Philipp Theisohn ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich, gibt die Gesamtausgabe von Jeremias Gotthelf heraus, verantwortet Sammelbände zu Georg Trakl und Gottfried Keller, sitzt der Theodor Storm-Gesellschaft vor und schreibt über »außerirdische Literatur«, was zugleich einer seiner Forschungsschwerpunkte ist. Und jetzt erscheint in der Reihe Fröhliche Wissenschaft bei Matthes & Seitz sein Buch Denken nach Botho Strauß – passend zum 80. Geburtstag des Dichters am 2. Dezember.
Nein, Theisohn verfällt nicht der Unsitte, seine verstreuten Aufsätze und Essays zusammengefasst zu haben. Das Buch ist aktuell. Zwei Mal besuchte er Strauß in der Uckermark, unternahm Wanderungen mit ihm. Er traf Edith Clever in Berlin, schaute sich eine Aufzeichnung von Strauß’ Trilogie des Wiedersehens an (von nun galt er als arriviert) und gibt Unterhaltungen mit Freundinnen und Freunden über Strauß wieder, unter anderem mit Frank Witzel.
Der Verlag bewirbt das knapp 150 Seiten umfassende Buch als »sehr persönlichen Essay«. Man befürchtet dabei zunächst Schlimmes, ein Schwärmen oder Schwelgen, eine Komplizenschaft oder gar Verteidigungsrede mit dem als schwierig und – wie könnte es anders sein? – »umstritten« gekennzeichneten Autor.
Das alles trifft glücklicherweise nicht zu. Zu Beginn rekapituliert Theisohn seine Zeitgenossenschaft, als Strauß’ Anschwellender Bocksgesang 1993 durch die Feuilletons geisterte und abgekanzelt wurde. Er war damals Student, entzog sich weitgehend dem öffentlichen Entsetzen und vollzog die inzwischen ausgeuferte Debatte erst Jahre später nach. Wer nun die x‑te Interpretation erwartet, geht fehl. Stattdessen eine knappe Feststellung: »Bis heute erachte ich den Text vorrangig als Schauspiel, die Feuilletonleser und ‑schreiber als Chor.« Da ist es nur folgerichtig, wenn Theisohn die immer wiederlehrende Diskussion um die »politische Verortung« von Botho Strauß »intellektuell wenig fruchtbar« findet.
Und dennoch: Ganz kann man dem Strauß’schen Weltbild auch bei strenger Literaturexegese nicht entkommen. Warum auch? Bei der Re-Lektüre von Der junge Mann wird deutlich, dass Strauß ein Autor ist (geworden ist?), der aus »anderer Zeit« schreibe: »In diesem Unterfangen begreift man Botho Strauß. […] Das meint gerade nicht Flucht in graue oder goldene Vorzeit, in einen Antimodernismus, der sich in der Überzeugung gründet, es gäbe so etwas wie ein Zurück, eine Abwicklung der Historie in der Historie. Derlei Refugien der volkssentimentalischen oder frühkindlichen Regression bleiben diesem Werk fremd. Sie interessieren Strauß auch nicht. Sein Blick gilt anderen Phänomenen, namentlich den ›aus der Zeit Gerutschten‹« Das ist ähnlich dem, wie Strauß sich Jahre später selbst als »Reaktionär« verortet.
Strauß ist, so eine These dieses Buches, der »Chronist aus anderer Zeit«, jemand der »statt Geschichte […] den geschichteten Augenblick erfassen« (Zitat aus Der junge Mann) möchte. Aber warum werden diese Stücke, die mehr Komödien als Tragödien sind, nicht mehr aufgeführt? Theisohn stellt die »Überinszenierung des Zeitgeistes« als programmatischen Kern von Strauß’ Dramatik fest. Sprachen sie damit nur dieses inzwischen nicht mehr existierende kulturbürgerliche Milieu der alten Bundesrepublik an? Aber was ist mit Strindberg, Ibsen oder Tschechow, die, obwohl im 19. Jahrhundert angesiedelt, weiter (noch) inszeniert werden? Endet mit Schlußchor, dem Stück, welches das Scheitern der Einheit antizipiert, die Relevanz des Dramatikers Strauß? Oder liegt es an der fehlenden Qualität der Ensembles in den Theatern? Das wird einmal angesprochen, beim Gespräch mit Edith Clever. Und wer soll dies heute inszenieren? Ist der »Siegeszug des postdramatischen Theaters« die Ursache?
Theisohns Buch ist vor allem deshalb lesenswert, weil er die Schlüsse aus seiner Strauß-Rezeption immer wieder befragt. In der Begegnung mit dem befreundeten Frank Witzel wird dies deutlich. Sie diskutieren über Saul, ein Stück, das Strauß 2019 publiziert hatte, bisher aber noch nie aufgeführt wurde. Ein Geschichtsdrama über einen von Gott ausgewählten König, der am Ende an der »Disproportion von Amt und Talent« scheitert, wie Strauß in einem kurzen Anhang zum Stück schreibt. Saul ist der Einzelne, der keinen Weg mehr zu den anderen finde, so Theisohn. »Keine seiner Handlungen, nicht einmal das Selbstopfer kann ihn noch in ihr Gedächtnis senken, es sei denn als Verfehlter.« Warum wird so etwas nicht gespielt? Jedem würden problemlos Allegorien auf das aktuelle Weltgeschehen einfallen.
Philipp Theisohn ist ein exzellenter Kenner des sehr komplexen Strauß-Oeuvres, sucht entlegene Zugänge, etwa in dem er dem Essay über die Beginnlosigkeit, dem Entwurf einer »Poetik des Unbewegten«, ein Kapitel in seinem Buch widmet. Strauß betreibe hier Kosmologie und transformiere derart die »Gegenwart als Mysterium«. Faszinierend dabei die Herleitung, wie Strauß Menschen zu Asteroidenbewohnern verwandelt. Auch Theisohns Deutung dieses merkwürdigen, in einer Siedlung »im nordöstlichen Vorland von Köln« lebenden Volks der »Syks«, in Der junge Mann als eine Art Binnenerzählung eingebaut, ist bemerkenswert.
Während der Fahrt zu seinem ersten Besuch bei Botho Strauß liest er aus dessen Roman Die Fehler des Kopisten eine Haus- und Landschaftsbeschreibung, die wie der reale Ort wirkt, auf den er zusteuert. Theisohn fürchtet, diese Lektüre überlagere von nun an seinen Blick auf die Wirklichkeit. Bei Apfelmost beginnt das Gespräch. Es geht ums Theater (»nicht Bitterkeit, eher leises Bedauern bestimmt den Ton«), Luc Bondy, das Nachlassen der Kräfte bei den Dramatikern ab einem gewissen Alter. Beim Spaziergang ein leichter Schwindel, »literarische Vergiftung« nennt Theisohn diesen, seinen Zustand. Ein sicheres Zeichen, dass es sich um einen Leser handelt. Nein, hier ist keiner am Werk, der einen seltenen Skalp aufspießen möchte. Immer weiter geht es tastend durchs »Wortgehölz«. Man liest gebannt. Wochen (oder sind es Monate?) später, beim zweiten Gespräch, ist man vertrauter und kann schon mal miteinander Schweigen. Und beim Abendessen stellt man sich Rätsel. Strauß erzählt, Henry James’ Der Wunderbrunnen zu lesen. Tags darauf der Abschied; der Dichter geht zur Arbeit an den Fahnen zum Schattengetuschel.
Man könnte einiges einwenden, etwa, warum die Strauß-Bücher der letzten Jahre, diese kleine und kleinste szenische Prosa, die sich zeitweise bis hin zum Aphorismus kondensiert, nicht berücksichtigt wird. Ob es sich hier vielleicht um einen Ersatz zum großen Drama handelt? Und was hat es wirklich mit Strauß’ nahezu notorischer Verachtung der zeitgenössischen Kommunikation auf sich? Jüngst setzt er das Wort nur mehr in Anführungszeichen. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Schließlich hat Theisohn ein fast privates Buch über seine Leseexkursionen aus dem Botho-Strauß-Kosmos vorgelegt. Ein Buch ohne Vollständigkeitswahn, ohne Germanisten-Gehabe, suchend, tastend. Man holt seine Strauß-Bücher wieder hervor, ordert andere, die man bisher nicht gelesen hatte. »Es fühle sich so an«, sagt Theisohn Frank Witzel, als sei Strauß in seinem Denken und er müsse herausfinden, warum. Ich kenne das.
Es sind anregende »Begegnungen in einer anderen Zeit« (so der Untertitel), die Philipp Theisohn dem Leser bietet. Jeder, der sich für Botho Strauß interessiert, wird es mit Gewinn lesen.