienmarkt droht, sich aufzublähen; die Aktienwerte spiegeln nicht mehr die Unternehmenswerte wieder. Gleichzeitig werden die Banken nicht genug reguliert. Dennoch erscheinen Steinbrücks Vorschläge, das Erpressungspotential der Banken zu reglementieren, ein bisschen hausbacken: Haltefrist im Hochfrequenzhandel von »drei auf 500 Millisekunden«; Erhöhung des Eigenkapitals (wird durch die reinen Volumina des Handels immer ein Hase-und-Igel-Spiel bleiben) oder einen auf US-Verhältnisse zugeschnitten Banken-Stress-Test. Danach, so Steinbrück, würden zahlreiche europäische Banken nicht die Anforderungen bestehen. Die Antwort, was dann mit diesen Banken geschehen soll, bleibt der Autor schuldig.
In einem Kapitel mit dem emphatischen Titel »Gestaltete Zukunft« entwickelt Steinbrück zahlreiche Vorschläge wie die Bundesrepublik direkt und ohne Rücksichten auf Brüssel auf die finanzpolitischen und ökonomischen Herausforderungen im Land reagieren kann. Diese Vorschläge reichen von einer Progression der Sozialversicherungsbeiträge in Anlehnung an die Progression bei der Einkommensteuer, der Erhöhung der (privaten) Erbschaftssteuer statt einer Revitalisierung der bürokratischen und wenig ergiebigen Vermögenssteuer (Firmenvermögen bleiben bei ihm nach wie vor unangetastet, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen), einer Umsatzsteuerreform, nachdem der ermäßigte Steuersatz von 7% nur noch auf Nahrungsmittel und Kulturerzeugnisse angewandt werden darf und alle Ausnahmen gestrichen würden, einer Erhöhung der Finanzmarkttransaktionssteuer auf Derivate, der Abschaffung des Ehegattensplitterung und der kostenfreien Mitversicherung eines nicht arbeitenden Ehepartners bei der Krankenversicherung bis zur Rückführung oder mindestens Aussetzung der aktuell von der Großen Koalition beschlossenen Rentenprojekte (Mütterrente; Rente mit 63) und der Erhebung von Studiengebühren, die nach dem Studienabschluss bei entsprechender Anstellung und Gehaltsstruktur fällig würden. Die Einnahmen möchte Steinbrück unter anderem für öffentliche Infrastrukturmaßnahmen, der Wiedereinführung der Möglichkeit der degressiven Abschreibung für Unternehmen, der Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund und der Aufstockung des Bundeswehretats verwenden. Schließlich sollen auch die Kommunen mit einem neuen Finanzausgleich entlastet werden.
All dies hat man hier und da schon gehört und gelesen. Immerhin: Steinbrück belässt es nicht beim Klagen, sondern bringt konkrete Vorschläge. Einige sind – das weiß er selber – nicht auf der Parteilinie, ansonsten könnten sie in der Großen Koalition sicherlich schnell umgesetzt werden. Andere klingen gut, wie etwa der Wunsch des Bürokratieabbaus für Unternehmen. Tatsächlich nehmen Verordnungen und Dokumentationspflichten immer mehr zu. Aber dies geschieht eben durch die Politik – sei es in Berlin oder Brüssel. Steinbrücks zehn Vorschläge für ein besseres Bildungssystem haben inzwischen durchaus Patina angesetzt oder scheitern regelmäßig an Ländereitelkeiten: Reform der Föderalismusreform, längeres, gemeinsames Lernen in den Schulen, mehr Kompetenzen für den Bund, mehr Ganztagsschulen, Quereinsteiger als Lehrer. Den Wunsch nach kleineren Klassen als politisches Ziel kenne ich persönlich seit 45 Jahren.
…und ein paar Widersprüche
Gelegentlich springt Steinbrück zu kurz oder verwickelt sich in Widersprüche. Zum einen beklagt er eine Politikverdrossenheit, die sich unter anderem darin zeige, dass die Wahlbeteiligung sinke. Dabei lässt er vollkommen außer Acht, wie sich seine Aussage anderthalb Jahre nach der Bundestagswahl, seine Kanzlerkandidatur sei ein Fehler gewesen, auf eine solche Politik- oder, sollte man besser sagen: Politikerverdrossenheit direkt auswirkt. Es ist nämlich eine ziemliche Unverschämtheit, frank und frei von einem Fehler zu sprechen, nur weil einem das Ergebnis bzw. die Umstände nicht gepasst haben. Auch die Tatsache, ein solches in vielen Dingen diskussionswürdiges Buch zu schreiben, sich aber längst aus jeglicher politischer Verantwortung, die über das Bundestagsmandat hinausgeht, selbst entfernt zu haben, verwundert.
Die konstatierte Politikverdrossenheit hebt man auch nicht dadurch auf, dass man starr an der aktuellen Form der repräsentativen Demokratie festhält und Bürgerentscheide nur als »konsultativ« erwünscht. Steinbrück beklagt – zu Recht – einen fatalen Hang der Politik, sich an demoskopischen Umfragen zu orientieren, statt konsequent ihre politischen Programme umzusetzen. Gleichzeitig konzediert er, dass das Wahlprogramm der SPD, dem er zugestimmt habe, einen Gemischtwarenkatalog aus allen möglichen Forderungen beinhaltete, die sich sicherlich allgemein großer Popularität erfüllt hätten, aber politisch unmöglich umzusetzen gewesen wären.
Auch die »zunehmende Beschleunigung politischer Prozesse« nicht zuletzt durch die digitalen Medien und deren Hypes, missfällt Steinbrück. Talkshows würden das Parlament ersetzen; der Journalismus neige dazu, komplexe Sachverhalte entweder zu verkürzen oder zu personalisieren. Dem ist natürlich zuzustimmen, aber die Frage, warum denn Politiker in schöner Regelmäßigkeit just diese Veranstaltungen als Gäste bevölkern, stellt Steinbrück nicht.
So anregend manche Ausführungen auch sind – zuweilen wiederholt Steinbrück nur die üblichen Floskeln. Etwa wenn er von der demographischen Gefahr schreibt und zugleich verkündet, dass die »digitale Revolution« womöglich massenhaft Arbeitsplätze freisetzen wird. Dabei bleibt offen, wo denn die Arbeitsplätze der Zukunft liegen sollen. Oder wenn gleich mehrmals über einen »Fachkräftemangel« geklagt wird, obwohl sich dieser weder in der Gehaltsstruktur der beschäftigten Fachkräfte entscheidend wiederspiegelt noch dabei auch nur erwähnt wird, dass die Unternehmen jahrelang vorher – mit gnädiger Unterstützung der Politik – die Frühverrentung älterer und mithin teurer Mitarbeiter forciert haben. Die von ihm geforderte Anerkennung ausländischer Studien- und Berufsabschlüsse bekommt dabei den bitteren Nachgeschmack des Geschenks an die Arbeitgeber, die damit gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland zu günstigeren Konditionen erhalten und damit ihre Personalkosten reduzieren können. Ein alter Hut bleibt auch der Appell, sich nicht mehr auf die Rente als alleinige Altersvorsorge zu verlassen. Wie bei lang anhaltenden Niedrigzinsen und Problemen für Lebensversicherer die private Vorsorge aussehen soll, bleibt ein Geheimnis.
Steinbrücks Buch ist gespickt mit womöglich in Reden erprobten, auf die lange Strecke des Sachbuchs jedoch etwas ermüdenden Metaphern. Immer wieder ist irgendetwas »Treibstoff«, dann droht hier und da eine »Kernschmelze« und mehrmals gibt es den berühmten »Quantensprung«, der immer noch falsch verwendet wird. Unverständlich, warum es keine nummerierten Endnoten gibt, sondern stattdessen Sternchen, die der Leser dann am Ende mühsam der Seitenzahl zuordnen muss. Redundanzen bleiben nicht aus, immerhin: die einzelnen Kapitel sind auch unabhängig voneinander für sich verständlich.
Am Ende klingt es fast schon wie ein Vermächtnis: »Unser Bedürfnis nach Stetigkeit und Überschaubarkeit und einer stabilen internationalen Ordnung mit Deutschland als Insel der Selbstgenügsamkeit wird nicht erfüllt. Die Welt befindet sich in einer Phase, in der sie sich unter den treibenden Kräften der wirtschaftlichen Globalisierung, Digitalisierung, Demographie und antagonistischen Gesellschaftsentwürfen neu sortiert. Dabei stellen sich der westliche Kapitalismus und der universelle Anspruch unseres Wertesystems aus der Sicht anderer Kulturkreise nicht weniger als Ideologie dar als aus unserer Sicht deren gesellschaftspolitische Vorstellungen.«
Derzeit, so die Quintessenz nicht nur von Steinbrücks Buch, gewinnt derjenige Wahlen, der diese Erkenntnisse und Handlungskonsequenzen hieraus möglichst weit von sich weg schiebt. Bei genauer Lektüre zeigt sich, dass auch Steinbrück den großen Sprung nicht wagt und stattdessen lieber systemimmanent kleinere Reparaturen am Bestehenden durchführen möchte. Man kann ihm das nicht zum Vorwurf machen. Schwach ist nur, dass er seine Kompetenz und seine Bärbeißigkeit in einer Art Trotzreaktion (auf wen oder was auch immer) nicht mehr in das Gemeinwesen einbringen möchte, für das er so vehement in diesem Buch streitet. Stattdessen hilft er jetzt mit anderen Elder Statesmen der Ukraine. Vielleicht sollte er sein Bundestagsmandat zurückgeben. Denn dafür hatte ich ihn nicht gewählt.
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Ich habe ihn nicht gewählt, obwohl ich ihn für den einzigen Menschen in der SPD halte, der die Probleme auf dem Bankensektor und die Strukturbedingungen in der Realwirtschaft einigermaßen verstanden hat. Ein intelligenter Mensch als Kanzler hat in Deutschland sowieso keine Chance, meine Prognose damals. Damals habe ich konservativ gewählt, zum ersten Mal. Denkzettel. Ich hatte den Eiertanz um die bürgerliche Mitte mit den »besseren Ideen« satt. Die SPD schien mir keine linke Partei mehr zu sein. Dass er kein schlüssiges Konzept zur Zukunft der EU anbieten konnte, habe ich ihm nachgesehen. Das wäre im Moment (oder überhaupt) das Ei des Kolumbus. Das hat keiner. Völker, die eine Europäische Verfassung tragen... Wo leben diese Leute?!
Im Vorfeld waren seine demoskopischen Zahlen auch im Vergleich zur Kanzlerin ausgesprochen gut.
Dem widerspreche ich. Steinbrücks Popularitätswerte waren zwar bei der Gesamtbevölkerung ziemlich hoch – aber bei den SPD-Anhängern nicht. Es nützt aber keinem Kandidaten etwas, wenn ihn die Wähler anderer Parteien für »ganz okay« halten, wenn sie ihn dann trotzdem nicht wählen.
Helmut Kohl hatte, wie auch Angela Merkel, immer sehr hohe Zustimmungswerte in der CDU. Da spielt es dann keine Rolle, dass er in der Gesamtbevölkerung eher unbeliebt war.
Und: was der SPD fehlt, ist ein Kandidat oder eine Kandidatin, die auch schon mal eine Wahl gewonnen hat: Gabriel (Niedersachen), Steinmeier (Bund) und Steinbrück (NRW, Bund) wissen nur, wie man verliert.
@Gerald Fix
Wenn die SPD-Anhänger nur bei 25% liegen, ist es nicht ganz so entscheidend, ob jeder »Genosse« Steinbrück tatsächlich als bestmöglichen Kandidaten auffasst.
Sie haben natürlich dahingehend recht, dass Steinbrück die Unterstützung aus seiner Partei gebraucht hätte – und die war wohl nicht besonders groß. Die Aussage, dass die SPD nur Kandidaten gehabt habe, die verloren haben, mag griffig sein. Aber sie ist fragil. Brandt scheiterte mehrmals bei der Bundestagswahl, bevor er 1969 dann die Gelegenheit beim Schopfe packte. Johannes Rau, Kandidat von 1987, hatte 2 x NRW haushoch gewonnen. Rudolf Scharping, Kandidat von 1994, hatte Rheinland-Pfalz für die SPD »erobert«. Beide scheiterten, nicht zuletzt weil sie in der Partei wenig oder kaum Unterstützung erhielten. Auch Kohl galt nicht als »Siegertyp«; die Umstände 1982 mit konstruktivem Misstrauensvotum an die Macht zu kommen spielten ihm in die Hände.
Richtig ist, dass in einer konservativen Partei wie bei der Union die Geschlossenheit dem jeweiligen Kandidaten gegenüber immer höher war. Das war nur einmal nicht der Fall als Strauß 1980 antrat. Ansonsten waren und sind die Unionsparteien unter Kohl und Merkel immer Kanzlerwahlvereine gewesen.
Wenn die SPD-Anhänger nur bei 25% liegen, ist es nicht ganz so entscheidend, ob jeder »Genosse« Steinbrück tatsächlich als bestmöglichen Kandidaten auffasst.
Steinbrück hat seinen Hut in den Ring geworfen, als Rot-Grün den Umfragen zufolge fast unschlagbar schien (wahlrecht.de, aber natürlich ist der Niedergang in den Umfragen nicht Steinbrück anzulasten). Unterstützt wurde er vor allem von der Presse, hauptsächlich von der ZEIT (ZEIT, Beispiel). Die Presse hat ihn der SPD fast aufgezwungen und als er Kandidat war, hat sie ihn – mit Ausnahme der ZEIT – demontiert. Dieser Demontage hat die Parteibasis nichts entgegengesetzt, sie hat ihn nicht verteidigt. Er war einfach nicht ihr Mann.
Brandt scheiterte mehrmals bei der Bundestagswahl
Richtig. Aber vorher hat er in Berlin gewonnen. Rau und andere, die auch in den Ländern erfolgreich waren, haben Sie erwähnt. Man könnte noch Schmidt, Lafontaine, Clement und sogar Vogel (als Münchner OB) nachschieben. Das sind alles Leute, die in der Provinz gewonnen haben. Aber wann ist zum letzten Mal ein Wahlsieger in die SPD-Bundespolitik gerückt? Beck hat man weggebissen, Platzek war krank – und dann nichts mehr. Ministerabel wird man im Bund nur, wenn man im Land abgewählt wird ... Hat die CDU das eigentlich schon mal gemacht, einen abgewählten Ministerpräsidenten als Minister nach Bonn/Berlin zu holen?
@Gerald Fix
Die abgewählten MP der CDU landen in Europa (McAllister, Oettinger, Stoiber), in der Wirtschaft (Koch, Rüttgers) oder in den Ruhestand. Unvorstellbar, dass sich jemand wie Rüttgers oder Lieberknecht irgendwann einmal im Kabinett Merkel wiedergefunden hätte bzw. wiederfinden würde. Der MP gilt hier als Kulminationspunkt für eine Karriere. Alles andere ist Abstieg. Derzeit gibt es ja kaum Unions-MP die irgendwann in Kabinettslisten auftauchen könnten.
Die lange Durststrecke, die die SPD nach Schmidts Abwahl 1982 hinzunehmen hatte, wurde eigentlich nur kurz unterbrochen (1998–2005). Schröders Regierung war ein Interregnum. Ich behaupte heute, dass nicht Schröder gewählt, sondern Kohl damals abgewählt wurde (ähnlich wie 1980, als nicht Schmidt gewählt, sondern Strauß verhindert wurde). Schröder hatte ja auch in der SPD nicht uneingeschränkt alle Stimmen hinter sich – freilich hielt ihm Lafontaine den Rücken frei. Dieser wollte dann, als Schröder Kanzler war, als Gegenkanzler Politik machen. Da traf er auf den falschen.
Die Stimmung war 1998 einfach danach. Diese Stimmung – das schreibt auch Steinbrück in seinem Buch – gab es 2013 erkennbar nicht. Wenn nicht noch etwas passiert, dann wird es auch 2017 keine Wechselstimmung geben.
Die SPD hat jetzt schon das Kandidatenproblem. Gabriel ist für große Teile der Mittelschicht, die man der CDU abspenstig machen müsste, nicht unbedingt wählbar. Er hat ja, wie Sie schreiben, noch nie eine LTW gewonnen. Gleiches gilt von Steinmeier – ein solider und guter Außenminister, aber kein Wahlkämpfer. Aus den Reihen der MP sehe ich nur zwei: Hannelore Kraft und Torsten Albig. Krafts Politik in NRW würde im Wahlkampf sicherlich thematisiert werden. Albig ist ein testosterongesteuerter Springsinsfeld, der vermutlich unter Druck ähnlich cholerisch reagieren könnte wie es gelegentlich Steinbrück macht. Dreyer, Sellering, Woidke und Weil kann man wohl vergessen. Scholz hat in der Partei zu wenig Rückhalt.
Aber auch die Union kommt in eine prekäre Situation. Selbst wenn Merkel 2017 noch einmal antreten sollte (wovon ich ausgehe), dann stellt sich die Nachfolgerfrage. Ich sehe da weit und breit niemanden, der den Bonus Merkels in eine Wahl mitnehmen könnte. Daher wird sie vermutlich inmitten der Legislatur nach 2017 ein/e Nachfolger/in nominieren und diese/n zwei Jahre machen lassen. Kohls Fehler von 1998 wird sie nicht machen.
@ die_kalte_Sophie
»Die SPD schien mir keine linke Partei mehr zu sein.«
Haha, der war gut. Wann war sie das zuletzt? Vor dem »Gothaer Programm«?
Erst einmal vielen Dank für diese unglaublich gute und genaue Besprechung. Für mich bedeutet es: ich muss das Buch nicht lesen. Steinbrück fordert die SPD auf, zu reflektieren, ist aber selbst nicht im Stande dies zu tun. Max Weber hat es genau beschrieben (Politik als Beruf): ehemalige Beamten taugen nicht zum großen Politiker. Steinbrück hat nicht verstanden, dass das, was er formuliert, sein Problem ist: nein die Aufgabe der Sozialdemokratie ist eben nicht erfüllt, auch wenn die Statistik dies vermitteln will. Hunderttausende Frauen hängen in befristeten Verträgen und trauen sich nicht schwanger zu werden, Hunderttausende arbeiten unter dem Mindestlohn und trauen sich nicht etwas zu sagen, Hunderttausende leiden täglich unter unfassbaren Ungerechtigkeiten und sehen, dass sie nichts tun dürfen, weil die Politik es so will (Stichwort Mieten, Arbeit, Bildung, junge Chancen...) Steinbrücks Problem ist sehr einfach formulierbar: er weiß nicht, was ein Liter Milch kostet. Merkel traue ich das leider zu, wie viele, deswegen darf sie weiter schalten, walten und verwalten.
@ besarin. Danke für den Anspieltipp, aber das ist nicht mein Geschmack. Wenn’s interessiert: ich hatte keinen kindischen Hang zur SPD, in die SPD wurde ich »hinein geboren«. Mein Vater war Arbeiter, und hielt nichts von der Kirche. Trotz geringer Bildung hat er sich für Politik interessiert. Er war ein aufgeregter, imgrunde aber moderater Mensch, was blieb da anderes als die SPD?! Aus dieser meiner politischen Kindheit habe ich eine der wichtigsten Lektionen überhaupt mit auf den Weg genommen: Politik bedeutet nicht primär Macht und Strategie, Politik bedeutet Teilhabe per se. Politik ist ein Art und Weise, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es entspringt einem vitalen Interesse, dem die Zwänge der Macht nur aufgetragen werden. Es gibt ein Interesse an Politik, das den Fallstricken der Macht vorausgeht. »Alle wollen regieren«, aber nicht um der Macht willlen, sondern weil das Regieren eine Frage der Zugehörigkeit ist. Wer nicht (mehr) an der Politik teilnimmt, der weiß nicht, wo er hingehört. »Weltbürger«, »Freigeist«, »Pazifist«, »Intellektueller«, etc. sind einige gut getarnte Bezeichnungen für die Unfähigkeit, eine persönliche Zuordnung zu finden. Die Frage, wo man NICHT hingehört, wen man nicht leiden kann, ist m.A.n. obsolet. Die Negativität ist ein Trugbild innerhalb des Politischen.
Der Ort für die Arbeiter in der BRD war seinerzeit in der Tat die SPD. Ob das nun gut oder schlecht war, darüber kann man lange diskutieren. Ziel der Sozialdemokratie war es schon lange nicht mehr, seit jenem Gothaer Programm im Grunde, diese Ordnung umzustoßen, sondern teilzuhaben und wie der Großbürger zu sein, der der Arbeiter nie war und der er nie sein wird. Ich halte allerdings diese Teilhabe sowie die Idee der Reformation für eine Illusion.
Ich kann Ihre Position zwar verstehen und nachvollziehen, die sich an einem bestimmten Prozedere des Politischen orientiert. Es ist dies jedoch nicht die meine. Ihre Begründung des Politischen überzeugt mich zudem nicht. Wenn man das in dieser Weise macht und im Dualismus drinnen/draußen als Form der Teilnahme und verbleibt, dann müßte ich für die DDR und deren System votieren, um wieder drinnen zu sein. Im anderen Drinnen. (Das tue ich nicht, um es dazu zu sagen.) Die BRD samt der Parteienpolitik ist und war mein Land nicht, und es ist eine Gesellschaft nicht die meine, in der die Aneignung von Arbeit durch andere erfolgt. Wenngleich ich allerdings Mitglied in einer Partei bin. Die heißt freilich sehr schlicht: nämlich nur DIE PARTEI.
Politik ist eine Art, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, in der Tat. Aber das geht ebenfalls als Protest und Widerstand, die sich in der einen oder anderen Form auf die Straße oder sonstwohin tragen und im Sinne der Verweigerung. Es geht auch, in dem man die Arbeit der Theorie leistet; im Sinne der bestimmten Negation. Negation ist ja nie abstrakt, und insofern nie draußen, sondern sie steht in einem Verhältnis zur Sache. Mir geht es auch nicht um das ach so wohlfeile Politiker-Bashing: „Alles nur Karrieristen, machtgeil und korrupt“. Das halte ich in dieser Pauschalisierung für falsch. Sowohl Wolfgang Bosbach als auch Jürgen Trittin meinen es vermutlich ernst und machen diese Arbeit aus Überzeugung. Insofern geht es mir bei den Abneigungen nicht um persönliche Präferenzen, sondern um sachliche.
Natürlich gibt es kein „draußen“. Allerdings fühle ich mich nicht gehalten, diesen Staat, dieses System zu verteidigen. Wozu? Das machen ja andere bereits. Ich weigere mich allerdings und in der Tat mich zuordnen zu lassen. Da liege ich dann, um es an zwei Namen festzumachen, sehr nahe an Jacques Derrida und Foucault. Es ist ja gerade dieser Identitätszwang, A oder B sagen zu müssen, der Denken zurichtet und es in nur die eine Dimension lenkt. Als Pazifist und als Weltbürger verstehe ich mich nicht. Letzteres ist für mich eher eine touristische oder ästhetische Kategorie.
@die_kalte_Sophie
»Politik bedeutet nicht primär Macht und Strategie, Politik bedeutet Teilhabe per se. Politik ist ein Art und Weise, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es entspringt einem vitalen Interesse, dem die Zwänge der Macht nur aufgetragen werden. Es gibt ein Interesse an Politik, das den Fallstricken der Macht vorausgeht. »Alle wollen regieren«, aber nicht um der Macht willlen, sondern weil das Regieren eine Frage der Zugehörigkeit ist.«
Schön formuliert und zutreffend (wie ich meine).
@bersarin
Wie der Großbürger? Ich würde insofern zustimmen und sagen dass ein Teil der klassischen Arbeiterschaft tatsächlich zu einigem Wohlstand gekommen ist und vielleicht gerade dadurch bürgerlicher geworden ist (etwa durch den Besitz von Haus, Auto und/oder Grund). Im Sinne des materiellen Versprechens das ja auch in der Sozialdemokratie steckt, wurde da durchaus etwas erfüllt (mittlerweile kippt das wieder); die Anhängerschaft wurde dadurch aber heterogener, sie ist teilweise weggebrochen, möglicher Weise auch auf Grund anderer Faktoren und zugleich hat sich die Sozialdemokratie (zu ihren eigenen Ungunsten) gewandelt (Blair, Schröder, u.a.).
Vielleicht muss man noch über die Teilhabe hinaus gehen und formulieren, dass Politik letztlich auch von einem Interesse am anderen, an der Gesellschaft, der Gemeinschaft, bedeutet (wenn auch nicht zwingend im Sinn von Gerechtigkeit). So würde ich die Zugehörigkeit lesen wollen und dort finden die »Verweigerer« und die »Teilhaber« möglicher Weise zusammen. Das wäre dann in der Tat kein Draußen.
Den Identitätszwang »fürchte« ich auch, weil er sich letztlich gegen jede Form von Kritik wendet.
[Warum es keine abstrakte Negation geben soll, ist mir allerdings unverständlich.]
@ Metepsilonema
Mit der Orientierung am Großbürger (bzw. Bourgeois) meinte ich insbesondere, daß sich Arbeiter an einem bestimmten sozialen und kulturellen Habitus orientierten, der im Grunde nicht der ihre ist. Nicht alle freilich, denn es gab ebenso einen Proletenkult, eine proletarische Kultur, die der des Bürgers etwas entgegensetzen wollte. Diese Partizipation zeigte sich aber insbesondere im Bereich des Kulturellen. Stichwort hierzu ist das Bildungsideal und die Lesekultur. Vom Heute her könnte man mit leicht zynischem Unterton formulieren, daß die gewünschte Integration des Arbeiters samt seiner Utopien und Träume vollständig glückte und die widerständigen Potentiale abgrub. Als eine der wenigen politischen Kräfte des 19. (und dann des 20.) Jhds hat jene SPD des Gothaer Programms ihr Ziel erreicht.
Natürlich kann man eine Sache negieren, ohne an deren Stelle etwas Positives setzen zu können oder zu wollen. Das meinte ich jedoch nicht. Bestimmt ist die Negation jedoch insofern, als sie immer auf ein Etwas bezogen ist. Man kann das dann in Abwandlung eines Spinoza-Satzes schreiben: Omnis negatio est determinatio.
Der Begriff der Gemeinschaft ist sicherlich interessant, insbesondere dann, wenn man aus solcher Gemeinschaft den Zwang zur Identität fernhielte und darin gleichsam ein Nicht-Identisches, nicht Gleichmachendes als wirkend sieht. Doch bleibt das eine utopische oder kontrafaktische Annahme. Zumal jede gegenwärtige Gemeinschaft, wenn man sie im Sinne des Politischen nimmt, an einer absoluten Vielfalt zerbrechen müßte. Gemeinschaft ohne Freund/Feind-Unterscheidungen wäre ein Ideal. Ist aber angesichts realer Antagonismen schwierig zu realisieren. Keine Gemeinschaft kann und wird ihre eigenen Feinde dulden. Zentraler im Hinblick auf Gesellschaft samt deren Analyse bleibt für mich jedoch der Begriff des Widerspruchs. Dies kann man insbesondere am Aspekt der Freiheit sichtbar machen. Ebenso am Anliegen der Arbeiter samt deren Integration.
Der Politikbegriff hängt sicherlich stark an dem des Pragmatischen. Dennoch bleibt eine emphatisch verstandene Weise von Politik mehr als nur die Kunst des Möglichen. (Ich bin kein Revolutionstheoretiker, aber es wären in einem weiter gefaßten Politikbegriff auch diese Konzepte mitzudenken. Die Abschaffung einer bestimmten Politik, und zwar nicht bloß durch Wahlen. Denn Parteien, die sich in der Parteiendemokratie bewegen werden immer die Tendenz besitzen sich einander anzunähern, die Unterschiede werden eingeschliffen, um am Spiel teilnehmen zu dürfen. Bestes Beispiel dafür ist DIE LINKE. Insofern besteht die Gefahr, daß sich im Wechsel der Parteien in der Politik nichts Wesentliches ändert, ausgenommen vielleicht ein paar Stellschrauben hier und ein paar da. Wenngleich: das was die SPD und die Grünen ab Regierungsantritt 1998 leisteten, hätte sich keine konservative Regierung je getraut. Hier finden wir einen massiven Einschnitt in Politik. Vergleichbar mit dem Wechsel 1969)
Was die Sozialdemokratie der 50er, 60er Jahre betrifft, würde ich nicht nur das materielle Versprechen nennen, sondern ebenfalls das des möglichen sozialen Aufstiegs und daß Kinder aus Arbeiter- und Angestelltenhaushalten Gymnasien und Universitäten besuchen konnten. Dies hatte Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in der BRD einen massiven Schub ausgelöst.
Ja, »Politik ist Teilhabe« und Macht ist böse. Sorry, aber das klingt mir ein bisschen zu sehr nach Poesiealbum und vermuffter sozialistischer und/oder sozialdemokratischer Kneipe. Ich wünschte, ich könnte dem Clown Sonneborn mit seiner lächerlichen PARTEI etwas abgewinnen. Aber am Ende ist er nur der Parasit, der auf Kosten eines weitgehend funktionierenden politischen Gemeinwesens seine Spässchen machen darf. Soll er machen – aber mit Politik hat da soviel zu tun als wolle man ein Gummiboot mit einem Ozeandampfer vergleichen.
Teilhabe muss ab einer gewissen Grösse der Agora strukturiert und institutionalisiert werden. Macht bedeutet in einer Demokratie Hierarchie und Einfluss – aber auf Zeit. Und ich bin auch nicht damit einverstanden, dass es Bundestagsabgeordnete oder Funktionsträger in politischen Parteien gibt, die seit 20, 30 oder 40 Jahren auf ihren Stühlen sitzen – mal da mal dort. Aber die Leute werden nun mal gewählt.
Die idealistischen Vorstellungen von Teilhabe an politischen Willensprozessen scheitert zu oft schon bei der kleinsten Abstimmung auf Stadt- oder Kreisebene an der Beteiligung. Ich konnte das in den 1990er Jahren in Düsseldorf feststellen, als die Vorhaben reihenweise daran scheiterten. Es ist eben interessanter, den Nahostkonflikt bei einem Bier zu lösen statt das Für und Wider der Innenstadtgestaltung mit zu bestimmen.
Die deutsche Sozialdemokratie war noch in den 1950er Jahren das, was man heute sozialistisch nennen würde. Mit dem Godesberger Programm von 1959 kam die Annäherung an das, was man damals (wie heute) das politische Establishment nennt. Zehn Jahre später war Brandt Kanzler. Man lese im Briefwechsel Grass/Brandt, wie alarmistisch Grass vor allem die Große Koalition von 1966 prognostizierte und den »Verrat« der SPD witterte, mit der Union in eine Koalition zu gehen. Diese Art des politischen Rigorismus widersprach fundamental der Lebenserfahrung eines WIlly Brandt, der am eigenen Leib erleben konnte, wie dadurch die Weimarer Republik mit demontiert wurde.
Nur einmal hat in Deutschland dezidiert die Sozialdemokratie bundesweit Wahlen gewonnen: 1972. Alles andere waren Verhinderungswahlen (1976 [Kohl – damals half noch die journalistische Maßnahme, Kohl als Depp darzustellen], 1980 [Strauß], 1998 [Kohl – 16 Jahre waren wirklich zuviel], 2002 [Stoiber]) oder nur Glück (1969 [indem die 4,3% NPD-Stimmen wegen der 5%-Hürde unter den Tisch fielen – welches Glück!]). Verhöhnt wurden Sozialdemokraten übrigens von allen Seiten – sowohl von den Rechten in der Weimarer Republik (im Verein mit den Kommunisten) als auch in der angeblich zu verteidigenden DDR.
Auch Steinbrück möchte, dass »Kinder aus Arbeiter- und Angestelltenhaushalten Gymnasien und Universitäten besuchen« können. Das kann die Politik sicherlich ermöglichen. Aber eben nur zum Teil. Denn es gibt ja auch noch etwas wie Eltern, die oft genug ihren Kindern diese Möglichkeiten überhaupt nicht nahe bringen. Merkwürdig, wie die Einflüsse aus der Familie kaum noch berücksichtigt werden. In einem Haushalt, in dem Bücher gelesen werden und nicht nur die »Bild« ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich hier Abitur und Uni-Abschlüsse einstellen, einfach höher. Das kann man mit Geld nicht bezahlen. Und da kann auch die Politik wenig machen, wenn Papa partout die SZ nicht lesen möchte.
Zwei Anmerkungen noch zu den allesamt faszinierenden Kommentaren.
Zu #7: Die Urform des Widerstands ist durchaus eine Form des Politischen. Das wollte ich unbedingt anerkennen. Man muss sich einer bestimmten (westlichen) Gesellschaft nicht zuordnen, genau im Sinne der »Verteidigung«, wie auch die Vorlesung von Foucault lautet. Damit ist sogar eine existenzielle Alternative vorgezeichnet, die für den Westen grundlegend ist. Die Insider und die Outsider des Politischen. Links und Rechts ist sicher mehr als »unterschiedliche Meinungen«, das spüren wir alle.
Zu #13: Da muss ich fast polemisieren. Ein bisschen »böse« ist die Macht schon, denn wenn man die Ideale mit den Realformen vergleicht, und zwar bis ins Detail der Bürgermeister und Kreisräte, dann merkt man, dass etwas nicht stimmt. Nietzsche würde sagen: »Von der Demokratie wird immer noch zu gut gesprochen...«. Natürlich wissen alle, dass der Alltag den Idealen nicht gewachsen ist, aber erleben wir nicht im Moment eine riesige idealistische Verdunkelung, gerade weil sich der Öffentliche Diskurs nicht an der Realität orientieren muss?! Dass die Demokratie keine Jungfrau mehr ist, und ordentlich Schminke braucht, –geschenkt! Aber im Zeitalter der Medien, wird da die Demokratie nicht endgültig zur Lüge?!
Will asgen: die Strukturen lassen sich nicht bereinigen im moralischen Sinne, aber inzwischen haben wir zwei »relativ unabhängige« Malfaktoren, die Politik (als Klasse), und die Medien (als Funktion). Die Jungfrau wurde zweimal geschändet.
Nein, die Sozialdemokratie war vor 1959 mitnichten sozialistisch. Genausogut könnte man dann die CDU wegen ihres Ahlener Programms für sozialistisch setzen.
Dennoch ist es im ganzen eine für die SPD erfreuliche Bilanz. Mehr kann man für und vor allem von dieser Partei nicht erwarten. (Don Alphonso brachte auf seinem Blog „Rebellen ohne Markt“ am 15. April eine herrliche Polemik zur gegenwärtigen SPD. Leider aus der Position des enttäuschten Sozialdemokraten) Und wie gesagt: Die Umverteilung von Geld bzw. von Werten in der BRD: das hätte vor 15 Jahren keine andere konservative Partei so genial, frech und unverhohlen durchziehen können wie die SPD. Teile der Gewerkschaften wären Sturm gelaufen, wagten dies CDU und FDP. Das ganze kaschiert man dann noch, um irgendwie „links“ zu wirken, mit dem Kampf gegen Rechtsradikale als „Aufstand der Anständigen“, zieht das als moralische Propaganda auf und ab geht danach die Umverteilungsluzie von „Genosse der Bosse“. Macht- und medienpolitisch ein Meisterstück: sowohl dieser „Aufstand der Anständigen“ wie auch die vorgetäuschte und gelogene Absage an den Golfkrieg. Dieses Kalkül der Macht kann man dann maschmannmäßig noch vertiefen hin zur privaten Rentenvorsorge. Dieselben SPD-Politiker, die uns erzählten, die Renten seien nicht mehr sicher und es müsse nun auch privat vorgesorgt werden, sind die, welche in genau den Unternehmen saßen, die privatsparmäßige Rentenversicherungen uns anboten. Seltsam? Nein! (Ich vergaß bisher den kleinen Bruder GRÜNE zu nennen. Was ich hier gerne nachhole.)
Nein, Macht ist nicht per se böse. Im Gegenteil. Ohne Macht und deren Ausübung keine Politik und vor allem: keine Umwälzung. Wer jedoch mit einem funktionalen Machtbegriff argumentiert, muß es sich dann gefallen lassen, daß auch die Gegenseite diesen Begriff in gleicher Weise gebraucht. Gut sehen wir das gegenwärtig an den Diskursen um die Ukraine und um Rußland. Im Sinne eines funktionierenden Machtbegriffes war die Besetzung oder Heimholung der Krim vollständig legitim. Macht sticht Völkerrecht. Gleiches kann man übrigens vom Bau der Mauer zwischen BRD und DDR sagen. Es wurde da viel lamentiert, weil Menschen zu Tode kamen. Machtpolitisch und ökonomisch war der Bau notwendig.
Sehr viel interessanter als die Machtkonstellationen in der Politik scheinen mir jedoch die der Wirtschaft zu sein und wie sich Arbeit und Kapital ausprägen. Der Machtbegriff hängt insofern an dem der Ökonomie. Ändern wird man dies alles nur schwer. Insofern ist auch DIE PARTEI nur harmloses Öl im Getriebe. Aber analysieren kann man diese Dinge und auf den Begriff bringen. Am Kneipentisch beim Bier werden freilich diese Fragen in der Tat nicht gelöst. Interessant bleibt aber dennoch, weshalb das hübsche Poesiealbum samt verrauchter Sozikaschemme so sehr denunziert werden. Werfen dann allerdings Menschen das Poesiealbum weg und wenden andre Methoden an, sind das Klagen und vor allem die Empörung auf einmal groß.
Der Bildungsunwillige wird auch unter anderen ökonomischen Verhältnissen nicht plötzlich an die Universität streben oder gehaltvolle Zeitungen lesen. (Welche eigentlich?). Muß er auch nicht. Ein Studium ist kein Selbstzweck. Worum es geht, ist die Gleichheit von Chancen: daß jeder die Möglichkeit hat, wenn er oder sie wollen. Diese Möglichkeiten muß man notfalls erzwingen. (Machtbegriff eben). Notfalls auch gegen die Interessen und Vorbehalte der Betroffenen.
Ich halte es für eines der größten Märchen. dass es in Deutschland eine unterentwickelte Chancengleichheit gibt (Steinbrück plappert das auch ganz lieb nach in seinem Buch). Diese meine Ansicht bekomme ich immer wieder von Leuten bestätigt, die hier als Migranten oder Aussiedler angekommen sind (zum Teil mit null Sprachkenntnissen), deren Kinder jedoch Abitur haben und entweder studieren oder gute Berufe ausüben. Der Staat kann hier weniger erzwingen, als man denkt.
Da muss ich zustimmen. Die »Chancengleichheit« ist ein normativer Begriff, bei dem es wenig Sinn macht, das Gegenteil herauszukehren. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeiterkind promoviert ist zwar äußerst gering, aber das heißt nicht, dass es wesentliche strukturelle Hindernisse gibt. Die Gründe sind im Mikro-Sozialgefüge verankert. Der Staat kann da nix machen, außer er setzt auf »Ungleichheit«, und fördert die Benachteiligten einseitig.
@ besarin Die individuelle Entfaltung ist ja nur »zur Hälfte« an die berufliche Karriere gekoppelt. Du argumentierst eigentümlich hilflos. Universität, ja, –aber bitte nur als Chance. Geist schärfen bis zur analytischen Meisterschaft, ja, –aber welche Zeitungen kann man dann noch lesen... Hat alles seine Schattenseiten, nicht wahr?! Das ist die Beschreibung der Tücke existenzieller Pläne, und kein Strukturproblem.
@Gregor Keuschnig
Chancengleichheit ist ein zu komplexer Begriff als daß man ihn in drei Sätzen abhandeln kann. Natürlich gibt es in der BRD seit den 50er, 60er Jahren Fortschritte. Mit Rahmenbedingungen meinte ich nicht, daß alles staatlich alimentiert oder erzwungen wird. Chancengleichheit hat ebenso mit monetären Aspekten zu tun. Objektiv und für alle gleich kann es in dieser Gesellschaft nicht laufen, wenn der eine mit 1.000.000 EUR und der andere mit Hartzigen 4 ins Rennen steigt und wenn bei den Hartzern dann alle Monate lang auch noch die Unterhosenschrankschnüffler-Staatsbüttel auf der Matte stehen. Das muß mir dann mal jemand sehr genau und haarklein erklären, wo da die Gleichheit von Chancen liegen soll. Ich bin da ganz ergebnisoffen.
Bis zu einem bestimmten Grad gibt es für viele, die wollen (nicht für alle) die Möglichkeiten Abitur zu machen und eine Universität zu besuchen. Dennoch liegt in den Statistiken der Anteil von migrantisch geprägten Kindern ausgesprochen gering. Das sagt zunächst einmal noch nichts aus, weil das rein quantifizierende Statistiken sind. Denn genauso kann es sein, daß die Institutionen Möglichkeiten bereitstellen, die jedoch nicht genutzt werden.
Ab einer bestimmten Stufe jedoch ist Schluß mit den Möglichkeiten. Wer sich mal in den inneren Kreisen von Managern, Juristen, Medienmenschen der oberen Etagen bewegt hat, der wird schnell merken, ob er dort etwas zu suchen hat oder nicht. Das Stichwort ist hier: Stallgeruch. Den bekommt man nicht im Märkischen Viertel oder in Neukölln. Insofern bleiben all diese Bildungsprobleme Scheinprobleme.
@ die_kalte_Sophie
Bei jedem gesellschaftlichen Begriff, insbesondere bei den normativen, läßt sich das Gegenteil herauskehren. Zumal Chancengleichheit gar nicht denkbar wäre, gäbe es nicht ebenfalls eine Chancenungleichheit. Nichts ist begriffen, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht begriffen ist.
Natürlich ist individuelle Entfaltung nicht primär an die berufliche Karriere gekoppelt. Das habe ich nirgends behauptet. Bildung ist eine Angelegenheit, die ich denn doch umfassender konzipiert wissen möchte, und zugleich ist Bildung eben auch nicht bloß, wie Herbert Schnädelbach immer zu sagen pflegte, Hölderlin und Blockflöte.
So ist es: Es hat alles seine Schattenseiten. Zumal wenn man zu denen gehört, die nicht vorbehaltlos alles das, was man ihnen vorsetzt, affirmieren. Wie geschrieben: ich sehe mich nicht gehalten, dieses System zu verteidigen. Wer vor lauter individuellen Plänen die Strukturen aus den Augen verliert, mag das tun. Das kann bei verschiedenen Menschen ganz verschiedene Gründe haben. Auch diese Gründe und die Interesselagen lassen sich benennen.
Und soviel noch zum ach so normativen Begriff der Chancengleichheit in unserer ach so kuscheligen Sozialdemokratie:
http://www.deutschlandradiokultur.de/ulrich-schneider-vom-paritaetischen-wohlfahrtsverband-wir.990.de.html?dram%3Aarticle_id=317207
Niemand muss das System verteidigen... Kann sich jeder aussuchen. Sag’ ich ja: die existenziellen Alternativen liegen schon vor. Mir fällt es bis heute schwer, Klugheit vor Polemik walten zu lassen. Ich werd’ noch weiter üben.
@bersarin, # 12
Nicht ihr Habitus: Kann, ja soll man das so formulieren? Ich habe für meinen Teil Scheu davor das irgendjemandem zu- oder abzusprechen (das gehört durchaus zu den Problemen über die gerade diskutiert wird).
Wenn ich etwa an Liebknecht denke, hat man damals (Gothaer Programm) anderen Dingen (zunächst) den Vorzug geben wollen; mir scheint es der Versuch einer Systemänderung zu sein, ohne das System durch eine Revolution zerstören zu wollen (den Versuch fände ich nicht illegitim, weil er auf Gewalt verzichtet und Revolutionen fast immer von skrupellosen, geschickten Demagogen instrumentalisiert werden).
Gemeinschaft ist ein Begriff der etwas Gemeinsames, Geteiltes meint, er schließt ein und aus zur selben Zeit; das setzt einen prinzipiellen Rahmen, der dann konkret und praktisch zu formulieren wäre, hinsichtlich des Feindes wie des Nichtidentischen. Feinde, die ja eine klare Identität besitzen, kann man tolerieren, wenn sie weder mächtig werden, noch ebensolche Mittel besitzen (außer man möchte die eigene Existenz auf’s Spiel setzen); mit dem Nichtidentischen ist es anders: Es löst zwar teilweise feindselige Reaktionen aus, ist das aber eigentlich nicht (es ist das andere, undefinierbare das ebenso existieren möchte, das ist auch eine Frage von »gesellschaftlicher Achtsamkeit«, wobei beide vielleicht sogar verschmelzen können).
Die Analyse der Gesellschaft hängt m.E. weniger am Widerspruch, im Umgang mit ihm zeigt sich eher deren Befindlichkeit oder Tatsächlichkeit.
Parteien nähern sich einander dann an, wenn es für das Erreichen von Mehrheiten notwendig erscheint (oder ist; die CDU ist da ein gutes Beispiel). Ich würde unseren demokratischen Rahmen nicht aufgeben wollen, jedenfalls nicht ohne die Alternative zu kennen, weil er (doch und trotz allem) eine Errungenschaft darstellt (ich bin kein großer Freund von Parteien, kann ihnen aber eine gewisse Notwendigkeit nicht absprechen).
[Die materiellen Errungenschaften schienen mir besonders prägend für bestimmte Selbstverständnisse, deswegen habe ich sie herausgegriffen.]
zu # 15 noch: Bildung kann man nicht erzwingen, die muss man ein Stück weit wollen (die Anwendung von Macht als Mittel der Durchsetzung wird immer kritischer desto mehr sie in einer Hand lokalisiert ist).
Des Weiteren muss man zwischen Bildung und Ausbildung differenzieren (ich behaupte, dass man keine Universität besuchen muss, um gebildet zu sein und dass es viele Absolventen von Universitäten nicht sind; man darf nicht vergessen, dass Universitäten vielfach auch Ausbildung vermitteln und es zudem stark darauf ankommt was man studiert und wie man das tut; das alles soll natürlich nicht heißen, dass jemandem die Chance verweigert werden soll). — Bildung ist im Übrigen ein unabschließbarer Prozess.
Je höher man auf der Karriereleiter klettert, desto geübter muss man die dort üblichen Macht‑, Intrigen- und Informationsspiele spielen können und wollen, auch das spielt eine Rolle (und ist offensichtlich [oder auch nicht] gesellschaftlich gewollt).
@Gregor, # 13
Zu Teilhabe und Macht: Letztere korrumpiert, deswegen muss man bestimmte Vorkehrungen im politischen System einbauen (brauche ich Dir nicht zu sagen); Macht ist nowtwendig um Veränderungen herbeizuführen, als Selbstzweck danach zu streben, halte ich sie für eine Verirrung. Wer politisch denkt, denkt über die Gesellschaft nach in der er lebt, die Entwicklungen, die Veränderungen und Probleme, man stellt das Individuum (und sich selbst) in Bezug zu ihr, das ist eine Art geistige Integration, ich würde das nicht kleinreden wollen (sich aus dem Alltag quasi praktisch aufzuraffen und zu einer lokalen Abstimmung zu gehen ist etwas anderes, hängt aber auch von der Bedeutung der Angelegenheit ab und von den Emotionen die damit verknüpft sind; manche Angelegenheiten sind – wenn überhaupt – nur bezirksrelevant; aber ich gestehe, dass mich internationale oder nationale Angelegenheiten mehr interessieren als lokale).
Zurück zu Steinbrück: Sehr anregendes Gespräch mit Thomas Klapproth im Schweizer Fernsehen
Das Gespräch ist interessant, aber Klapproth vertut zuviel Zeit mit dem Kavallerie-Zitat und Steinbrück kneift, als Klapproth so tut, als fehlte den Griechen nichts als Kapital – und als könne man den Griechen helfen, aber ihre Banken links liegen lassen. – Würde Griechenland – inklusive der Banken – nicht seit Jahrzehnten gestützt – von wo würden die besorgten GriechInnen dann momentan Milliarden Euro abheben, um sie zu bunkern für den Fall X?