Eine andere Möglichkeit wäre, dass es sich um eine besondere Form der Koketterie handelt. Eine Art Spiel mit Etiketten. Schließlich ist Sloterdijks Rede mit knapp 35 großzügig bedruckten Seiten gar nicht mit Manns voluminösem Text vergleichbar. Die ersten etwas mehr als 20 Seiten diesem »Sonderdruck edition suhrkamp« nimmt Hans Ulrich Gumbrechts Laudatio ein, in der er immerhin am Ende die selbstironische Volte platziert, sich selber zu seiner Wahl zu gratulieren, denn die Statuten des Preises sehen vor, dass nur eine Person den Preisträger bestimmt, und dies war eben Gumbrecht.
Sloterdijks Rede beginnt wie ein Rückblick auf sein (medial-publizistisches) Leben. Er erzählt von dem für ihn unerwarteten Echo auf seinen »Menschenpark«-Text 1999, der ihn schließlich zum »Medientheoretiker…im Auge des Zyklons« werden lässt. Und überrascht konstatiert er, dass die »mediogene Hysterie« nach wenigen Wochen »schlagartig« zurückging: »Nicht einmal Aufräumarbeiten waren nötig, die Angehörigen der rechthabenden Klasse – […] in ihren verglasten Redaktionen – ließen…von einer Minute auf die nächste von der Causa ‘Menschenpark’ ab, um sich anläßlich der Frankfurter Buchmesse auf andere Objekte zu konzentrieren, Objekte, die neue leichte Siege der Lektüre über den Text in Aussicht stellten.«
Aber die Eskalationsschraube in den Medien dreht sich in Zeiten des Billigtransportmittels Internet immer weiter und, vor allem, heftiger. Sloterdijk konstatiert: »Massenkommunikation organisiert das permanente Plebiszit gemeinsamer Sorgen und liefert auch gleich die Ablenkung von diesen mit.« Man muss ihn nicht mögen, um diese Beobachtungen über die »Einspritzung mentaler Infektionen« durch zum »Verzerrer« mutierte Journalistendarsteller als ziemlich gelungenen medienphänomenologischen aber auch gesellschaftspolitischen Befund zu empfinden. Gesellschaft existiert, so die These, nur noch als »massenmedial integrierte, zumeist polythematische Stress-Kommune«. Wichtig ist nur noch, die Balance zwischen Ablenkung und Stress, zwischen »lockeren unterhaltungsgemeinschaftlichen« und »dichten kampfgemeinschaftlichen« Zuständen zu finden. Der unterhaltungsgemeinschaftliche Pol reicht am Ende immerhin »bis hin zur Lizenz fürs unpolitische Leben«.
Daher weht also der Wind bzw. rührt der Titel. Sloterdijk beschreibt nichts Geringeres als seine Wandlung des Unpolitischen (oder ist es immer noch Koketterie?) zum politischen Wesen. Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre hätte man dies mit dem saloppen Rubrum »Politisierung« versehen, was damals im Allgemeinen mit langen Haaren, endlosen Diskussionen und rüdem Benehmen verknüpft wurde.
Und so wird jemand – notgedrungen – zum Apologeten eines dritten Weges. Denn das Gegenstück zur unpolitischen seicht-hedonistischen »Unterhaltungsgemeinschaft« tendiert bedauerlicherweise zur »monothematischen Kommune« und wird – durch die »gleichgeschalteten Medien« – »synchron aufgewühlt…von der Vorstellung gemeinsamer Bedrohtheit« und zwar völlig unabhängig von der tatsächlichen Bedrohungssituation. Dabei berücksichtigt Sloterdijk noch nicht einmal die potenzierten Hyperventilationen in den sozialen Netzwerken, die von seinem Kollegen Byung-Chul Han so luzide und mit großer Strenge analysiert wurden.
Derart am abschreckenden Beispiel der rechthabenden Klassen aller Art geschult geht es nun an die Diagnose der geopolitischen Probleme. Zunächst Europa. Hier entdeckt Sloterdijk ein »hinter autohypnotischen Floskeln« einer »diplomatischen Parallelgesellschaft« künstlich beatmetes Gebilde mit schwindendem Rückhalt innerhalb der jeweiligen Bevölkerungen. Die rein ökonomisch ausgerichtete »Wohlstandsgemeinschaft« – bisher Gewähr für halbherzig-desinteressierte Akzeptanz der EU und ihrer Institutionen – stößt mit jeder Wirtschafts- und/oder Währungskrise an ihre Grenzen. Weitere politische Pflöcke wurden ja nicht bzw. nur ungenügend eingeschlagen.
In den USA sieht es nicht besser aus, nur anders. Die »Nonsense-Formel vom Krieg gegen den Terror«, geschaffen nach dem 11. September, hat inzwischen fast die ganze Welt in eine »Kettenreaktion der sekuritären Selbstvergiftung« geführt. En passant weist Sloterdijk darauf hin, dass »99% aller terroristischen Übergriffe im 20. Jahrhundert auf das Konto von Staatsterroristen gegangen sind.« All dies stört die diversen amerikanischen Regierungen nicht – sie pumpen sich um den Preis des Bankrotts zur militärischen Großmacht auf. Sloterdijks These: »Das europäische Projekt steht vor dem Zerfall, das amerikanische Projekt an der Grenze zur Depression.« Die Europäer seien uneinig und zersplittert, was er »agenturschwach« nennt. Die Amerikaner dagegen sind »agenturstark«, aber nur auf dem militärischen Gebiet.
Sloterdijk bietet nun eine Lösung an; getarnt als Frage, aber unmissverständlich als einzigen Ausweg verstanden: »Ist es nicht denkbar, daß die Überwindung der Krisen hier und dort in der gegenseitigen Behebung der reziproken Stärken bestünde? Sollten nicht die Amerikaner endlich europäisch Farbe bekennen und die Europäer atlantisch?« Sloterdijk spricht sich ernsthaft, Régis Debray dabei paraphrasierend, für eine »reelle politische Einheit« Europas mit den USA aus. Dies übrigens deutlich jenseits der gerade verhandelten »Freihandelsabkommen«, die am Ende nur den ökonomischen Grossisten in die Hände spielen dürfte. Seine Ideen gehen weiter. Gegenseite Bürgerrechte beispielsweise. Aber da ist die Rede dann auch schon aus. Aber man sollte diesen Gedanken wenigstens einen Moment lang auf sich wirken lassen – unter Vermeidung jeglicher Witzchen oder realpolitischer Bedenken.
Ob Sloterdijk im Angesicht der Snowden-Enthüllungen auch heute noch für eine Art multikulturellen Transatlantikraum eintreten würde? Zeigen doch die kontroversen Positionen mehr als nur Mentalitätsunterschiede. Die USA und Europa (mit Ausnahme von Großbritannien) sind sich fremder, als man gemeinhin annimmt. Dies zeigt sich vielleicht auch darin, wie man mit den diversen ökonomischen, ökologischen und politischen Krisen umzugehen gedenkt. Die lachenden Dritten könnten andere sein.
Schöne Gegenwartsbeschreibung mit einer altbackenen Dosis Hybris
Ich kam ganz wunderbar mit den Schilderungen zurecht, als plötzlich Sloterdijk (nach Auskunft des Referenten) auf eine Lösung verfällt.
Das erscheint mir old-school. Warum sollte der Analytiker Lösungen für »unerträgliche und schwer begreifbare Daseins-Zustände« anbieten?! Geht das in Richtung Ayurveda, oder in Richtung Großmogul?
Das politische Handeln kann meines Erachtens nach keine ideelle oder metaphysische Ebene besetzen, will sagen: erst mal müssen wir die Gegenwart begraben. Europa muss »abgefeiert« werden, die Verantwortungsräume restruktiert. Das ist Arbeit für mehr als eine Generation. Vielleicht deshalb der »Schnellschuss nach vorne«??
Sloterdijk war im Vorfeld von Broder angegriffen worden, der aus Protest seinen Börne-Preis zurückgegeben hatte. Grund: Sloterdijk habe den 11. September sozusagen verharmlost (meine Worte). Vielleicht fühlte er sich aus diesem Grund veranlasst, den Transatlantiker in sich zu entdecken?
@Gregor
Davon habe ich gar nichts mitbekommen. Broder ist ja immer für eine Überraschung gut. Er liebt die Intervention. Ein Provokateur unter den Journalisten.
Ich vermute einen anderen Grund für Sloterdijks Vision: die U.S.A. sind nicht mehr die Sonne für den Trabanten »Europa«, d.h. wir haben in diesem metaphorischen Sinne unseren Schwerpunkt verloren. Europa ist aber auch kein Zentrum im geopolitischen Sinne. Die Maßstäbe wackeln.
Amerika hat keinen Vorsprung mehr, denkt man an Subkulturen, Ethnien, Religionen, Gender, Silicon Valley, etc. Auf diesen Taktgeber haben wir uns bislang verlassen. Nun sind alle gleichauf. Ein komisches Gefühl, weil keiner genau weiß, wo’s lang geht. Da tastet man »unwillkürlich nach der Hand des Nachbarn«...
Diese »atlantische Kehre« Sloterdijks überrascht mich und ich kann sie fast nicht glauben – aber wahrscheinlich verstehe ich sie völlig falsch.
Was ich die ganzen Jahre im Kopf hatte, war, dass Sloterdijk – und zwar als Erster hierzulande (und womöglich nicht ganz uninspiriert von Arundhati Roy als oft verschmähte aber deutlicher als andere sprechende Stimmen) die (politischen) USA einen »rogue state« genannt hatte. Und ich denke, das stimmt mehr denn je.
Dazu kämen nun die Billionen-Schulden, die ideologisch-konfrontative Sackgasse der zwei Blöcke, die keine Lösung bringen, der sonstige geo-politische Verfall des geschwächten »Imperiums«. Wie sollte da das noch streitende, immer noch aufgeklärtere, aber uneinige Europa gegen die Cowboys-Nation die Bürgerrechte-USA wieder instand setzen? Was ist mit den Waffen? Was ist mit dem Kreationismus? Usw.
Spätestens mit dem Irak-Einsatz auf falschen Grundlagen war die »Werte-Gemeinschaft des Westens« (Tony Blair) eigentlich diskreditiert. Klingt für mich, als ob sich seitdem nicht viel verändert hätte. Und als ob auch jemandem wie Sloterdijk – dem ich gerade als von den Niederungen befreiten politischen Denker mehr Intelligenz zutrauen würde – da nicht mehr viel zu einfiele.
Broder ist eigentlich nur noch ein Clown. (Wie demnächst wohl auch Matussek.)
Naja, Sloterdijk thematisiert diese Schwächen des amerikanischen Imperiums ja durchaus. Um dann eine Art Versöhnung zu versuchen: »In beiden politischen Projekten haben sich jedoch so wertvolle demokratische Erfahrungen materialisiert und so unaufgebbare kulturelle Motive verkörpert, daß von ihrer Preisgabe keine Rede sein kann«. (Wieso eigentlich »keine Rede sein kann«?) Er spricht von einem Zwang von Neu- bzw. Umformatierungen Europas und der USA und schlägt dann eine »Declaration of Dependence« vor, »das Eingeständnis vor aller Welt und mit aller Welt, daß es ohne einander nicht geht«.
Kreationismus? Genprodukte? Waffenbesitz als Ur-Definition von Freiheit? Vermutlich nur »Kleinkram«, den dann irgendwelche politischen Vasallen zu lösen hätten.
Die »Werte-Gemeinschaft« des Westens meint längst nur noch den globalisierten, mehr oder weniger ungeregelten Kapitalismus. Insofern ist China dieser »Gemeinschaft« längst beigetreten.
Ich seh’ Amerika als Europäische Dependence, wir haben schon vor Jahrhunderten ein paar Probleme ausgelagert, die sich in der Weite des Kontinents zunächst verlaufen haben, aber nicht wirklich gelöst wurden. Ich seh’ nur ein weißes Amerika, ironischerweise, weil die Eurasischen Einwanderer nun mal den Ton angeben. Irgendwann habe ich dann begriffen, dass der Krieg konstitutiv für die U.S.A. ist, weil nur der Krieg die Nation erschaffen, »wiederbeleben« kann. In Europa wagt man so was nicht einmal mehr zu denken. Geschwächt von der eigenen Geschichte, erfindet man lieber Identitäten, die kein Schwein interessieren: Europäisches Bürgertum...
Damit will ich sagen: ich glaube, dass man in Amerika mehr über die westliche Zivilisation und ihre Begrenztheiten (wenn nicht gar: Macken!) weiß, als in Europa. Amerika aufzugeben, hieße noch dümmer zu werden als ohnehin schon medial verordnet.
Aber wenn Kriege für die USA sozusagen permanent die Nation wiederbeleben – wann kommt irgendwann der Katzenjammer, dass eigentlich alle Kriege nach 1945 nach den gängigen politischen Urteilen als »verloren« zu subsumieren sind? Und auch militärisch steht es ja nicht besser – wenn man von den beiden Irakkriegen einmal absieht (Afghanistan wird binnen kurzer Zeit wieder unter die Herrschaft der Taliban fallen, vielleicht mit einer kleinen Enklave un und um Kabul herum).
Verkürzt gesagt: Die Europäer steckten ihr Geld in Sozialsysteme – die USA in das Militär. Nach den diversen Wirtschaftskrisen beginnen ich Ähnlichkeiten zu entwickeln: Beide, USA und die EU, drucken praktisch Geld (sehr vereinfacht ausgedrückt). Aber beide haben ihre Kernkompetenzen (Wirtschaftssprech) verloren. Da ist die Idee nach einem Schub nicht abwegig. Damit wird allerdings der Exitus nur verzögert.
Die „wertvollen demokratischen Erfahrungen“ sehe ich aber fast eher bei den Menschen als den handelnden Eliten oder den so oft ungenügenden Institutionen. Es liegt wohl an den Bevölkerungen, wenn Länder da hinter gewisse Dinge wohl nicht zurückfallen.
(Oder? Dass solche Typen wie Berlusconi / Papandreo / Rajoy teils über Jahrzehnte Manipulatoren sind / waren, ist auch für „Europa“ bedeutsam. Und dann ist da natürlich noch der wirtschaftliche Niedergang, die Ohnmacht, das Fressen vor der Moral. Da sind „kulturelle Motive“ längst sehr wohl bedroht, wenn nicht schon teils obsolet.)
Es wäre interessant mehr von Sloterdijk zu hören. Bisher klingt es fast nach einer Pointe, für die ja auch er mittlerweile immer gut sein muss („Menschenpark“). Ich bin da jedenfalls nicht überzeugt. Europa könnte ebenso gut mit Japan eine Wertegemeinschaft bilden.
Und ja, diese besondere Schwäche Europas durch die Lasten seiner Geschichte sehe ich auch immer deutlicher. Und der Krieg als Konstitutive scheint ja auch tatsächlich erfolgreich (wenn man es sich finanziell leisten kann); sicher hätte das auch auf Europa stärkende politische Effekte. Nur würde auch diese spezifische Haltung verloren gehen, l ä n g e r auf Vernunft und Diplomatie zu setzen. Der Bedenkenträger ist schnell geschmäht, und behält doch oft Recht. Wenn da schon zwei einander Korrektive sein sollten, dann aber wirklich gegenseitig.
(Und bei der medialen Verdummung sehe ich die medienwirtschaftliche Übermacht der USA – etliche Sender hier ganz wie in „unterentwickelten“ Ländern anderswo hätten ohne den alten Serienscheiß überhaupt nichts zu versenden – aber als Komplizen, und zwar als vorsätzlichen.)
Vielleicht ist es ein Fehler – alle Mächte wollen bevormunden, siehe das in seiner neuen Stärke zunehmend selbstgerechte China – die europäische Striktheit einzutauschen für revisionistische Positionen. Klar, alle fordern sie Souveränität und Beachtung der heimischen Kulturen, aber dann ist es oft doch nur ein Spiel der Eliten, und die sind fast immer korrupt.
Statt dass man die Milliarden etwa für so ein Land wie Afghanistan an Frauenrechte oder Aufklärung koppelt, also an menschenrechtlichen Eingriffe in solche Länder, sieht man der Barbarei sehenden Auges zu. Da hat Europa nicht nur als Idee verloren, sondern verliert sich auch noch selbst. Und ist so schon bloß taktischer Mitspieler. Da sollte man den USA und dem da längst verbrecherischen Russland (Syrien) sicher nicht folgen, sogar wenn es „Interessen“ gibt und solche, die sie auch „bei uns“ immer offener formulieren.
@ Gregor
–Finde ich sehr gut, deinen Hinweis, Europa könne sich nicht länger über den Sozialausgleich definieren. Genau das war unsere Position in der zweiten Hälfte, 20 Jahrhundert. Das versuchen noch die Altvorderen, aber mich Mittvierziger erreicht das nicht. Die Politik der Kapitalismuszähmung bietet auch keine »wert-eindeutige« Position, das bringt ein ganze Menge Ärger mit sich, gelegentlich »Widersprüche« genannt.
–Kriege verliert man, klar. Das spricht aber nicht unbedingt gegen den Krieg in seiner konstitutiven Funktion. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
@en-passant
Die Abhängigkeit der Unterhaltungsbranche von Amerika ist verblüffend, stimmt. Damit importieren wir die Phantasien über den smarten, individualistischen, kämpferischen Menschen, die alte Versimpelung von Ego=Identität. Probleme kann man lösen, oder (Hollywood-Variante) unter den Teppich kehren. Klar geht das.
@en-passant
Aber die Berlusconis sind doch gewählt worden. Und zwar nicht unbedingt aus Alternativlosigkeit heraus, sondern mit bestimmten Erwartungen. Ich hatte beruflich einmal eine längere Zeit mit italienischen Geschäftsleuten zu tun. Die waren entsetzt darüber; niemand hatte Berlusconi gewählt und niemand kannte überhaupt jemanden, der ihn gewählt hatte. Und doch war es so.
Und ich glaube, ich muss Ihnen nicht sagen, dass Europa und Japan eben nicht so ohne weiteres eine »Wertegemeinschaft« bilden könnten. Dafür ist Japan viel zu autark, was kulturelle und soziale Eigenheiten angeht. Die USA hat ja nicht zuletzt durch die Massenkultur indirekt einigen Einfluß auf Europa ausgeübt (bis heute noch), besonders auf Deutschland (weniger auf Frankreich – auch hier greift, dass die Franzosen sich kulturell immer ein bisschen abgesetzt haben). Es funktioniert aber eben nicht, dass man sich aus den kulturellen Einflüssen der neuen Welt das beste herauspickt und den Rest entsorgt.
Die europäische Idee hatte in dem Moment verloren, als man auf Expansion nach außen statt nach innerer Bindung setzte und dann noch versuchte, die Menschenrechte europäischen Stils zu exportieren. Das erste, was man Staaten empfiehlt, die ihre Diktatoren losgeworden sind (jetzt mal egal wie), sind Wahlen. Das ist aber der vollkommen falsche Ansatz. Man stelle sich vor, im Deutschland des Jahres 1946 wäre ohne Verfassung, ohne institutionelle Struktur von politischer Willensbildung, gewählt worden. Wie das wohl ausgegangen wäre?
Indem die EU sich mehr in der Außendarstellung übt, arbeitet sie an ihrer wachsenden Bedeutungslosigkeit. Schon weil die Unterschiede zwischen Italien, Deutschland und Finnland was bestimmte gesellschaftspolitische Fragen angeht, nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Warum sollte es auch? Für mich ist der Zug abgefahren. Es gibt einen sehr interessanten Text von Hürlimann über das Schweizer Referendum, der mit einer düsteren, aber vermutlich zutreffenden Aussage endet: »Ich glaube nicht an das Überleben des supranationalen Gebäudes namens Europa.« Das will natürlich niemand hören, weil es dem Eingeständnis einer politischen Lebenslüge gleich käme. Die Verhandlungen mit den USA über eine gemeinsame Wirtschaftszone ist das letzte Aufbäumen Europas. Daher auch die weitgehend geheimen Verhandlungen; niemand soll wissen, worum es geht.
@die_kalte_Sophie
Ich habe nicht gesagt, dass man sich von der Idee eines europäischen Sozialstaates verabschieden sollte. Schon jetzt sind die Verwerfungen in Griechenland, Spanien und Italien immens. Früher oder später wird dies zum Eingreifen zwingen. Eigentlich haben die Amerikaner mit ihrer Geldflutungspolitik auch eine Art »Sozialstaat« begründet bzw. halten ihn aufrecht. Dies spielt sich nur auf einem anderen Gebiet ab: Es fließt nicht den sozial schwachen zu, sondern hält die Wirtschaft am Laufen.
@Gregor, insbes. »Ich habe nicht gesagt, dass man sich von der Idee eines europäischen Sozialstaates verabschieden sollte...«
Die Idee ist schon sehr abgehoben angesichts des fehlenden Staates. Ich beobachte die Südländer auch mit sehr großer Sorge.
Die vielen jungen Menschen, denen wir nichts mehr zu sagen haben!
Stark, der Satz von Hürlimann. Der traut sich was. Danke für das Zitat.
Das Freihandelsabkommen wird hoffentlich kommen. In der Tat läuft das meiste inzwischen im Geheimen. Neulich kommt raus, dass wir in Ghana einmarschieren.
Null Diskussion vorher. Ergebnis wird nur mitgeteilt.
Da muss ich manchmal schlucken.
Der Abstand von Volk und Establishment ist, wie der Schweizer so schön sagt, maaaximaaal!
Das mit Japan war natürlich nicht ernst gemeint. (Allerdings auch nicht ironisch: Dort sind die Wissenden ja teils amerikanischer oder „pariserischer“ als an den Ursprüngen selbst. Okay, wenn auch in anderem Geiste. )
Ja, und Kohl wollte damals auch kaum jemand gewählt haben. Trotzdem hat er ein oder zwei „Wenden“ (mit)bestimmt. Und in Europa ein paar ungute Dinge eingeführt.
Hürlimann hatte mir auch zu denken geben. Und ich vermute auch, dass die Leute es mit den Öffnungen und Zuwanderungen (und mit den EU-Erweiterungen um gefühlte Fremdkörper) hierzulande längst mal gut sein lassen wollen. (Man denke an das gerade erstarkende konservative Frankreich.) Aber eben das wäre auch ein anderer Bankrott, nämlich das Nationale (um der Historien und der Kriegsvermeidung willen) zu überwinden. Was aber bleibt dann noch? Knallharte Wirtschafts- also Standort- also Überlebenspolitik.
Da wären die USA zwar dann tatsächlich – bei großzügiger Auslegung – ein irgendwie geistig-verwandter Verbündeter. Aber ich erinnere daran, dass mit den offiziellen Erklärungen zum „Pacific Rim“ (Öffnung nach Westen, also zum asiatischen Raum) über Dekaden Europa schon zweite Wahl war (teils nützliche Idioten wie die Engländer). Da kämen also zwei Zweitklassige zu einer Überlebensgemeinschaft zusammen? Kein guter Ausgangspunkt. Und umso weniger, je widerstrebender er ist.
Aber ist ja wahrscheinlich eh alles illusorisch, wenn beide Blöcke ihre schönen Lebenslügen nicht hinter sich zu lassen schaffen.
Ich hätte mich trotzdem weniger gewundert, hätte Sloterdijk – mit ja vielen anderen (ich denke gerade an Kittler, dessen Griechen-Liebe, wenn man sich damit beschäftigt, man längst nicht als persönliche Manie abtun kann, sondern (mit den mentalen Tiefencodierungen) als Bewusstseins-Kybernetik, als Steuermannskunst verstehen muss) – hätte also Sloterdijk einen vermeintlichen Schritt zurück zu einem griechischen Europa plädiert. Ein altgriechisches also, nicht das von neumodischer Habsucht destabilisierte Elendsland von heute.
Obwohl einem das als Bevorstehendes für immer größere Teile Europas ebenso als die Zukunft erscheinen kann. So oder so wird sie ja auch schon großflächig erwartet.
Und das Freihandelsabkommen wird hoffentlich NICHT kommen.
@en-passant
Ooops, ein Gegner des Freihandelsabkommen.
Never mind!
Im Mai sind Europa-Wahlen, das wollte ich noch ausführen. Und ich erwarte einen großflächigen Rechtsruck. Begleitend werden einige Stimmen »in den Medien« auftauchen, die eine forcierte Kritik an den Europ. Institutionen vortragen. Broder ist bestimmt mit von der Partie. Dazu werden die Europaphilen in Zahlen etwa 0,0 substanzielle Beiträge beisteuern, nur ein paar »Essays«, woher dieser stramme Gegenwind kommen könnte. Die Antwort, die sie finden werden, ist die, die wir schon kennen. Ich nehme es hier schon mal vorweg: es sind unverschämte partikuläre Interessen wirtschaftlicher Natur, gepaart mit sentimental-nationalistischen Anwandlungen, sprich Proto-Faschisten, die das treuselige Bündnis des Europäischen Durchschnittsgutmenschen sabotieren möchten. (Schade, wieder keine neue Erkenntnis. Das wussten wir natürlich.)
Trotzdem wird das Jahr 2014, wenn mich mein Kassandrisches Auge nicht trügt, ein kleines »historisches Jahr«. Das Jahr, in dem wir Abschied nahmen. Die Gegner werden vermutlich zum allerersten Mal als »intelligente Kritiker mit ernst zu nehmenden Motiven« auf der Bühne erscheinen. Und sobald man den Gegner nicht mehr als hirnverbrannten Deppen in absentu darstellen kann, ist der Traum vorbei.
Die USA sind eine großartige Nation, aber ich finde, wir sind alle schon genug Amerikaner.
Und der Handel war noch nie „frei“, das Wort ist Augenwischerei. Was ist ein Abkommen mit Staaten wert, die ungeachtet des Geistes solcher Schöntuereien ihre eigenen Interessen in jedem Fall voran stellen und durchzusetzen versuchen. Ich beklage nicht die spezielle Schwäche Europas (keine genug gewichtige Stimme zwischen unglaubwürdigen Großmäulern und Lügnern zu haben). Aber die eigene Meinung, so vorhanden, könnte mal öfter und lauter sagen. Oder dass die drei Großen z. B. mit Nordkorea, Iran, Syrien auch nichts geregelt kriegen und meist keine Beweger sondern Blockierer sind. Papier Tiger und Wichtigtuer. Von daher sollte man sich auch mal was trauen dürfen. „Realpolitik“ wäre dann auch zu wissen, dass das transatlantische Bündnis, sollte es irgendwas wert sein, auch ein Asyl für Snowden aushalten muss. Alles andere ist noch unwürdiger als diese Leisetreterei.
Und ja, eine „Tea Party“ haben wir dann wohl bald auch. Aber vielleicht hat das auch gute Effekte? Diese ganze business-as-usual Ödnis an den eigenen Routinen ohnmächtiger werdenden Institutionen verliert es, dass man die Geduld verliert. Da bin ich dann auch Proto-Faschist.
Zunächst werden wir in Europa einige interessante Sezessionen bekommen: Schottland und Katalonien. Ob die Drohungen der EU hier greifen werden? Ich glaube nicht. Da droht ein weiterer Glaubwürdigkeitsverlust. Hürlimann schreibt ja in der FAZ zur Abstimmung der Masseneinwanderungsinitiative, dass das Interview des europhilen (euro-virilen) Martin Schulz in der NZZ die 20.000 Stimmen gebracht hat, die es nachher durchgehen ließen: Man läßt sich – zumal als Schweizer – nicht so gerne (be)drohen. Von ähnlicher »Qualität« waren und sind ja die »Argumente« in Sachen Euro – da müssen sogar Kriegsszenarien entwickelt werden, um die Reihen geschlossen zu halten. Diskussion / Diskurs: Fehlanzeige.
(Ich schätze Habermas nicht besonders, aber seine Vorschläge zur Legimität und Legitimation der EU dürften der einzig gangbare Weg sein. Aus Angst vor dem Ergebnis wird er nicht beschritten werden. Das zeigt, wie wenig man an seine eigene Geschichte glaubt.)
Das sogenannte Freihandelsabkommen mit den USA wird kommen. Ein Einäugiger reicht einem Lahmen die Hand. Beide gehen ein Stück des Weges. Endlich werden wir mit Chlorhühnchen und Genmais überrascht werden dürfen – vielleicht kann ich als Westdeutscher dann endlich nachempfinden wie die DDR-Bürger sich 1990 gefühlt haben, als »ihre« Produkte praktisch über Nacht aus den Regalen verschwunden waren.
In Wirklichkeit – und das wird oft vergessen – orientieren sich die USA längst nach Asien. Europa ist für sie nur eine Vorspeise.