Pierre Chi­quet: Der Sprin­ger

Pierre Chiquet: Der Springer

Pierre Chi­quet: Der Sprin­ger

Zu­nächst denkt man, dass das Buch »25« heißt. Die­se Zahl prangt weiß auf schwar­zem Un­ter­grund auf dem Co­ver. Erst auf dem zwei­ten Blick er­kennt man den rich­ti­gen Ti­tel, senk­recht in gol­de­nen Buch­sta­ben: »Der Sprin­ger«. Auf der näch­sten Sei­te, um­riss­ar­tig die »26«. Auf der vor­letz­ten Sei­te »27«. Da­zwi­schen: das Buch. Was ha­ben die Zah­len zu be­deu­ten? Nach ei­nem Drit­tel ahnt der Le­ser: Es sind Zim­mer­num­mern. In Zim­mer 27 trifft sich ein Paar. Und in Zim­mer 26 ist der Ehe­mann der Frau. Viel spä­ter er­fährt man, dass das Zim­mer 25 auch noch ei­ne Rol­le spielt. Es ist ver­wir­rend.

Da­bei be­ginnt al­les so ein­fach: Ei­ne to­te Frau, ein Kom­mis­sar, der im som­mer­li­chen Ge­wit­ter­re­gen den Tat­ort zu Fuß auf­sucht und ein zu­meist schwei­gen­der Tat­ver­däch­ti­ger, der ge­steht und da­nach nur noch ei­nen Satz in ei­nem lan­gen Ver­hör sagt. Am Grab der Ge­tö­te­ten, we­ni­ge Ta­ge spä­ter, er­scheint dem Kom­mis­sar epi­pha­nisch die Ge­stalt der Frau und auch gleich die Ge­schich­te da­zu. Es ist die Ge­schich­te von Paul­zen, des­sen ehe­ma­li­gen Stu­di­en­kol­le­gen Stock­mann und von Made­lei­ne, die dann Stock­manns Ehe­frau wur­de. Plötz­lich sucht Stock­mann Paul­zen auf und »bie­tet« ihm oh­ne Um­stän­de sei­ne Frau an. Sie »ent­glei­te« ihm und er kom­me mit ihr nicht mehr zu­recht. Er kön­ne sie ha­ben.

Paul­zen ist über­rascht und ver­stört. Er be­ginnt, sich an die ge­mein­sam ver­brach­te Stu­di­en­zeit zu er­in­nern. Die drei bil­de­ten als Stu­den­ten ei­ne Ju­les-und-Jim-ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on in Be­zug auf Made­lei­ne, die mit ih­rer Schön­heit und Af­fek­tiert­heit zu­nächst die Schu­le und spä­ter den Cam­pus be­circ­te. In den im Buch kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen ge­lin­gen Be­schrei­bun­gen von gro­ßer Schön­heit und Dich­te. Am En­de ent­schied sie sich für Stock­mann und ge­gen Paul­zen, für ei­ne viel­ver­spre­chen­de Zu­kunft und ge­gen den stof­fe­li­gen Le­ser mit der un­ge­wis­sen Ver­gan­gen­heit. Stock­mann macht be­ruf­lich Kar­rie­re, wäh­rend Paul­zen un­ter wech­seln­den Pseud­ony­men Schund­ro­ma­ne schreibt.

Tat­säch­lich geht Paul­zen we­nig spä­ter nach Stock­manns »An­ge­bot« auf ei­ne Par­ty der bei­den und es kommt zum Wie­der­se­hen. Das Gips­an­rüh­ren, wie er sein Schrei­ben nennt, wel­ches müh­sam durch Zi­ta­te aus an­de­ren Bü­chern be­feu­ert wird, geht von nun an bes­ser von der Hand.

Nein, ein Kri­mi­nal­ro­man im klas­si­schen Sinn ist das nicht. Lang­sam wird der Le­ser von Pierre Chi­quet in die selt­sa­me Kon­stel­la­ti­on ein­ge­führt. Im »Ho­tel Son­ne« – lö­che­ri­ge Tep­pi­che und der all­ge­gen­wär­ti­ge Ge­ruch von Putz und Des­in­fek­ti­ons­mit­teln – tref­fen sich Paul­zen und Made­lei­ne. Zur glei­chen Zeit lo­giert auch Stock­mann dort. Er im Zim­mer 26 – sei­ne Frau und Paul­zen in 27. Ein paar Ta­ge spä­ter ent­deckt Made­lei­ne zu­fäl­lig, dass – bei glei­cher Ein­rich­tung der Zim­mer – der Spie­gel in Nr. 26 kein nor­ma­ler Spie­gel ist. Das al­les wird nur sehr de­zent an­ge­deu­tet; es wird mit kei­nem Wort er­wähnt, dass es sich um ei­nen Ein­weg­spie­gel han­delt und dass Stock­mann das Ho­tel au­gen­schein­lich (!) zu Voy­eur­zwecken auf­sucht. Chi­quet bleibt in der Schil­de­rung des Paa­res und de­ren Ak­ti­vi­tä­ten äu­ßerst dis­kret; mehr als das sie sich be­rüh­ren, er­fährt der Le­ser nicht.

Stock­manns Sin­nie­ren über das Ver­hält­nis zu sei­ner Frau: »Längst hat sich die dicke Eis­schicht auf uns ge­legt, un­ter der das Le­ben ein­fach wei­ter­ge­gan­gen ist.« Will er durch den Voy­eur­akt sei­ne Ei­fer­sucht und so­mit die Lie­be neu be­feu­ern? Manch­mal be­we­gen sich die Ze­hen in Zim­mer 26. Des Le­sers Phan­ta­sie soll auch hier den Rest über­neh­men (oder weg­las­sen).

Chi­quet er­zählt über Ne­ben­säch­lich­kei­ten. Ge­ra­de in der Schil­de­rung schein­bar ab­we­gi­ger De­tails ge­lingt es, ei­ne in­ten­si­ve, zu­wei­len fast ge­heim­nis­vol­le At­mo­sphä­re zu er­zeu­gen. Auf der Par­ty laich­ten die Leu­te Wör­ter ab. Oder Paul­zen schreibt seit der er­neu­ten Be­geg­nung mit Made­lei­ne mit kon­zen­trier­ter Wut, sitzt schwe­re­los auf sei­nem Stuhl und las stau­nend Sät­ze, die es vor­her noch nicht ge­ge­ben hat­te. Ein an­der­mal ist ein Haus hell, still und schwebt auf dem Ge­summ der In­sek­ten, das sich vom ent­fern­ten Stra­ssen­lärm und den Ge­räu­schen der Men­schen drau­ssen ab­hebt und Licht wird aus ei­nem kar­gen Zim­mer ge­so­gen. Oder je­mand füt­tert ge­dul­dig ei­nen Igel von dem man sieht, dass er krank ist und bald ster­ben wird.

Manch­mal weiß man nicht, ob die er­zäh­len­den Prot­ago­ni­sten ein­fach nur ih­ren Traum wei­ter­phan­ta­sie­ren oder ob noch er­zählt wird. Und manch­mal schau­en sich die Per­so­nen sel­ber zu als sei­en sie Ak­teu­re in ei­nem Schau­spiel. Oder sie sind Gä­ste im Da­sein des an­de­ren. Be­ginn oder Pro­dukt ei­ner De­per­so­na­li­sie­rung? Nach dem Kom­mis­sar, der die Ge­schich­te am Grab evo­zier­te, kommt dann der Ge­richts­me­di­zi­ner zu Wort, der die Lei­che ob­du­ziert hat­te und fest­stell­te, dass es kein Mord oder eher ein Un­fall ist (Ge­nick­bruch) und nun auch »sei­ne« Ge­schich­te, sein »Ge­hör­tes« schil­dert, denn schließ­lich ist der Tod…ein gu­ter Er­zäh­ler. Und als am En­de dann der Ho­tel­por­tier über­nimmt, ufern die my­ste­riö­sen Er­eig­nis­se fast bis zur Un­ver­ständ­lich­keit aus, zu­mal noch ei­ne neue Per­so­nal- und Er­zähl­ebe­ne (die des Ho­tel­be­sit­zers und Zu­häl­ters) ein­ge­fügt wird. Ist »Le­ne« nun je­ne Made­lei­ne? Und wer hat die Ob­ser­vie­rung von Zim­mer 26 und 27 durch ein Bohr­loch in Zim­mer 25 ver­an­lasst? Wer schaut war­um auf den in Zim­mer 25 in­stal­lier­ten Mo­ni­tor? Wer ist je­der Glatz­köp­fi­ge mit dem Le­ne in Zim­mer 27 geht? Wer be­ob­ach­tet ei­gent­lich wen? Und was hat es mit dem Ti­tel des Bu­ches auf sich?

Ich ha­be das Buch mehr­mals ge­le­sen; im­mer wie­der. Und ich ha­be die lo­sen Fä­den am En­de nicht zu­sam­men­be­kom­men. Hat sich Pierre Chi­quet am En­de ver­has­pelt? Ei­ne Pi­rou­et­te zu viel? Ist das über­haupt wich­tig? Oder lässt man sich ein­fach nur mit Won­ne in die­se Stim­mung ver­sin­ken, die zum Bei­spiel von dem her­un­ter­ge­kom­me­nen Ho­tel aus­geht (von Fer­ne er­in­nernd an Ing­mar Berg­mans »Das Schwei­gen«) und ba­stelt sich »sei­ne« Ge­schich­te zu­recht? Fra­gen über Fra­gen. Und viel­leicht ist das ja die Ab­sicht von Chi­quet, der wohl den Cha­rak­ter­zug von Paul­zen über­nom­men hat: So­bald er et­was ver­stand, ver­lor er jeg­li­ches In­ter­es­se und be­gann es zu ver­ges­sen. Ja, man ver­gisst die­ses Buch wirk­lich nicht so schnell.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.