Zunächst denkt man, dass das Buch »25« heißt. Diese Zahl prangt weiß auf schwarzem Untergrund auf dem Cover. Erst auf dem zweiten Blick erkennt man den richtigen Titel, senkrecht in goldenen Buchstaben: »Der Springer«. Auf der nächsten Seite, umrissartig die »26«. Auf der vorletzten Seite »27«. Dazwischen: das Buch. Was haben die Zahlen zu bedeuten? Nach einem Drittel ahnt der Leser: Es sind Zimmernummern. In Zimmer 27 trifft sich ein Paar. Und in Zimmer 26 ist der Ehemann der Frau. Viel später erfährt man, dass das Zimmer 25 auch noch eine Rolle spielt. Es ist verwirrend.
Dabei beginnt alles so einfach: Eine tote Frau, ein Kommissar, der im sommerlichen Gewitterregen den Tatort zu Fuß aufsucht und ein zumeist schweigender Tatverdächtiger, der gesteht und danach nur noch einen Satz in einem langen Verhör sagt. Am Grab der Getöteten, wenige Tage später, erscheint dem Kommissar epiphanisch die Gestalt der Frau und auch gleich die Geschichte dazu. Es ist die Geschichte von Paulzen, dessen ehemaligen Studienkollegen Stockmann und von Madeleine, die dann Stockmanns Ehefrau wurde. Plötzlich sucht Stockmann Paulzen auf und »bietet« ihm ohne Umstände seine Frau an. Sie »entgleite« ihm und er komme mit ihr nicht mehr zurecht. Er könne sie haben.
Paulzen ist überrascht und verstört. Er beginnt, sich an die gemeinsam verbrachte Studienzeit zu erinnern. Die drei bildeten als Studenten eine Jules-und-Jim-ähnliche Konstellation in Bezug auf Madeleine, die mit ihrer Schönheit und Affektiertheit zunächst die Schule und später den Campus becircte. In den im Buch kursiv gesetzten Passagen gelingen Beschreibungen von großer Schönheit und Dichte. Am Ende entschied sie sich für Stockmann und gegen Paulzen, für eine vielversprechende Zukunft und gegen den stoffeligen Leser mit der ungewissen Vergangenheit. Stockmann macht beruflich Karriere, während Paulzen unter wechselnden Pseudonymen Schundromane schreibt.
Tatsächlich geht Paulzen wenig später nach Stockmanns »Angebot« auf eine Party der beiden und es kommt zum Wiedersehen. Das Gipsanrühren, wie er sein Schreiben nennt, welches mühsam durch Zitate aus anderen Büchern befeuert wird, geht von nun an besser von der Hand.
Nein, ein Kriminalroman im klassischen Sinn ist das nicht. Langsam wird der Leser von Pierre Chiquet in die seltsame Konstellation eingeführt. Im »Hotel Sonne« – löcherige Teppiche und der allgegenwärtige Geruch von Putz und Desinfektionsmitteln – treffen sich Paulzen und Madeleine. Zur gleichen Zeit logiert auch Stockmann dort. Er im Zimmer 26 – seine Frau und Paulzen in 27. Ein paar Tage später entdeckt Madeleine zufällig, dass – bei gleicher Einrichtung der Zimmer – der Spiegel in Nr. 26 kein normaler Spiegel ist. Das alles wird nur sehr dezent angedeutet; es wird mit keinem Wort erwähnt, dass es sich um einen Einwegspiegel handelt und dass Stockmann das Hotel augenscheinlich (!) zu Voyeurzwecken aufsucht. Chiquet bleibt in der Schilderung des Paares und deren Aktivitäten äußerst diskret; mehr als das sie sich berühren, erfährt der Leser nicht.
Stockmanns Sinnieren über das Verhältnis zu seiner Frau: »Längst hat sich die dicke Eisschicht auf uns gelegt, unter der das Leben einfach weitergegangen ist.« Will er durch den Voyeurakt seine Eifersucht und somit die Liebe neu befeuern? Manchmal bewegen sich die Zehen in Zimmer 26. Des Lesers Phantasie soll auch hier den Rest übernehmen (oder weglassen).
Chiquet erzählt über Nebensächlichkeiten. Gerade in der Schilderung scheinbar abwegiger Details gelingt es, eine intensive, zuweilen fast geheimnisvolle Atmosphäre zu erzeugen. Auf der Party laichten die Leute Wörter ab. Oder Paulzen schreibt seit der erneuten Begegnung mit Madeleine mit konzentrierter Wut, sitzt schwerelos auf seinem Stuhl und las staunend Sätze, die es vorher noch nicht gegeben hatte. Ein andermal ist ein Haus hell, still und schwebt auf dem Gesumm der Insekten, das sich vom entfernten Strassenlärm und den Geräuschen der Menschen draussen abhebt und Licht wird aus einem kargen Zimmer gesogen. Oder jemand füttert geduldig einen Igel von dem man sieht, dass er krank ist und bald sterben wird.
Manchmal weiß man nicht, ob die erzählenden Protagonisten einfach nur ihren Traum weiterphantasieren oder ob noch erzählt wird. Und manchmal schauen sich die Personen selber zu als seien sie Akteure in einem Schauspiel. Oder sie sind Gäste im Dasein des anderen. Beginn oder Produkt einer Depersonalisierung? Nach dem Kommissar, der die Geschichte am Grab evozierte, kommt dann der Gerichtsmediziner zu Wort, der die Leiche obduziert hatte und feststellte, dass es kein Mord oder eher ein Unfall ist (Genickbruch) und nun auch »seine« Geschichte, sein »Gehörtes« schildert, denn schließlich ist der Tod…ein guter Erzähler. Und als am Ende dann der Hotelportier übernimmt, ufern die mysteriösen Ereignisse fast bis zur Unverständlichkeit aus, zumal noch eine neue Personal- und Erzählebene (die des Hotelbesitzers und Zuhälters) eingefügt wird. Ist »Lene« nun jene Madeleine? Und wer hat die Observierung von Zimmer 26 und 27 durch ein Bohrloch in Zimmer 25 veranlasst? Wer schaut warum auf den in Zimmer 25 installierten Monitor? Wer ist jeder Glatzköpfige mit dem Lene in Zimmer 27 geht? Wer beobachtet eigentlich wen? Und was hat es mit dem Titel des Buches auf sich?
Ich habe das Buch mehrmals gelesen; immer wieder. Und ich habe die losen Fäden am Ende nicht zusammenbekommen. Hat sich Pierre Chiquet am Ende verhaspelt? Eine Pirouette zu viel? Ist das überhaupt wichtig? Oder lässt man sich einfach nur mit Wonne in diese Stimmung versinken, die zum Beispiel von dem heruntergekommenen Hotel ausgeht (von Ferne erinnernd an Ingmar Bergmans »Das Schweigen«) und bastelt sich »seine« Geschichte zurecht? Fragen über Fragen. Und vielleicht ist das ja die Absicht von Chiquet, der wohl den Charakterzug von Paulzen übernommen hat: Sobald er etwas verstand, verlor er jegliches Interesse und begann es zu vergessen. Ja, man vergisst dieses Buch wirklich nicht so schnell.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.