Vor einem Vierteljahrhundert deklamierte Nova in Über die Dörfer: Die Natur ist das einzige, was ich euch versprechen kann – das einzig stichhaltige Versprechen. In ihr ist nichts »aus«, wie in der bloßen Spielwelt, wo dann gefragt werden muß: »Und was jetzt?« Sie kann freilich weder Zufluchtsort noch Ausweg sein. Aber sie ist das Vorbild und gibt das Maß: dieses muß nur täglich genommen werden...euer Arbeiten soll ein Wirken sein – gebt etwas weiter. Weitergeben tun aber nur, die was lieben: liebt eines – es genügt für alles. Die Liebe erst ermöglicht die Sachlichkeit. Nur du, Geliebter, giltst. Dich liebend, erwache ich zu mir. Die emphatisch-programmatische Rede, nein: diese Philippika des Poetischen – niemals hat Peter Handke gesellschaftspolitisch konkreteres geschrieben – nahm die Häme von Teilen der Kritik bereits vorweg: Laßt die Illusionslosen böse grinsen: die Illusion ist die Kraft der Vision, und die Vision ist wahr.
Novas Vision ist einfach und doch grundlegend: Der ewige Friede ist möglich. Nichts weniger als eine neues Zeitalter phantasiert der Dichter hier (die Anlehnung an den grossen Philosophen ist natürlich beabsichtigt) – und wenn man Handkes Werk genau betrachtet und (grob verkürzend) auf einen Nenner bringen will, so hat er seitdem niemals mehr von diesem »Projekt« abgelassen. Immer suchen Handkes Protagonisten »ihr Glück« in einer anderen als der Allerwelt (Kali) und so sind seine Bücher fortwährende »Versuche« eines Entkommens; in seinen Journalen lesen wir dann die »Selbst(ver)suche« des Dichters (wie wortmächtig diese Bücher doch sind – erhellend und weitend für den Leser; wirkliche Pretiosen).
Ein Fehler wäre es, Handke eines Eskapismus zu zeihen – genau das macht er nicht bzw. er macht es nur, um einen Blick hinter die Dinge, die Menschen, die Natur werfen zu können; einen, wie er vielleicht sagen würde, notwendigen Blick. Ein Blick, der uns im Alltag schon längst abhanden gekommen ist; verschüttet wurde vom Unrat des Banalen und Einförmigen. Handkes Prosa ist durchdrungen von einer Sehnsucht nach einer entprofanisierten Welt. Man darf das nicht voreilig mit einer »heilen Welt« denunzieren; von einer verkitschten Weltvision ist Handkes Ideal weit entfernt. Er setzt nicht auf die Unterdrückung mephistophelischer Affekte, sondern auf deren Überwindung. Hinwendung zur Natur im Bewusstsein, hier einen Taktgeber, den Taktgeber, finden zu wollen; nicht Natur als vermenschlichten Kulturraum.
Letztlich strebt Handke eine Loslösung von der Abstraktion der Konsum- und Warenwelt unserer Zeit an – hin zu einer wieder »stofflichen« Welt, in dem das soziale Miteinander, das Eingebettetsein in so etwas wie Natur ein »Gesetz« ist; mehr noch: sich sozusagen das Gesetz selber konstituiert und von allen wie selbstverständlich verstanden und gelebt wird.
Seit einigen Jahren sind es bei Handke oft Frauen, die zu solchen Reisen in ein neues Zeitalter, eine neue Welt(erfahrung) aufbrechen. In den 70er/80er-Jahren nur sporadisch, wie in der linkshändigen Frau, der bereits erwähnten Nova in Über die Dörfer (auch interpretierbar als die »weibliche Seite« des Rück- und Heimkehrers Gregor), die starken Frauenfiguren in der Abwesenheit, dann jedoch 2002 mit der Abenteuerin und »Finanzfürstin« (aus dem kleinteiligen Deutschland stammend, dem abwesenden ostdeutschen Geburtsland – ist es eigentlich jemandem aufgefallen, dass Handke, der Deutschenhasser, eine Deutsche zur »Heldin« machte?) in Handkes sperrigstem und ambitioniertesten Buch, dem Bildverlust und der kindlichen (kindlichen?) Lucie in der heiteren Märchenerzählung Lucie im Wald mit den Dingsda. So unterschiedlich diese Protagonistinnen auch sind: sie sind Sucherinnen (die Sängerin in Kali ist – konsequenterweise – dann eine Finderin), mit Missionsdrang (freilich nicht im landläufigen Sinne), Reisende zum sonoren Land (Das Spiel vom Fragen), Verlasserinnen des ihnen Bekannten; ohne Aussicht (oder gar Wunsch) auf Rückkehr. Diese Unumkehrbarkeit verleiht Handkes Protagonisten (und Protagonistinnen) eine Aura von Stärke und gleichzeitig Verletzbarkeit; für den Leser bleibt eine Ungewissheit, ein Schwebezustand bis zum Schluss.
Die namenlose Heldin der jüngsten Erzählung Kali, eine Sängerin, (eine Verwandte Novas oder der Finanzfrau aus dem Bildverlust?) beendet an einem Vorwintertag ihre Konzertsaison, fährt zu ihrer Mutter, begegnet einem Mann, besucht mit ihm eine Kali-Grube (Salzbergwerk) und am Ende findet sie wie zufällig, unbeabsichtigt, das verlorene, verschollene, das einzige Kind und es endet in mit einem grossen Fest und sie entrinnt durch die Liebe dem sicher geglaubten Tod (Überwindung einer Depression? Ja, vielleicht).
Der Plot gibt naturgemäss nicht die Filigranität der Erzählung wieder. Wie so oft wird bei Handke das scheinbar Nebensächliche zur Hauptsache herbeiphantasiert, zur Hauptsache gemacht. Im Nebensächlichen ist das zu finden, was man, pathetisch ausgedrückt (ja, gelegentlich wird es auch pathetisch), die Verbundenheit mit der Welt nennen könnte; freilich einer Welt, die eine andere ist, als die uns gemeinhin umgebende.
Nichts Aktuelles soll in dieses Haus. Immer ging es mir um ganz anderes als die Aktualität. Schon zu meiner Zeit kam mir vor, als würde sie, die verfluchte Aktualität, alles andere, was nicht sie ist, auffressen. Und inzwischen: als sei das Leben außerhalb der Aktualitäten nicht mehr der Rede wert, sei mit keinem Blick mehr zu würdigen, sei kein Gegenstand, keine Sache, kein Thema mehr, dürfe nicht mehr Leben oder Das Leben heißen. [...] Das Leben, es gilt bei euch draußen nicht mehr. Ihr habt das Leben, das einzige große, für null und nichtig erklärt, von euren Tischen gewischt, mitsamt den Tischen. Wie hieß doch einmal ein Satz der Sätze, in den Evangelien oder wo, und hieß so in der Folge immer wieder?: Das Leben ist erschienen. Und jetzt: Das Leben ist verschwunden? Das Leben hat verloren? Ihr glaubt, ich erkenne euch nicht? Ihr bildet euch ein, ich sei blind für euer Treiben?
So spricht die Mutter der Sängerin. Und später, als sie dann den Ort des Kalibergwerks erreicht hat, den grossen Salzberg vor Augen, (das Ziel? Der Salzberg ist Handkes Mont St. Victoire?), lässt Handke die Pfarrerin (wieder eine Frau!) sagen:
Wenn ich für mich bin, mit den Büchern hier, auch ohne sie, ist immer alles voll Sinn, warm von Sinn, heiß, kochheiß. Aber draußen dort und ebenso drinnen dort: weg, verpufft. Allgemeiner Unsinn. Unsinn, der kann ja lustig sein und fröhlich stimmen. Aber der Unsinn dort draußen ist lau und flau. Für meine Generation gibt es nichts Höheres mehr. Und je mehr das trotzdem behauptet wird, desto mehr wird noch der letzte Rest davon vernichtet. Existiert das denn überhaupt noch, eine Generation? Eine Generation im Aufbruch? Eine Pioniergeneration? Oder meinetwegen auch eine verlorene Generation? Eine verkaufte? Eine verratene? Nichts da. Meine sogenannte Generation, und genauso die vor mir, die vielleicht noch schlimmere, die der noch nicht so recht Alten, die auch nie so recht alt sein werden, wir und die, wir richten nichts als Unheil an in den lieben Welt, und das nicht einmal durch unser Tun und Lassen, sondern durch unser bloßes Dasein. Allein durch die Art unseres Daseins, ständig voll da, ständig in der Überzahl, ist unsereiner eine Beleidigung allein schon für das Auge...
Und in dem die Figuren derart ins Reden kommen, erzählen sie sich die Allerwelt (zum letzten Mal sei dieses Wort benutzt) vom Leib. Die Reden sind Beichte und Reinigung, Selbstvergewisserung und Schwur; Kali ist mehr ein dramatisches Gedicht als eine Erzählung; ein Theaterstück – ja vielleicht die Fortschreibung von Über die Dörfer? Der Erzähler, der »Verfolger« der Sängerin, oft genug sie suchend, mehr ein Beschreiber als ein Erzähler; ein Ins-Bild-Setzer und wesenhaft einem guten (einem guten!) Radioreporter ähnlich: Sein Schildern ermöglicht die Teilhabe; beflügelt die Phantasie (auch dann, wenn das Verschüttete aus dem dunklen Salzbergwerk allzu metaphernschwer daherkommt; ein seltener Moment im ansonsten so schön luftigen Buch).
Spielte der Bildverlust noch (vordergründig?) in fiktiven Orten in der spanischen Sierra de Gredos – allerdings in einer nicht definierten Zeit -, so gibt es in Kali eine bewusste Zeit- und Ortlosigkeit. Das sonore Land (?), der Salzberg – die Verirrten, Versprengten, Flüchtlinge (welch’ eine Rede auf [auf!] Flüchtlinge!) – ewig Schiffbrüchige – sie sind Überlebende des Dritten Weltkriegs und doch, wie selten bei Handke (noch nie derart?) der Trost (kein »billiger Trost«, kein »Friede, Freude, Eierkuchen [Andreas Isenschmid in »Kulturzeit«]): das Sprachengewirr der Bergleute ist nicht babylonisch-verwirrend, sondern die Worte werden plötzlich so weit vom Himmel weg – im Bergstollen – sonnenklar; der ewige Friede wird vom Zeitungsjungen wenigstens als Schlagzeile gerufen (in der Zeitung steht es dann doch anders); das Wünschen hat geholfen und am Ende, in der Kirche, die Verwandlung (ein zentraler Topos von Handke), die Pastorin vor dem Volk (ohne Kanzel):
Ich habe es gewusst. Alle die Äpfel auf dem Gartentisch beim ersten Blick aus dem Fenster am Morgen, und ich bin da. Und es ist da. Ich und es sind da. Das Leben ist neu erschienen. Die Träume sind zurückgekommen: Schaut, schaut – hört, hört. Nach all dem Schrecken, dem Grauen: wie sehe ich klarer, wie höre ich besser. Unser Geschichte: aufzugeben? Ausgeträumt? Nein, ich gebe die Geschichte nicht auf. Sie weiterträumen. Ereignete sich denn nicht jener eine göttliche Augenblick in ihr, und ereignet sich der nicht immer wieder, und das ist die wahre Geschichte?
Und dann, im toten Winkel (keine Enklave oder erst recht eine?) heisst es Weg von den Dramen. Weg auch von den Liedern. Und auch genug gepredigt... und es beginnt das Erzählen – und das Buch endet.
Kali ist kein Buch, den notorischen Handke-Ablehner zu befrieden. Das hatten in den 90er Jahren einmal kurz die Versuche geschafft (insbesondere der Versuch über den geglückten Tag). Dem Handke–Adepten setzt es das Werk fort; ein Kontinuum. Die Anspielungen auf vergangene Bücher sind zahlreich und fruchtbar und werden erneuert und erweitert. Relativ neu ist die tröstliche Aussicht, die das Buch am Ende verströmt – die Verwandlungen geschehen und sind nicht nur möglich.
Viele Rezensenten überinstrumentalisieren das Buch mit dem Verweis auf die indische Göttin Kali. Wenn dem so wäre, müsste man von einem mindestens ambivalenten Bildgebrauch Handkes sprechen, denn allzu stark ist die Erlösungs- und Verwandlungsmetaphorik des Christentums in diesem Buch präsent. Handkes Hinwendung zu religiösen Bildern (nicht nur des Christentums) – stetig zu beobachten seit Mein Jahr in der Niemandsbucht 1997 – ist zwar unverkennbar, aber eine spirituell aufgeladene Sinnsuche ist von Handke weder beabsichtigt noch gewünscht.
Mich interessiert jetzt brennend: Woran merkst du das Überinstrumentalisieren?
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Und woran erkenne ich den Unterschied: Der Erzähler ... mehr ein Beschreiber als ein Erzähler.
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Du schreibst so ausführlich über das Buch, dass ich am Ende des letzten Absatzes Lust bekommen habe, es als Ganzes zu lesen. Vielleicht auch deswegen, da ich aus dem Wesen meines Frau seins eher einen Zugang zum Thema Visionen habe, als zur Analyse von Wirtschaftsmechanismen.
Auch wenn es möglicherweise ein deinem Weblog nicht üblich ist:
Liebe Grüße
Rosenherz
Mit Überinstrumentalisierung meine ich, dass in vielen Kritiken die indische Göttin »Kali« von den Rezensenten ins Spiel gebracht wird – obwohl sich im Buch selber kein einziger Hinweis darauf findet; nicht einmal die geringste Spur.
Der Unterschied Beschreiber / Erzähler resultiert daraus, dass es viele fast theaterähnliche Beschreibungen des »Erzählers« gibt.
Auch Dir liebe Grüsse!
Hab’ Dank für deine freundliche Antwort.
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In einem Absatz steht »Das Wünschen hat geholfen«. Dazu erzähle ich dir eine kleine Geschichte, vielleicht findest du gefallen an ihr. Ich hatte ein spezielles Modell eines Füllfederhalters entdeckt, das mir auf Anhieb so gut gefiel, dass ich eines haben mochte. Allerdings lag der Neupreis des guten Stücks über dem eines Monatsgehalts und ich überlegte, ob ich mir das allen Ernstes leisten konnte und entschied mich dafür, eine Neuanschaffung bleiben zu lassen. Stattdessen wünschte ich mir, ich würde dieses eine gesuchte Modell unter Tausenden von Modellen von Füllfederhaltern auf einem mir bekannten Flohmarkt in der Stadt entdecken. Monate hatte ich nicht mehr an meinen Wunsch gedacht, aber eines Morgens traf ich am Bahnhof der Stadt ein und als ich meine Freundin beobachtete, wie sie zum Zug stöckelte, fiel mir diese Geschichte mit dem begehrten Füllfederhalter ein. Kurz entschlossen fuhr ich an den Ort, an dem genau an diesem Tag Flohmarkt abgehalten wurde.
Bereits beim fünften Aussteller von rund vierhundert, an dem cih vorbei gegangen bin, sah ich sogleich ein Etui der gesuchten Marke. Der Betreiber zeigte mir den darin befindlichen Füllfederhalter und erstaunlicherweise der war genau der von mir gesuchte! Stell dir vor, wie gering die Chance ist, einen äußerst seltenen Füllfederhalter an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu finden.
Mit besten Grüßen!
Rosenherz
Schöne Geschichte.
Handke hatte 1974 eine Sammlung kleiner Prosatexte, Gedichte, Bilder mit dem Titel »Als das Wünschen noch geholfen hat« herausgebracht. Diesem Buch vorangestellt das Zitat aus dem Froschkönig der Brüder Grimm: »In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle sehr schön...«
Wer weiss, vielleicht kann man irgendwann einmal Weblogs mit Füller schreiben...