Pe­ter Hand­ke und Ja­kob Böh­me

Es sind in neue­rer Zeit nicht eben vie­le Au­toren, aus de­ren Schrif­ten her­vor­geht, daß Ja­cob Böh­me für sie ein­mal ir­gend von Be­deu­tung ge­we­sen ist, und von den­je­ni­gen der Ge­gen­wart gilt das am au­gen­schein­lich­sten ge­wiß für Pe­ter Hand­ke. Da­bei han­delt es sich in sei­nen Er­zäh­lun­gen und Auf­zeich­nun­gen meist um eher knapp ge­hal­te­ne as­so­zia­ti­ve Be­zug­nah­men – mit­un­ter, wie in der Mo­ra­wi­schen Nacht, bleibt es bei ei­ner ein­zi­gen im Text.1 Auf gleich ei­ne gan­ze Rei­he von sol­chen Hin­wei­sen stößt man da­ge­gen in sei­ner Samm­lung von No­ti­zen aus den Jah­ren 2007–2015, die 2016 un­ter dem Ti­tel Vor der Baum­schat­ten­wand nachts2 von ihm ver­öf­fent­licht wur­den. Daß ich mich im fol­gen­den spe­zi­ell auf sie ein we­nig ge­nau­er ein­las­sen möch­te, be­darf, mit Blick auf den Rah­men, in dem die­ser Text zu ste­hen kommt, si­cher kei­ner be­son­de­ren Er­klä­rung; an­ge­sichts der Viel­fäl­tig­keit der von Hand­ke no­tier­ten Ge­dan­ken und Be­ob­ach­tun­gen er­scheint ei­ne Be­schrän­kung im Stoff oh­ne­hin un­um­gäng­lich. Ein we­nig mehr vom Gan­zen als nur der ge­wähl­te schma­le Aus­schnitt wird sich auch auf die­se Wei­se aber den­noch be­leuch­ten las­sen.

Die ins­ge­samt meh­re­re tau­send »Zei­chen und An­flü­ge«, wie es im Un­ter­ti­tel heißt, um­fas­sen­de Samm­lung von Kurz­tex­ten ist nach der Chro­no­lo­gie ih­rer Ent­ste­hung oder Nie­der­schrift an­ge­ord­net. Ein Groß­teil von ih­nen läßt sich da­bei un­ter zwei­er­lei Ru­bri­ken ein­ord­nen, zum ei­nen: Die um­ge­ben­de Na­tur im Wech­sel der Jah­res­zei­ten, und zum an­dern: Ge­dan­ken zu Ge­le­se­nem (oder Ver­wei­se auf Ge­le­se­nes), wo­durch sich im Ver­lauf des Buchs ein recht ge­nau­es Bild er­gibt (oder viel­leicht auch nur zu er­ge­ben scheint) über die Lek­tü­re­fol­ge in den Jah­ren zwi­schen 2007 und 2015. So fin­den sich über län­ge­re Zeit Ver­wei­se auf, Zi­ta­te aus den Ta­ge­bü­chern von John Chee­ver, spä­ter be­geg­net im­mer wie­der der Na­me Paul Ni­zon, noch spä­ter (u. a.) die »Brü­der Ka­ra­ma­sow«. Ge­gen En­de sind es dann vor al­lem die Zeug­nis­se zum Le­ben Goe­thes, die Hand­ke in ih­ren Bann zie­hen; als er, im Fe­bru­ar 2015 wohl, bei des­sen Tod an­ge­kom­men ist (»›Er such­te die gött­li­che Ru­he in sich her­zu­stel­len‹ [(Rie­mer von G., nach des­sen Ster­ben])« (334), be­ginnt er (»›Ich ha­be euch gar zu lieb, sie­he, ich schrei­be bei Nacht für euch‹ [G. an sei­ne Schwe­ster, 1765 […]]« wie­der »von vor­ne« (336) mit ihm. Und aus die­ser Lek­tü­re der Brie­fe und an­de­ren Le­bens­zeug­nis­se ist im üb­ri­gen auch die dem Buch vor­an­ge­stell­te Wid­mung ge­nom­men: der »Kop­pen­fel­si­sche[] Scheu­nen­gie­bel« stammt, wie man auf ei­ner der letz­ten Sei­ten er­fährt, aus ei­nem Brief an Zel­ter aus dem Jahr 1816 (411).

Ei­ne ei­ge­ne Ab­tei­lung in­ner­halb der Auf­zeich­nun­gen zu Li­te­ra­ri­schem bil­den die Kom­men­ta­re zu und Zi­tie­run­gen von Au­toren, die für ge­wöhn­lich dem Be­reich der My­stik zu­ge­rech­net wer­den. Das gilt, be­sieht man sich die Häu­fig­keit der Nen­nun­gen, im be­son­de­ren Ma­ße für sol­che des mus­li­misch-ara­bi­schen Raums: Ibn ʿA­ra­bī, Al-Gh­aza­li und Al-Min­hadj (u.a. 26, 48, 83f., 94); aus dem Be­reich der christ­li­chen My­stik wer­den je ein­mal Mecht­hild von Mag­de­burg (152) und Ju­an de la Cruz (255) von Hand­ke zi­tiert, und, als ein My­sti­ker der be­son­de­ren Art, weil ei­ner aus un­se­rer Zeit, und er wie­der gleich mehr­mals, der »My­sti­ker Carl­fried­rich Claus« (288), »der Zeich­ner, der Ma­ler« (295), wäh­rend in Op­po­si­ti­on zu ih­nen al­len Goe­the er­scheint, »ent­schlos­se­ner An­ti-My­sti­ker – aber im ›Gro­ßen Krieg‹ zu­gleich ge­gen sich sel­ber?« (343).

Und dann ge­hört in die­se Ab­tei­lung, an die Sei­te von Al-Gh­aza­li, Ju­an de la Cruz und Carl­fried­rich Claus letzt­lich na­tür­lich auch, und das auch, wenn der ent­spre­chen­de Be­griff mit ihm an kei­ner Stel­le ver­bun­den wird, Ja­cob Böh­me. In ins­ge­samt neun der No­ti­zen geht es (zu­min­dest auch) um ihn, in der er­sten und drit­ten sind es Text­aus­zü­ge, die Hand­ke sich no­tiert:

»›Der eig­ne Wil­le ma­chet ei­ne Form nach sei­ner in­ste­hen­den Na­tur / Aber im ge­las­se­nen Wil­len wird ei­ne Form nach dem Mo­dell der Ewig­keit ge­macht‹ (Ja­kob Böh­me)« (7)

»›Die Form der Zeit‹ (Ja­kob Böh­me): ›… dar­an seynd al­le ding er­schie­nen / auff daß die Ewig­keit in ei­ner Zeit of­fen­bar wer­de …‹« (18)

Die bei­den Zi­ta­te stam­men aus ei­ner zu­sam­men­hän­gen­den Pas­sa­ge der 1622 fertig­gestellten Schrift Von der Ge­burt und Be­zeich­nung al­ler We­sen (la­ti­ni­siert: De si­gna­tu­ra rer­um), die in der Aus­ga­be von 1730 in fol­gen­dem Wort­laut wie­der­ge­ge­ben wird:

»Dann es ist al­les aus Lust er­bo­ren wor­den, al­so solls auch in der Lust sei­ne End­schaft neh­men, und ei­ne ie­de Lust ihr ge­mach­tes Werck ein­ern­ten, dann dar­zu sind al­le Ding er­schie­nen, auf­daß die Ewig­keit in ei­ner Zeit of­fen­bar wer­de: Mit Wun­dert­hat hat sichs in die Form der Zeit ein­ge­füh­ret, und mit Wun­dert­hat füh­ret sichs wie­der aus der Zeit in ih­ren er­sten Lo­cum ein. Al­le Din­ge ge­hen wie­der in das ein, dar­aus sie ge­gan­gen sind; aber ihr ei­gen Form und Mo­del, wie sie sich im aus­ge­spro­che­nem Hal­le ha­ben ein­ge­füh­ret, be­hal­ten sie, und wird auch ein ie­des Ding von sei­ner Gleich­heit ein­ge­nom­men wer­den, und ist das En­de al­ler Zeit: Der ei­ge­ne Wil­le ma­chet ei­ne Form nach sei­ner in­ste­hen­den Na­tur, aber im ge­las­se­nen Wil­len wird ei­ne Form nach dem Mo­del der Ewig­keit ge­macht; wie es vor den Zei­ten der Welt in der ewi­gen Weis­heit GOt­tes im Spie­gel ist er­kant wor­den; al­so fi­gur­i­rets der ewi­ge Wil­le in ein Mo­del sei­ner Gleich­heit zu GOt­tes Eh­re und Wun­dert­hat: Dann al­les was in sei­ne Selb­heit ein­ge­het, das for­met sich sel­ber: was sich aber frey läs­set, das wird vom frey­en Wil­len ge­for­met, so mag doch kei­ne ei­ge­ne Form mit ei­ge­nem Wil­len das ei­ni­ge We­sen er­ben, dann wo zween Wil­len in Ei­nem sind, da ist Wie­der­wil­le.«3

Ge­gen­stand des Text­aus­zugs, und da­mit wohl auch des In­ter­es­ses von Hand­ke, ist, wo­von al­le My­stik in ähn­li­cher Wei­se als ih­rem Ei­gent­li­chen be­rich­tet. Bei Böh­me nimmt es in et­wa die fol­gen­de Ge­stalt an: So wie Zeit und Ewig­keit zwei un­ver­ein­ba­re Ge­gen­sät­ze bil­den und doch das ei­ne aus dem an­de­ren her­vor­ge­gan­gen ist, so steht auch der ei­ge­ne Wil­le als das Si­gnum all des­sen, was in der Zeit sich ent­fal­tet, dem frei­en oder ge­las­se­nen Wil­len als dem gött­li­chen Wil­len im Ewi­gen als ein von ihm Ab­ge­son­der­tes ge­gen­über. Nur mit­un­ter und je­den­falls nicht für die Dau­er mag es dem Men­schen ein­mal ge­lin­gen, sei­ne »Selb­heit« zu über­win­den und den ei­ge­nen Wil­len mit dem ei­ni­gen Wil­len und We­sen ei­nes wer­den zu las­sen. Doch ist der ge­wöhn­li­che Zu­stand der Ab­ge­trennt­heit oder des Wid­ri­gen da­mit kei­nes­wegs ei­ner, mit dem man sich not­ge­drun­gen eben ab­zu­fin­den hat oder den man (ver­gleichs­wei­se) gar als Un­glück er­fah­ren muß. Denn, um hier noch ein­mal den zwei­ten der bei­den Böh­me-Hand­ke-Tex­te zu zi­tie­ren, da­zu sind ja »al­le ding er­schie­nen / auff daß die Ewig­keit in ei­ner Zeit of­fen­bar wer­de«, was zu­ge­spitzt auch so ver­stan­den wer­den darf: Nur so, näm­lich in­dem die Viel­heit der Din­ge und ih­rer Eigen­willen in der Zeit er­schien, war es der Ewig­keit mög­lich, sich als das Ei­ne und in ih­rem ei­nen Wil­len zu of­fen­ba­ren. Und in ihn als »in ih­ren er­sten Lo­cum« fin­den al­le Din­ge am »En­de al­ler Zeit« wie­der zu­rück.

Das Ein­ver­ständ­nis, zu dem Böh­me im Glau­ben an die­se von ihm be­schrie­be­ne Ord­nung ge­langt, teilt Hand­ke nicht (oder we­nig­stens teilt er es nicht im­mer). In zwei wei­te­ren sei­ner Auf­zeich­nun­gen äu­ßert er sei­ne Vor­be­hal­te zur Gül­tig­keit von Böh­mes Leh­re. Die ei­ne von ih­nen lau­tet:

»Nichts hallt mehr, Ja­kob Böh­me. Kein Echo mehr« (112)

Auch die­se An­mer­kung könn­te noch von der Pas­sa­ge aus De si­gna­tu­ra rer­um an­ge­regt sein, denn auch in ihr war ja von ei­nem »Hall« die Re­de: »Al­le Din­ge ge­hen wie­der in das ein, dar­aus sie ge­gan­gen sind; aber ihr ei­gen Form und Mo­del, wie sie sich im ausge­sprochenem Hal­le ha­ben ein­ge­füh­ret be­hal­ten sie, und wird auch ein ie­des Ding von sei­ner Gleich­heit ein­ge­nom­men wer­den, und ist das En­de al­ler Zeit«. Hall, das ist für Böh­me (u.a.) so­wohl das, was die Din­ge in ih­rem We­sen kon­sti­tu­iert, das­je­ni­ge al­so, was, so­zu­sa­gen, als ihr We­sen in sie ein­ge­spro­chen wur­de, wie auch das, was, nach Art ei­nes Wi­der­halls oder Echos, aus ih­nen wie­der her­vortönt, ei­ne Form der Si­gna­tur al­so, mit der sie gar nicht an­ders kön­nen, als ihr In­ner­stes zum Aus­druck zu brin­gen, oder an­ders, sich sel­ber zu of­fen­ba­ren. Und wenn Hand­ke ein sol­ches Echo er­klär­ter­ma­ßen nicht mehr ver­nimmt, dann könn­te das ent­we­der be­deu­ten, daß er meint, daß das Sen­so­ri­um für ein sol­ches Ver­neh­men im Lau­fe der Jahr­hun­der­te ab­han­den ge­kom­men ist, oder, wie ich eher ver­mu­te, daß er den Zu­sam­men­hang zwi­schen ei­nem Ewi­gen, das sich in die Zeit ein­ge­führt hat, und ei­ner Er­schei­nung, die sich als Si­gna­tur des­sen zu er­ken­nen gibt, ein Zu­sam­men­hang, der für Böh­me noch selbst­ver­ständ­lich war, für sich oder für die heu­ti­ge Zeit in Ab­re­de stellt.

Die Kri­tik wür­de da­mit in ei­ne ähn­li­che Rich­tung wei­sen wie die der an­de­ren der bei­den ab­leh­nen­den Kom­men­ta­re. Dort heißt es:

»Dein ist gar nichts, dein sind nicht die Ster­ne, selbst wenn du Glanz hast für den Glanz der Fer­ne (für Ja­kob Böh­me und Chri­sti­an Wag­ner)« (14)

Dies­mal nicht von Böh­me stammt das Zi­tat, auf das Hand­ke hier zu­rück­greift, son­dern vom mit­ge­nann­ten Chri­sti­an Wag­ner, ei­nem vor al­lem durch sei­ne Ly­rik her­vor­ge­tre­te­nen Dich­ter des spä­te­ren neun­zehn­ten und be­gin­nen­den zwan­zig­sten Jahr­hun­derts aus dem schwä­bi­schen Warm­bronn. In des­sen Ge­dicht »Os­walds Ver­mächt­niß« lau­tet näm­lich die dritt­letz­te Stro­phe:

»Dein ist Al­les, was in Thal und Hü­geln
Licht­voll sich in dir kann wie­der­spie­geln;
Dein die Him­mel selbst, und selbst die Ster­ne,
Wann du Glanz hast für den Glanz der Fer­ne.»4

In­dem die ent­schie­de­ne Ne­ga­ti­on die­ser Aus­sa­ge na­ment­lich auch Böh­me tref­fen soll, ist es auch hier wohl wie­der spe­zi­ell des­sen Si­gna­tu­renleh­re, die Leh­re von der Ent­spre­chung von In­nen und Au­ßen, die Hand­ke im Blick hat. Und wenn es zu­vor – oder in der Chrono­logie der Auf­zeich­nun­gen da­nach – die laut­lich-aku­sti­sche Äu­ße­rungs­form des als Echo zu­rück­ge­wor­fe­nen Halls war, auf die sich sei­ne Zu­rück­wei­sung be­zog, so ist es nun, ganz par­al­lel, der Glanz und da­mit die Wi­der­spie­ge­lung von Sicht­ba­rem im Men­schen.

Und auch in ei­ner wei­te­ren No­tiz noch zu Böh­me scheint Hand­ke bei die­sem The­ma zu blei­ben. Es ist ei­ne von zwei­en, in de­nen er ihn mit dem im an­da­lu­si­schen Mur­cia des Jah­res 1165 ge­bo­re­nen ara­bi­schen My­sti­ker Muhy­id­din Ibn ʿA­ra­bī zu­sam­men­bringt, ei­nem Ge­lehr­ten, den sei­ne lang­jäh­ri­gen Rei­sen durch die Län­der des Vor­de­ren und Mitt­le­ren Ori­ents, nach Mek­ka, Da­mas­kus und Konya etc. führ­ten, der in sei­nen Schrif­ten in An­leh­nung an die nächt­li­che Rei­se Mo­ham­meds vor al­lem aber eben­falls von den in­ne­ren spi­ri­tu­el­len Rei­sen be­rich­tet:

»›Der Ge­schmack ist ei­ne Theo­pha­nie, und die Theo­pha­ni­en er­eig­nen sich in den For­men‹ (Ibn ʿA­ra­bī; im­mer wie­der Ibn ʿA. und Ja­kob Böh­me)« (26)

Ein drit­tes Mal ist es das Mo­tiv der Er­schei­nung Got­tes im Men­schen, das Hand­ke hier auf­greift, und zwar nach Hö­ren und Se­hen mit der Emp­fin­dung des Schmeckens in Form auch ei­ner drit­ten sinn­li­chen Er­fah­rungs­wei­se, dies aber nun­mehr, ganz of­fen­sicht­lich, oh­ne Bei­mi­schung von Skep­sis oder gar Ab­leh­nung. Im Ge­gen­teil zeugt das »im­mer wie­der« vor der (noch­ma­li­gen) na­ment­li­chen Nen­nung ein­zig von ei­ner Hoch­schät­zung der bei­den Au­toren. Und das gilt eben­so auch für die zwei­te No­tiz, in der Hand­ke sie (zu­sam­men mit ei­nem drit­ten dies­mal; zum Mus­lim und Chri­sten kommt noch ein Ju­de) aufs eng­ste ver­bin­det:

»›… wer sei­ne Be­gei­ste­rung ver­ehrt und sie als die Gott­heit an­sieht‹ (Ibn ʿA­ra­bī); s.o.; und was ist nach Ibn ʿA­ra­bī die Be­gei­ste­rung? ›Ein Wil­le, be­glei­tet von Lie­be‹ (hier ist er mit Ja­kob Böh­me und Spi­no­za eins)« (24)

Von ganz an­de­rer Art ist dem­ge­gen­über die fol­gen­de Er­wäh­nung Böh­mes:

»Tag­wer­den im Tag: Ein Ge­gen­über nimmt Ge­stalt an – wird mir ein Ge­gen­über – und wenn’s auch jetzt bloß das Lin­den­holz­sta­tu­ett­chen des Ja­kob Böh­me aus Gör­litz vor mir auf dem Tisch ist – es nimmt Ge­stalt an – und Ge­stalt nimmt an der Tag – Tag wird im Tag« (255)

Bei der Ge­stalt auf dem Tisch han­delt es sich, neh­me ich an, um ei­ne Fi­gur aus der Hand des 2014 ver­stor­be­nen Holz­schnit­zers Karl-Heinz Krauß, dem man in ei­nem La­den auf dem Gör­lit­zer Un­ter­markt, wo sei­ne klei­nen Skulp­tu­ren zu er­ste­hen wa­ren, bei der Ar­beit zu­schau­en konn­te. Daß Hand­ke von da­her wohl (we­gen Böh­me?) auch Gör­litz auf sei­nen Rei­sen ein­mal be­sucht hat, be­stä­tigt er sel­ber in ei­ner wei­te­ren, dies­mal wie­der Böh­me ei­gens ge­wid­me­ten Re­fle­xi­on:

»Wo er­eig­nen sich Ru­he und Vi­brie­ren in ei­nem? In der Freu­de. Sie ist Ru­he, und Hinvi­brie­ren. Wo­hin? Hin (Gral). Und was heißt ›hin‹? Auf! Im ›Hin‹ er­eig­net sich zu­gleich das ›Auf!‹, ist dar­in ›in­be­grif­fen‹ (no­tiert in Gör­litz an der Nei­ße, für Ja­kob Böh­me)« (248)

Der hier zen­tra­le Be­griff der Freu­de ist ei­ner un­ter den be­son­ders häu­fig be­geg­nen­den der Samm­lung, viel­leicht ist es so­gar der­je­ni­ge, an den die mei­sten Ge­dan­ken im Buch ge­knüpft wer­den; im­mer wie­der sucht Hand­ke, der Wich­tig­keit, die der be­zeich­ne­ten Emp­fin­dung für ihn un­mit­tel­bar zu­kommt, in­tel­lek­tu­ell auf die Spur zu kom­men:

»Mei­ne im­mer un­ver­mu­te­te, mich im Gu­ten über­ra­schen­de Freu­de, als Ver­dop­pe­lung, oder Ver­schwi­ste­rung von Ich und Welt, ist oft ver­bun­den, oder sie ent­steht und er­steht aus ei­nem Bild der Erd­welt, ei­ner ir­di­schen Land­schaft IM FRIEDEN« (154)

»Freu­de: Das Da­sein, das Exi­stie­ren holt mich ein und bleibt für den Freu­den­au­gen­blick gleich auf gleich mit mir« (339)

»Ist das Al­tern? Et­was wie ei­ne ›Rest­freu­de‹ wallt auf von Zeit zu Zeit? Und kann es aber sein, daß die­ser Rest Freu­de un­er­schöpf­lich ist? Gibt es so et­was: ei­nen uner­schöpflichen Rest? – Die­se Fra­ge ein­mal nicht mir al­lein, son­dern dem ›Rest der Welt‹! (Und die An­mer­kung Ta­ge da­nach: Im­mer noch zum Wei­nen vie­le Freu­den) (390)

Und so­zu­sa­gen ei­ne Un­ter­grup­pe in­ner­halb der Tex­te zu die­ser Emp­fin­dung bil­den dann noch je­ne, in de­nen Hand­ke den Be­griff mit dem des Glücks kon­fron­tiert, wo­bei die Freu­de in die­sen Ver­glei­chun­gen als die für ihn of­fen­sicht­lich tie­fer rei­chen­de, als die be­stän­di­ge­re von bei­den durch­weg bes­ser ab­schnei­det: »Der Glücksjä­ger – der Freu­dengärt­ner« (50); »Freu­de: Form; Glück: Un­form?« (55); »Le­bens­zeit: Die Epo­che der Glücks­fä­hig­keit setz­te bei mir gar spät ein, und war nur von kur­zer Dau­er, ge­folgt (?), ab­ge­löst (?), über­ge­hend in je­ne der Freu­den­fä­hig­keit, dau­er­haf­ter« (229).

Und ähn­lich eben auch für Böh­me – dar­auf mag die in Gör­litz no­tier­te Zu­eig­nung an ihn hin­deu­ten – han­delt es sich bei der Freu­de nicht um ei­ne nur flüch­tig aus dem gewöhn­lichen Da­sein oder aus »der ir­di­schen Land­schaft«, aus der Be­grenzt­heit, an die der Ei­gen­wil­le haf­ten läßt, hin­aus­füh­ren­de oder her­aus­he­ben­de Emp­fin­dung.5 Denn: »Das ist freu­de / wen die Na­tur als der eig­ne wil­le von pein er­lö­set wirt / so freu­et Er sich des gut­ten / welchs ih­me wi­der feh­ret«.6 Wie über­haupt aus Böh­mes Ge­brauch des Be­griffs deut­lich her­vor­geht, daß die Freu­de für ihn ei­gent­lich ei­ner ganz an­de­ren Sphä­re an­ge­hört. Auf die Fra­ge, zu wel­chem En­de Gott die En­gel und Men­schen er­schaf­fen ha­be, gibt er sich sel­ber und uns die Ant­wort: »[…] als zu sei­ner Wun­dert­hat, daß er­schei­ne die Weis­heit der Gött­li­chen Kraft, und daß sich GOtt in Bild­nis­sen der Crea­tu­ren schaue, und sei­ne Freu­de in sich sel­ber, mit dem Ge­schöp­fe aus sei­ner Weis­heit ha­be.«7

Die neun­te und letz­te No­tiz schließ­lich, in der Böh­me na­ment­lich er­scheint, ist die fol­gen­de:

»›mi­nu­te man‹: Wer im ame­ri­ka­ni­schen Frei­heits­krieg des 18. Jahr­hunderts, als Bau­er auf dem Acker, als Zim­mer­mann auf dem Dach, von ei­ner Mi­nu­te zur an­dern al­les ste­hen und lie­gen ließ, um sich als Sol­dat der Ar­mee an­zu­schlie­ßen. – Und ein an­de­rer, ein eu­ro­päi­scher »mi­nu­te man«, im 16. Jahr­hun­dert: Ja­kob Böh­me, Schu­ster in Gör­litz, der auf den Ruf von ei­ner Mi­nu­te zur an­dern – so tag­träu­me ich – die Schu­he Schu­he sein ließ und sich auf­mach­te zum Schrei­ben des Buchs« (277)

Was von der (schrei­ben­den) Nach­welt, aber auch schon von den Zeit­ge­nos­sen, mit­un­ter ger­ne ge­flis­sent­lich nicht zur Kennt­nis ge­nom­men wur­de, hier bil­det es den Mit­tel­punkt der Aus­sa­ge: Als Ja­cob Böh­me an­fing zu schrei­ben, war er be­reits kein Schu­ster mehr; das Schu­he-Schu­he-sein-Las­sen, das (bild­lich ge­spro­chen) Schu­he-Aus­zie­hen und fort­an Un­be­schuht-Sein war für ihn so of­fen­bar ei­ne der Vor­aus­set­zun­gen für das Schrei­ben »des Buchs«. Daß Hand­ke hier der­art Schu­he und Schrei­ben zu­ein­an­der in Be­zie­hung setzt, ist in­so­fern in­ter­es­sant, als das Bar­fuß­lau­fen für ihn mehr­mals The­ma sei­ner Auf­zeich­nun­gen ist. In der fol­gen­den geht es da­bei zu­dem um den sorg­sa­men Um­gang mit den (unschein­baren) Din­gen:

»Zeit­schwel­le im Jahr: der Tag, an dem un­ver­se­hens aus den al­ler­wärts knos­pen­den Blät­tern ein Laub­kleid ge­wor­den ist – das jetzt und jetzt vom Wind auf­ge­wühlt wird, wie ge­ra­de das ein­tä­gi­ge Laub der Ka­sta­nie; und ei­ne an­de­re Zeit­schwel­le im Jahr: die er­sten Gän­se­blüm­chen zwi­schen den Ze­hen beim Bar­fuß­lau­fen im Gar­ten. ›Laß blü­hen!‹« (30)

Ei­ne wei­te­re Auf­zeich­nung da­ge­gen ist von am­bi­va­len­te­rer Na­tur:

»Seit je­her bin ich in den Träu­men ein Bar­fü­ßi­ger, oder eher ein Un­be­schuh­ter. Und war­um ist das je­des­mal ein Alp­traum? – Traum­deu­ter sich zu ent­hal­ten!« (211)

Ei­ne drit­te schließ­lich klingt me­lan­cho­lisch:

»Das Bar­fuß­ge­hen, ach ja, das Bar­fuß­ge­hen: Es ent­spricht mir nicht mehr. Es hat mir ein­mal ent­spro­chen. Jetzt aber ist sie ge­kom­men, die Zeit des fe­sten Schuh­werks, nicht bloß un­ter­wegs in den Wäl­dern und Wü­ste­nei­en, son­dern auch in Gar­ten und Haus« (395)

Wäh­rend Böh­me (zeit sei­nes Le­bens) Schu­he Schu­he sein läßt, kehrt Hand­ke nach ei­ner lan­gen Zeit des Bar­fuß­ge­hens wie­der zum fe­sten Schuh­werk zu­rück. Oh­ne hier et­was, das man un­ter an­de­rem Blick­win­kel viel­leicht als be­deu­tungs­los ab­tun könn­te, überstrapa­zieren zu wol­len: Die von Hand­ke selbst re­flek­tier­te Be­ob­ach­tung paßt gut ins Bild sei­ner Aus­ein­an­der­set­zung mit den al­ten My­sti­kern und lenkt den Blick auf ein wohl unaufheb­bar Tren­nen­des: Wo Böh­mes Schrif­ten ein­zig von der als sol­cher emp­fun­de­nen Wahr­heit sei­ner Leh­re und da­mit auch der Rich­tig­keit des ei­ge­nen We­ges kün­den, schwankt Hand­ke (und die­ses Schwan­ken, das nicht ab­zu­stel­len­de Zwei­feln mag dem­ge­gen­über als die Be­stän­dig­keit un­se­rer Zeit gel­ten kön­nen) zwi­schen den Ex­tre­men »im­mer wie­der Ibn ʿA. und Ja­kob Böh­me« und: »nichts hallt mehr, Ja­kob Böh­me«, »dein ist gar nichts, dein sind nicht die Ster­ne« hin und her. Viel­leicht ge­schieht es ja so­gar, im Ge­gen­satz zu je­ner ei­nen un­wi­der­ruf­li­chen Ent­schie­den­heit der »mi­nu­te men«, von ei­ner Mi­nu­te zur an­dern. Und die Fas­zi­na­ti­on, die von ih­nen au­gen­schein­lich aus­geht in dem von Hand­ke im­mer wie­der mit ih­nen auf­ge­grif­fe­nen und fest­ge­hal­te­nen Dia­log – sie wird so nicht zu­letzt die­ser Selbst­ge­wiß­heit ge­schul­det sein, mit der sie ih­rem nicht eben­so un­be­irr­ba­ren Ge­sprächs­part­ner ge­gen­über­tre­ten, un­be­schuht, und das bis zum En­de ih­res Gan­ges.

© Gün­ther Bon­heim


  1. "Wenn überhaupt etwas, konnte er nur das werden, ausüben und immer weiterüben, was sein Ureigenes oder, frei nach Jakob Böhme, sein Urstand war, oder, mit wieder anderen Worten, sein schönes und schreckliches Problem." (Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 541. 

  2. Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015 - Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2016, im weiteren Verlauf des Textes Zitate ohne Sigle, nur mit Seitenzahl 

  3. De signatura rerum (P VI), S. 228 (Cap. 15, Abs. 48f.). 

  4. Christian Wagner: Oswalds Vermächtniß. In: Christian Wagner: Sonntagsgänge . Kirchheim unter Teck: Jürgen Schweier, 1976, zweiter Theil S. 82f 

  5. Der Begriff Glück spielt demgegenüber in Böhmes Schriften keine Rolle. 

  6. Von der Gnaden wahl (B II), S. 103f.  

  7. An Paul Kaym II (P V), S. 428 (Abs. 14). 

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  1. Um nur ei­ne An­re­gung auf­zu­grei­fen, die Fra­ge von Hand­ke (aus 390) kann ich be­ant­wor­ten, ob­wohl er sie wenn ich es recht ver­ste­he schon vor­weg­nimmt:
    »Ja, es gibt ei­nen un­er­schöpf­li­chen Rest!«
    Raf­fi­nier­te Fra­ge, Ant­wort und Lö­sung zu­gleich.

    P.S.: Ich wuss­te nicht, dass Hand­ke von den My­sti­kern fas­zi­niert ist, Dan­ke an Gün­ther Bon­heim.

  2. »Fas­zi­niert« ist viel­leicht ei­ne Spur zu hoch ge­grif­fen. Viel­leicht »in­spi­riert«? (Es gibt ja nur neun di­rek­te Ein­tra­gun­gen in der Baum­schat­ten­wand zu Böh­me auf mehr als 400 Sei­ten.) Aber be­reits in den 1970ern be­schäf­tig­te sich Hand­ke mit den My­sti­kern wie Mei­ster Eck­hart oder Ru­dolf Ot­to be­schäf­tig­te. Auf Böh­me kam er wohl bei der Hin­wen­dung zu Goe­the.

    Stark in­ter­es­siert ist Hand­ke üb­ri­gens am is­la­mi­schen Su­fis­mus, was sich in sei­nen Zi­ta­ten zu Ibn Ara­bi zeigt (im Ver­lag Jung und Jung, in dem die Baum­schat­ten­wand er­schien, wur­de fast zeit­gleich auch ein Band mit Ge­dich­ten von Ibn Ara­bi her­aus­ge­bracht). Span­nend an die­sem Auf­satz fin­de ich, wie ge­zeigt wird, wie Hand­ke die­se bei­den My­sti­ker »zu­sam­men­bringt«.

  3. Ibn Ara­bi ist mir auch schon un­ter­ge­kom­men. Lan­ge her.
    Die Wür­di­gung der bei­den My­sti­ker aus Is­lam und Chri­sten­tum ist ein deut­li­cher Hin­weis für ei­ne mög­li­cher­wei­se kon­fes­si­ons-über­schrei­ten­de Form der My­stik.
    Aber das be­trifft nur die bei­den Au­toren, Hand­ke hat ein of­fen­bar lau­ni­sches Ver­hält­nis da­zu, oder bes­ser ge­sagt, In­spi­ra­ti­on und Di­stanz­ge­bah­ren kom­bi­nie­ren sich in ein und dem­sel­ben Ge­fü­ge. Wel­cher Idee zu­fol­ge müss­te man An­fang des 21. Jahr­hun­derts noch My­sti­ker »iro­ni­sie­ren« oder gar kon­fron­tie­ren?! Die ei­ge­ne re­li­giö­se Na­tur ist ihm of­fen­bar un­ge­heu­er.
    Der Su­fis­mus wird ja ge­ra­de als »kom­pa­ti­ble Va­ri­an­te des Is­lam« durch’s Feuil­le­ton ge­trie­ben! Wie scha­de... Ich glau­be in der Tat, dass die Kon­fes­si­on kei­ne star­ke Dif­fe­renz dar­stellt, was Va­ri­an­ten der My­stik an­geht, und das scheint Hand­ke auch span­nend zu fin­den.

  4. @Sophie
    »In ei­ner stil­len Nacht ging ich aus mei­nem Haus« be­ginnt mit ei­nem my­sti­schen Er­leb­nis und en­det auf ähn­li­che Art. Das Buch ent­hält vie­le mehr oder we­ni­ger ver­steck­te Zi­ta­te von My­sti­kern, vor al­lem der al­ten spa­ni­schen.
    Aber schon den ma­gi­schen Mo­ment in »Die Stun­de der wah­ren Emp­fin­dung« kann man als my­sti­sches Er­weckungs­er­leb­nis deu­ten.
    Im üb­ri­gen kann ich mir vor­stel­len, daß Hand­ke durch die ein­fa­che, bo­den­stän­di­ge Her­kunft Böh­mes an­ge­zo­gen war. Ich glau­be, er sah und sieht sich in sol­cher Tra­di­ti­on, der groß­vä­ter­li­chen ge­wis­ser­ma­ßen.

  5. Die un­ge­teilt po­si­ti­ve Aus­sa­ge ist für mich die über­ra­schend­ste, auch weil sie sehr schwer­ge­wich­tig ist:
    »›Der Ge­schmack ist ei­ne Theo­pha­nie, und die Theo­pha­ni­en er­eig­nen sich in den For­men‹ (Ibn ʿA­ra­bī; im­mer wie­der Ibn ʿA. und Ja­kob Böh­me)« (26)

    Hier gibt Hand­ke of­fen­bar sei­ne Zu­rück­hal­tung, sein Di­stanz­be­dürf­nis auf. Das No­tat ver­rät, dass er die schöp­fe­ri­sche Bru­der­schaft von Dich­tung und My­stik an­er­kennt. Al­lein die Aus­sa­ge von Ibn ʿA­ra­bī im­pli­ziert ja schon die Ver­wandt­schaft.