Es sind in neuerer Zeit nicht eben viele Autoren, aus deren Schriften hervorgeht, daß Jacob Böhme für sie einmal irgend von Bedeutung gewesen ist, und von denjenigen der Gegenwart gilt das am augenscheinlichsten gewiß für Peter Handke. Dabei handelt es sich in seinen Erzählungen und Aufzeichnungen meist um eher knapp gehaltene assoziative Bezugnahmen – mitunter, wie in der Morawischen Nacht, bleibt es bei einer einzigen im Text.1 Auf gleich eine ganze Reihe von solchen Hinweisen stößt man dagegen in seiner Sammlung von Notizen aus den Jahren 2007–2015, die 2016 unter dem Titel Vor der Baumschattenwand nachts2 von ihm veröffentlicht wurden. Daß ich mich im folgenden speziell auf sie ein wenig genauer einlassen möchte, bedarf, mit Blick auf den Rahmen, in dem dieser Text zu stehen kommt, sicher keiner besonderen Erklärung; angesichts der Vielfältigkeit der von Handke notierten Gedanken und Beobachtungen erscheint eine Beschränkung im Stoff ohnehin unumgänglich. Ein wenig mehr vom Ganzen als nur der gewählte schmale Ausschnitt wird sich auch auf diese Weise aber dennoch beleuchten lassen.
Die insgesamt mehrere tausend »Zeichen und Anflüge«, wie es im Untertitel heißt, umfassende Sammlung von Kurztexten ist nach der Chronologie ihrer Entstehung oder Niederschrift angeordnet. Ein Großteil von ihnen läßt sich dabei unter zweierlei Rubriken einordnen, zum einen: Die umgebende Natur im Wechsel der Jahreszeiten, und zum andern: Gedanken zu Gelesenem (oder Verweise auf Gelesenes), wodurch sich im Verlauf des Buchs ein recht genaues Bild ergibt (oder vielleicht auch nur zu ergeben scheint) über die Lektürefolge in den Jahren zwischen 2007 und 2015. So finden sich über längere Zeit Verweise auf, Zitate aus den Tagebüchern von John Cheever, später begegnet immer wieder der Name Paul Nizon, noch später (u. a.) die »Brüder Karamasow«. Gegen Ende sind es dann vor allem die Zeugnisse zum Leben Goethes, die Handke in ihren Bann ziehen; als er, im Februar 2015 wohl, bei dessen Tod angekommen ist (»›Er suchte die göttliche Ruhe in sich herzustellen‹ [(Riemer von G., nach dessen Sterben])« (334), beginnt er (»›Ich habe euch gar zu lieb, siehe, ich schreibe bei Nacht für euch‹ [G. an seine Schwester, 1765 […]]« wieder »von vorne« (336) mit ihm. Und aus dieser Lektüre der Briefe und anderen Lebenszeugnisse ist im übrigen auch die dem Buch vorangestellte Widmung genommen: der »Koppenfelsische[] Scheunengiebel« stammt, wie man auf einer der letzten Seiten erfährt, aus einem Brief an Zelter aus dem Jahr 1816 (411).
Eine eigene Abteilung innerhalb der Aufzeichnungen zu Literarischem bilden die Kommentare zu und Zitierungen von Autoren, die für gewöhnlich dem Bereich der Mystik zugerechnet werden. Das gilt, besieht man sich die Häufigkeit der Nennungen, im besonderen Maße für solche des muslimisch-arabischen Raums: Ibn ʿArabī, Al-Ghazali und Al-Minhadj (u.a. 26, 48, 83f., 94); aus dem Bereich der christlichen Mystik werden je einmal Mechthild von Magdeburg (152) und Juan de la Cruz (255) von Handke zitiert, und, als ein Mystiker der besonderen Art, weil einer aus unserer Zeit, und er wieder gleich mehrmals, der »Mystiker Carlfriedrich Claus« (288), »der Zeichner, der Maler« (295), während in Opposition zu ihnen allen Goethe erscheint, »entschlossener Anti-Mystiker – aber im ›Großen Krieg‹ zugleich gegen sich selber?« (343).
Und dann gehört in diese Abteilung, an die Seite von Al-Ghazali, Juan de la Cruz und Carlfriedrich Claus letztlich natürlich auch, und das auch, wenn der entsprechende Begriff mit ihm an keiner Stelle verbunden wird, Jacob Böhme. In insgesamt neun der Notizen geht es (zumindest auch) um ihn, in der ersten und dritten sind es Textauszüge, die Handke sich notiert:
»›Der eigne Wille machet eine Form nach seiner instehenden Natur / Aber im gelassenen Willen wird eine Form nach dem Modell der Ewigkeit gemacht‹ (Jakob Böhme)« (7)
»›Die Form der Zeit‹ (Jakob Böhme): ›… daran seynd alle ding erschienen / auff daß die Ewigkeit in einer Zeit offenbar werde …‹« (18)
Die beiden Zitate stammen aus einer zusammenhängenden Passage der 1622 fertiggestellten Schrift Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen (latinisiert: De signatura rerum), die in der Ausgabe von 1730 in folgendem Wortlaut wiedergegeben wird:
»Dann es ist alles aus Lust erboren worden, also solls auch in der Lust seine Endschaft nehmen, und eine iede Lust ihr gemachtes Werck einernten, dann darzu sind alle Ding erschienen, aufdaß die Ewigkeit in einer Zeit offenbar werde: Mit Wunderthat hat sichs in die Form der Zeit eingeführet, und mit Wunderthat führet sichs wieder aus der Zeit in ihren ersten Locum ein. Alle Dinge gehen wieder in das ein, daraus sie gegangen sind; aber ihr eigen Form und Model, wie sie sich im ausgesprochenem Halle haben eingeführet, behalten sie, und wird auch ein iedes Ding von seiner Gleichheit eingenommen werden, und ist das Ende aller Zeit: Der eigene Wille machet eine Form nach seiner instehenden Natur, aber im gelassenen Willen wird eine Form nach dem Model der Ewigkeit gemacht; wie es vor den Zeiten der Welt in der ewigen Weisheit GOttes im Spiegel ist erkant worden; also figurirets der ewige Wille in ein Model seiner Gleichheit zu GOttes Ehre und Wunderthat: Dann alles was in seine Selbheit eingehet, das formet sich selber: was sich aber frey lässet, das wird vom freyen Willen geformet, so mag doch keine eigene Form mit eigenem Willen das einige Wesen erben, dann wo zween Willen in Einem sind, da ist Wiederwille.«3
Gegenstand des Textauszugs, und damit wohl auch des Interesses von Handke, ist, wovon alle Mystik in ähnlicher Weise als ihrem Eigentlichen berichtet. Bei Böhme nimmt es in etwa die folgende Gestalt an: So wie Zeit und Ewigkeit zwei unvereinbare Gegensätze bilden und doch das eine aus dem anderen hervorgegangen ist, so steht auch der eigene Wille als das Signum all dessen, was in der Zeit sich entfaltet, dem freien oder gelassenen Willen als dem göttlichen Willen im Ewigen als ein von ihm Abgesondertes gegenüber. Nur mitunter und jedenfalls nicht für die Dauer mag es dem Menschen einmal gelingen, seine »Selbheit« zu überwinden und den eigenen Willen mit dem einigen Willen und Wesen eines werden zu lassen. Doch ist der gewöhnliche Zustand der Abgetrenntheit oder des Widrigen damit keineswegs einer, mit dem man sich notgedrungen eben abzufinden hat oder den man (vergleichsweise) gar als Unglück erfahren muß. Denn, um hier noch einmal den zweiten der beiden Böhme-Handke-Texte zu zitieren, dazu sind ja »alle ding erschienen / auff daß die Ewigkeit in einer Zeit offenbar werde«, was zugespitzt auch so verstanden werden darf: Nur so, nämlich indem die Vielheit der Dinge und ihrer Eigenwillen in der Zeit erschien, war es der Ewigkeit möglich, sich als das Eine und in ihrem einen Willen zu offenbaren. Und in ihn als »in ihren ersten Locum« finden alle Dinge am »Ende aller Zeit« wieder zurück.
Das Einverständnis, zu dem Böhme im Glauben an diese von ihm beschriebene Ordnung gelangt, teilt Handke nicht (oder wenigstens teilt er es nicht immer). In zwei weiteren seiner Aufzeichnungen äußert er seine Vorbehalte zur Gültigkeit von Böhmes Lehre. Die eine von ihnen lautet:
»Nichts hallt mehr, Jakob Böhme. Kein Echo mehr« (112)
Auch diese Anmerkung könnte noch von der Passage aus De signatura rerum angeregt sein, denn auch in ihr war ja von einem »Hall« die Rede: »Alle Dinge gehen wieder in das ein, daraus sie gegangen sind; aber ihr eigen Form und Model, wie sie sich im ausgesprochenem Halle haben eingeführet behalten sie, und wird auch ein iedes Ding von seiner Gleichheit eingenommen werden, und ist das Ende aller Zeit«. Hall, das ist für Böhme (u.a.) sowohl das, was die Dinge in ihrem Wesen konstituiert, dasjenige also, was, sozusagen, als ihr Wesen in sie eingesprochen wurde, wie auch das, was, nach Art eines Widerhalls oder Echos, aus ihnen wieder hervortönt, eine Form der Signatur also, mit der sie gar nicht anders können, als ihr Innerstes zum Ausdruck zu bringen, oder anders, sich selber zu offenbaren. Und wenn Handke ein solches Echo erklärtermaßen nicht mehr vernimmt, dann könnte das entweder bedeuten, daß er meint, daß das Sensorium für ein solches Vernehmen im Laufe der Jahrhunderte abhanden gekommen ist, oder, wie ich eher vermute, daß er den Zusammenhang zwischen einem Ewigen, das sich in die Zeit eingeführt hat, und einer Erscheinung, die sich als Signatur dessen zu erkennen gibt, ein Zusammenhang, der für Böhme noch selbstverständlich war, für sich oder für die heutige Zeit in Abrede stellt.
Die Kritik würde damit in eine ähnliche Richtung weisen wie die der anderen der beiden ablehnenden Kommentare. Dort heißt es:
»Dein ist gar nichts, dein sind nicht die Sterne, selbst wenn du Glanz hast für den Glanz der Ferne (für Jakob Böhme und Christian Wagner)« (14)
Diesmal nicht von Böhme stammt das Zitat, auf das Handke hier zurückgreift, sondern vom mitgenannten Christian Wagner, einem vor allem durch seine Lyrik hervorgetretenen Dichter des späteren neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts aus dem schwäbischen Warmbronn. In dessen Gedicht »Oswalds Vermächtniß« lautet nämlich die drittletzte Strophe:
»Dein ist Alles, was in Thal und Hügeln
Lichtvoll sich in dir kann wiederspiegeln;
Dein die Himmel selbst, und selbst die Sterne,
Wann du Glanz hast für den Glanz der Ferne.»4
Indem die entschiedene Negation dieser Aussage namentlich auch Böhme treffen soll, ist es auch hier wohl wieder speziell dessen Signaturenlehre, die Lehre von der Entsprechung von Innen und Außen, die Handke im Blick hat. Und wenn es zuvor – oder in der Chronologie der Aufzeichnungen danach – die lautlich-akustische Äußerungsform des als Echo zurückgeworfenen Halls war, auf die sich seine Zurückweisung bezog, so ist es nun, ganz parallel, der Glanz und damit die Widerspiegelung von Sichtbarem im Menschen.
Und auch in einer weiteren Notiz noch zu Böhme scheint Handke bei diesem Thema zu bleiben. Es ist eine von zweien, in denen er ihn mit dem im andalusischen Murcia des Jahres 1165 geborenen arabischen Mystiker Muhyiddin Ibn ʿArabī zusammenbringt, einem Gelehrten, den seine langjährigen Reisen durch die Länder des Vorderen und Mittleren Orients, nach Mekka, Damaskus und Konya etc. führten, der in seinen Schriften in Anlehnung an die nächtliche Reise Mohammeds vor allem aber ebenfalls von den inneren spirituellen Reisen berichtet:
»›Der Geschmack ist eine Theophanie, und die Theophanien ereignen sich in den Formen‹ (Ibn ʿArabī; immer wieder Ibn ʿA. und Jakob Böhme)« (26)
Ein drittes Mal ist es das Motiv der Erscheinung Gottes im Menschen, das Handke hier aufgreift, und zwar nach Hören und Sehen mit der Empfindung des Schmeckens in Form auch einer dritten sinnlichen Erfahrungsweise, dies aber nunmehr, ganz offensichtlich, ohne Beimischung von Skepsis oder gar Ablehnung. Im Gegenteil zeugt das »immer wieder« vor der (nochmaligen) namentlichen Nennung einzig von einer Hochschätzung der beiden Autoren. Und das gilt ebenso auch für die zweite Notiz, in der Handke sie (zusammen mit einem dritten diesmal; zum Muslim und Christen kommt noch ein Jude) aufs engste verbindet:
»›… wer seine Begeisterung verehrt und sie als die Gottheit ansieht‹ (Ibn ʿArabī); s.o.; und was ist nach Ibn ʿArabī die Begeisterung? ›Ein Wille, begleitet von Liebe‹ (hier ist er mit Jakob Böhme und Spinoza eins)« (24)
Von ganz anderer Art ist demgegenüber die folgende Erwähnung Böhmes:
»Tagwerden im Tag: Ein Gegenüber nimmt Gestalt an – wird mir ein Gegenüber – und wenn’s auch jetzt bloß das Lindenholzstatuettchen des Jakob Böhme aus Görlitz vor mir auf dem Tisch ist – es nimmt Gestalt an – und Gestalt nimmt an der Tag – Tag wird im Tag« (255)
Bei der Gestalt auf dem Tisch handelt es sich, nehme ich an, um eine Figur aus der Hand des 2014 verstorbenen Holzschnitzers Karl-Heinz Krauß, dem man in einem Laden auf dem Görlitzer Untermarkt, wo seine kleinen Skulpturen zu erstehen waren, bei der Arbeit zuschauen konnte. Daß Handke von daher wohl (wegen Böhme?) auch Görlitz auf seinen Reisen einmal besucht hat, bestätigt er selber in einer weiteren, diesmal wieder Böhme eigens gewidmeten Reflexion:
»Wo ereignen sich Ruhe und Vibrieren in einem? In der Freude. Sie ist Ruhe, und Hinvibrieren. Wohin? Hin (Gral). Und was heißt ›hin‹? Auf! Im ›Hin‹ ereignet sich zugleich das ›Auf!‹, ist darin ›inbegriffen‹ (notiert in Görlitz an der Neiße, für Jakob Böhme)« (248)
Der hier zentrale Begriff der Freude ist einer unter den besonders häufig begegnenden der Sammlung, vielleicht ist es sogar derjenige, an den die meisten Gedanken im Buch geknüpft werden; immer wieder sucht Handke, der Wichtigkeit, die der bezeichneten Empfindung für ihn unmittelbar zukommt, intellektuell auf die Spur zu kommen:
»Meine immer unvermutete, mich im Guten überraschende Freude, als Verdoppelung, oder Verschwisterung von Ich und Welt, ist oft verbunden, oder sie entsteht und ersteht aus einem Bild der Erdwelt, einer irdischen Landschaft IM FRIEDEN« (154)
»Freude: Das Dasein, das Existieren holt mich ein und bleibt für den Freudenaugenblick gleich auf gleich mit mir« (339)
»Ist das Altern? Etwas wie eine ›Restfreude‹ wallt auf von Zeit zu Zeit? Und kann es aber sein, daß dieser Rest Freude unerschöpflich ist? Gibt es so etwas: einen unerschöpflichen Rest? – Diese Frage einmal nicht mir allein, sondern dem ›Rest der Welt‹! (Und die Anmerkung Tage danach: Immer noch zum Weinen viele Freuden) (390)
Und sozusagen eine Untergruppe innerhalb der Texte zu dieser Empfindung bilden dann noch jene, in denen Handke den Begriff mit dem des Glücks konfrontiert, wobei die Freude in diesen Vergleichungen als die für ihn offensichtlich tiefer reichende, als die beständigere von beiden durchweg besser abschneidet: »Der Glücksjäger – der Freudengärtner« (50); »Freude: Form; Glück: Unform?« (55); »Lebenszeit: Die Epoche der Glücksfähigkeit setzte bei mir gar spät ein, und war nur von kurzer Dauer, gefolgt (?), abgelöst (?), übergehend in jene der Freudenfähigkeit, dauerhafter« (229).
Und ähnlich eben auch für Böhme – darauf mag die in Görlitz notierte Zueignung an ihn hindeuten – handelt es sich bei der Freude nicht um eine nur flüchtig aus dem gewöhnlichen Dasein oder aus »der irdischen Landschaft«, aus der Begrenztheit, an die der Eigenwille haften läßt, hinausführende oder heraushebende Empfindung.5 Denn: »Das ist freude / wen die Natur als der eigne wille von pein erlöset wirt / so freuet Er sich des gutten / welchs ihme wider fehret«.6 Wie überhaupt aus Böhmes Gebrauch des Begriffs deutlich hervorgeht, daß die Freude für ihn eigentlich einer ganz anderen Sphäre angehört. Auf die Frage, zu welchem Ende Gott die Engel und Menschen erschaffen habe, gibt er sich selber und uns die Antwort: »[…] als zu seiner Wunderthat, daß erscheine die Weisheit der Göttlichen Kraft, und daß sich GOtt in Bildnissen der Creaturen schaue, und seine Freude in sich selber, mit dem Geschöpfe aus seiner Weisheit habe.«7
Die neunte und letzte Notiz schließlich, in der Böhme namentlich erscheint, ist die folgende:
»›minute man‹: Wer im amerikanischen Freiheitskrieg des 18. Jahrhunderts, als Bauer auf dem Acker, als Zimmermann auf dem Dach, von einer Minute zur andern alles stehen und liegen ließ, um sich als Soldat der Armee anzuschließen. – Und ein anderer, ein europäischer »minute man«, im 16. Jahrhundert: Jakob Böhme, Schuster in Görlitz, der auf den Ruf von einer Minute zur andern – so tagträume ich – die Schuhe Schuhe sein ließ und sich aufmachte zum Schreiben des Buchs« (277)
Was von der (schreibenden) Nachwelt, aber auch schon von den Zeitgenossen, mitunter gerne geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen wurde, hier bildet es den Mittelpunkt der Aussage: Als Jacob Böhme anfing zu schreiben, war er bereits kein Schuster mehr; das Schuhe-Schuhe-sein-Lassen, das (bildlich gesprochen) Schuhe-Ausziehen und fortan Unbeschuht-Sein war für ihn so offenbar eine der Voraussetzungen für das Schreiben »des Buchs«. Daß Handke hier derart Schuhe und Schreiben zueinander in Beziehung setzt, ist insofern interessant, als das Barfußlaufen für ihn mehrmals Thema seiner Aufzeichnungen ist. In der folgenden geht es dabei zudem um den sorgsamen Umgang mit den (unscheinbaren) Dingen:
»Zeitschwelle im Jahr: der Tag, an dem unversehens aus den allerwärts knospenden Blättern ein Laubkleid geworden ist – das jetzt und jetzt vom Wind aufgewühlt wird, wie gerade das eintägige Laub der Kastanie; und eine andere Zeitschwelle im Jahr: die ersten Gänseblümchen zwischen den Zehen beim Barfußlaufen im Garten. ›Laß blühen!‹« (30)
Eine weitere Aufzeichnung dagegen ist von ambivalenterer Natur:
»Seit jeher bin ich in den Träumen ein Barfüßiger, oder eher ein Unbeschuhter. Und warum ist das jedesmal ein Alptraum? – Traumdeuter sich zu enthalten!« (211)
Eine dritte schließlich klingt melancholisch:
»Das Barfußgehen, ach ja, das Barfußgehen: Es entspricht mir nicht mehr. Es hat mir einmal entsprochen. Jetzt aber ist sie gekommen, die Zeit des festen Schuhwerks, nicht bloß unterwegs in den Wäldern und Wüsteneien, sondern auch in Garten und Haus« (395)
Während Böhme (zeit seines Lebens) Schuhe Schuhe sein läßt, kehrt Handke nach einer langen Zeit des Barfußgehens wieder zum festen Schuhwerk zurück. Ohne hier etwas, das man unter anderem Blickwinkel vielleicht als bedeutungslos abtun könnte, überstrapazieren zu wollen: Die von Handke selbst reflektierte Beobachtung paßt gut ins Bild seiner Auseinandersetzung mit den alten Mystikern und lenkt den Blick auf ein wohl unaufhebbar Trennendes: Wo Böhmes Schriften einzig von der als solcher empfundenen Wahrheit seiner Lehre und damit auch der Richtigkeit des eigenen Weges künden, schwankt Handke (und dieses Schwanken, das nicht abzustellende Zweifeln mag demgegenüber als die Beständigkeit unserer Zeit gelten können) zwischen den Extremen »immer wieder Ibn ʿA. und Jakob Böhme« und: »nichts hallt mehr, Jakob Böhme«, »dein ist gar nichts, dein sind nicht die Sterne« hin und her. Vielleicht geschieht es ja sogar, im Gegensatz zu jener einen unwiderruflichen Entschiedenheit der »minute men«, von einer Minute zur andern. Und die Faszination, die von ihnen augenscheinlich ausgeht in dem von Handke immer wieder mit ihnen aufgegriffenen und festgehaltenen Dialog – sie wird so nicht zuletzt dieser Selbstgewißheit geschuldet sein, mit der sie ihrem nicht ebenso unbeirrbaren Gesprächspartner gegenübertreten, unbeschuht, und das bis zum Ende ihres Ganges.
"Wenn überhaupt etwas, konnte er nur das werden, ausüben und immer weiterüben, was sein Ureigenes oder, frei nach Jakob Böhme, sein Urstand war, oder, mit wieder anderen Worten, sein schönes und schreckliches Problem." (Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 541. ↩
Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015 - Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2016, im weiteren Verlauf des Textes Zitate ohne Sigle, nur mit Seitenzahl ↩
De signatura rerum (P VI), S. 228 (Cap. 15, Abs. 48f.). ↩
Christian Wagner: Oswalds Vermächtniß. In: Christian Wagner: Sonntagsgänge . Kirchheim unter Teck: Jürgen Schweier, 1976, zweiter Theil S. 82f ↩
Der Begriff Glück spielt demgegenüber in Böhmes Schriften keine Rolle. ↩
Von der Gnaden wahl (B II), S. 103f. ↩
An Paul Kaym II (P V), S. 428 (Abs. 14). ↩
Um nur eine Anregung aufzugreifen, die Frage von Handke (aus 390) kann ich beantworten, obwohl er sie wenn ich es recht verstehe schon vorwegnimmt:
»Ja, es gibt einen unerschöpflichen Rest!«
Raffinierte Frage, Antwort und Lösung zugleich.
P.S.: Ich wusste nicht, dass Handke von den Mystikern fasziniert ist, Danke an Günther Bonheim.
»Fasziniert« ist vielleicht eine Spur zu hoch gegriffen. Vielleicht »inspiriert«? (Es gibt ja nur neun direkte Eintragungen in der Baumschattenwand zu Böhme auf mehr als 400 Seiten.) Aber bereits in den 1970ern beschäftigte sich Handke mit den Mystikern wie Meister Eckhart oder Rudolf Otto beschäftigte. Auf Böhme kam er wohl bei der Hinwendung zu Goethe.
Stark interessiert ist Handke übrigens am islamischen Sufismus, was sich in seinen Zitaten zu Ibn Arabi zeigt (im Verlag Jung und Jung, in dem die Baumschattenwand erschien, wurde fast zeitgleich auch ein Band mit Gedichten von Ibn Arabi herausgebracht). Spannend an diesem Aufsatz finde ich, wie gezeigt wird, wie Handke diese beiden Mystiker »zusammenbringt«.
Ibn Arabi ist mir auch schon untergekommen. Lange her.
Die Würdigung der beiden Mystiker aus Islam und Christentum ist ein deutlicher Hinweis für eine möglicherweise konfessions-überschreitende Form der Mystik.
Aber das betrifft nur die beiden Autoren, Handke hat ein offenbar launisches Verhältnis dazu, oder besser gesagt, Inspiration und Distanzgebahren kombinieren sich in ein und demselben Gefüge. Welcher Idee zufolge müsste man Anfang des 21. Jahrhunderts noch Mystiker »ironisieren« oder gar konfrontieren?! Die eigene religiöse Natur ist ihm offenbar ungeheuer.
Der Sufismus wird ja gerade als »kompatible Variante des Islam« durch’s Feuilleton getrieben! Wie schade... Ich glaube in der Tat, dass die Konfession keine starke Differenz darstellt, was Varianten der Mystik angeht, und das scheint Handke auch spannend zu finden.
@Sophie
»In einer stillen Nacht ging ich aus meinem Haus« beginnt mit einem mystischen Erlebnis und endet auf ähnliche Art. Das Buch enthält viele mehr oder weniger versteckte Zitate von Mystikern, vor allem der alten spanischen.
Aber schon den magischen Moment in »Die Stunde der wahren Empfindung« kann man als mystisches Erweckungserlebnis deuten.
Im übrigen kann ich mir vorstellen, daß Handke durch die einfache, bodenständige Herkunft Böhmes angezogen war. Ich glaube, er sah und sieht sich in solcher Tradition, der großväterlichen gewissermaßen.
46 25TH AVE NE # 357
@Michael
mystische Erleuchtung oder Adresse in Seattle?
Die ungeteilt positive Aussage ist für mich die überraschendste, auch weil sie sehr schwergewichtig ist:
»›Der Geschmack ist eine Theophanie, und die Theophanien ereignen sich in den Formen‹ (Ibn ʿArabī; immer wieder Ibn ʿA. und Jakob Böhme)« (26)
Hier gibt Handke offenbar seine Zurückhaltung, sein Distanzbedürfnis auf. Das Notat verrät, dass er die schöpferische Bruderschaft von Dichtung und Mystik anerkennt. Allein die Aussage von Ibn ʿArabī impliziert ja schon die Verwandtschaft.