LOSLABERN: Traktat, Traktat über den Tod, über Wahn, Sex und Text, und, erheitert von diesem soeben durch ihn hindurchgefahrenen Expressivitätsereignis: Bericht!, der Herbst 2008!... Eine grosse (großspurige?) Eröffnung. Dann: »loslabern« als ethischer Akt. Als neue Diskursform im Habermasien der Nullerjahre? Und natürlich auch gleich die »passende« literaturhistorische Selbsteinstufung: Ein richtig losgelaberter Text würde seine, dass man aber dann, ohne sich dabei zu unter; Finsternis: Steuer, Erwachsenenleben, Verantwortung, Einsicht, Vernunft; ENDHÖLLE. Verstanden? Nein? Macht nichts. »loslabern« ist eben auch zwangloses bzw. ‑haftes Absondern. (Das aber glücklicherweise eher selten.)
Vom Größenwahn wechselt Rainald Goetz dann bisweilen ins theatralische und geriert sich auch schon mal als der Gefangene. Aber tröstend für den Leser: Er meint wenig in diesem Buch wirklich Ernst. Hinter diesen Textkaskaden steckt (zu) oft (zu) wenig. Nur ab und an ist das anders, etwa wenn er Schirrmacher vorhält, die Seriosität des (FAZ-)Feuilletons drohe nachzulassen. Dann blitzt die Angst des Kindes hervor, seine Spielwiese zu verlieren. Denn Goetz weiß sehr wohl, was er an seiner Spielwiese hat.
Mit Wortkreationen wie Eitelkeitsimplikationen, Geistesabtötungeffekt, Kitschreaktionärheiten (über Botho Strauß), Unterschichtenschmutz (Privatfernsehen) hat sich Goetz wohl endgültig in den Thomas-Bernhard-Himmel geschrieben. Das bedeutet nicht, dass er ein simpler Bernhard-Epigone wäre oder einfach nur die (späten) bernhardschen Weltbeschimpfungen kopiert. Goetz gelingen Momente, die durchaus eine eigene Stimme erkennen lassen (zumal er der spielerischere Autor ist – im Gegensatz zum austriakisch-bärbeißigen Vorbild [ja, Vorbild]). Und die in taumelnden Textsuaden eingeflochtenen kurzen, jeweils nur wenige Seiten langen Erzählungen (Theologisches Konvikt und 1918) sind tatsächlich kleine Perlen.
Amüsantes vom Feuilleton-Groupie
Dennoch kommt einem das Handke-Wort vom »Witzel« in Bezug auf den späten Thomas Bernhard in den Sinn (Handke verehrte die frühe Prosa Bernhards), wenn man nun diese Klatsch- und Lügengeschichten eines doch arg nervösen Feuilleton-Groupie liest (Goetz spielt damit, seinen Schilderungen erfundene Passagen hinzuzufügen und sie dadurch zu literarisieren). Dabei ist das alles durchaus amüsant (insbesondere wenn man den jeweiligen Kontext kennt, d. h. mindestens FAZ-Leser und Fernsehzuschauer ist; die regelmäßige Perlentaucher-Lektüre schadet auch nichts).
Auf scheinbar jeden »labert« Goetz ein (der Leser merkt nicht immer sofort, ob es sich um innere Monologe oder reale Dialoge handelt). Es ist die Kassiererin an der Supermarktkasse, der Zeitschriftenverkäufer (der ihm 15 Cent Wechselgeld in 1‑Cent-Stücken zurückgibt) oder eben die Crème-de-la-Crème des deutschen Feuilletons, die hier durch den Textmahlstrom gezogen wird. So wie Frank Schirrmacher (dessen Artikel im Herbst 2008 er als durchgeknallt bezeichnet und im Gespräch auf dem FAZ-Herbstempfang maßt sich Goetz unvermittelt an, ihn einfach zu bitten, wegzugehen), Don Alphonso (der umschmeichelt wird), Christian Kracht (über dessen zweites Buch er verzweifelt), Peter Sloterdijk (dem mal eben die Welt erklärt wird [peinlich]), Joachim Lottmann (vor dem er sich sogar fürchtet) oder Daniel Kehlmann (der wie einen Streber-Schuljunge abgekanzelt wird). Von Ferne beobachtet er auch Kai Diekmann (Goetz’ wilde Assoziation: Diekmann benutze als Haargel das Scheidensekret von Lady Bitch Ray), Broder; Diekmann und Broder (»Arte«-Film!), Nils Minkmar (der Sonderbeauftragte für Brandbeschleuniger beim ZK der FAS), Middelhoff (Achtung: Namenswitze), Döpfner, Stuckrad-Barre (obwohl Springer-Kolumnist mit aufmunternden Worten versehen).
Es gibt auch Reminiszenzen zu Martin Walser, Enzensberger, Bernhards »Preise« (er rubriziert es als schwächeres Werk im Œuvre ein), zur Tellkamp-Lektüre vom »Turm« (dazu einige grottenfalsche Lesarten, etwa wenn er Ostrom in Tellkamps Roman einem realen Ort zuordnet oder suggeriert, ein Verteidiger des DDR-Scheißstaat[es] könnte sich auf dieses Buch berufen – obwohl durchaus konzediert wird, dass Tellkamp die Atmosphäre der DDR treffend schildert). Oder einen Spontanvergleich über Berliner Schnoddrigkeit und Münchner Freundlichkeit. Die Verfilmung von Austs »RAF«-Buch (Drecksfilm). Joachim Kaisers Totaltraurigkeit zum 80. Geburtstag-Interview in der SZ (und wie sonst nur selten spricht einem da der Autor aus der Seele). Haiders Unfall und das Autowrack als Kunstwerk. Und natürlich die sich anbahnende »Finanzkrise« (nebst Lehman-Pleite) – es gibt fast nichts, was im Herbst 2008 en vogue war und sich nicht in diesem Buch bearbeitet findet (inklusive der Reflexionen, die wiederum nur Reflexionen auf frühere Reflexionen sind, wie etwa über Schleef und dessen Theaterkunst, Handkes letzten Satz aus »Wunschloses Unglück« oder den schlechte[n] Schriftsteller Alfred Döblin, diesen Ödnisproduzent[en]). Gegen Ende vermisst man intuitiv dann doch einige(s) und fragt sich warum.
Affirmation von Tratsch und übler Nachrede als Kunst, so referiert Goetz einmal in einer Suada über Döpfner – aber der Leser hat unvermittelt einen Anhaltspunkt, wie er die vorliegende Prosa charakterisieren könnte. Dabei sind manche dieser Reflexionen von luzider Kraft, etwa wenn er über die Jahre der Schröder-Kanzlerschaft sagt: Nur in den rot-grünen Jahren gab es kurz einmal den Versuch einer direkten Affirmation der Macht, und man konnte an Schröders Beispiel gut sehen, dass sogar in der Politik der Wille zur Macht so direkt nicht affirmiert werden darf, weil die Macht sich mit dieser Selbstaffirmation selbst gefährdet, sogar selbst zerstören kann. Leider wendet sich Goetz dann wieder seinem Gesprächsgast zu, statt diesen belebenden Gedanken weiter auszuführen.
Qualitätsjournalismus und Diskursirrsinn
Gelungen die historische Allegorie zum aktuellen Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft. Seit Jahren, so Goetz, wird der Politik die Vorrangstellung von der Wirtschaft streitig gemacht (was – unüblich in diesem Buch – sehr zurückhaltend formuliert ist). Diesen Kampf zwischen Politik und Wirtschaft um den gesellschaftlichen Spitzenrang sieht er nun parallel zur historischen Konfrontation zwischen Kirche und Reich, Papst und Kaiser in den zurückliegenden Jahrhunderten. (Da erinnert man sich dann an seinen Geschichtsunterricht.)
Zum Qualitätsjournalismus führt Goetz kurzerhand eine Art »Beweislastumkehr« ein: Mehr denn je war…die öffentlich zugängliche Information in einer solchen Massenhaftigkeit, Zugänglichkeit und Unüberblickbarkeit zugänglich, dass das Problem intellektueller Qualität, also auch das Problem für den Qualitätsjournalismus, längst umgekippt war aus dem Bedarf an Information in das Gegenteil, in Bedarf an Nichthaben von Information… Zu Recht merkt er an, dass 90 Prozent der überall wichtigtuerisch weitergeflüsterten Hintergrundinformationen…totaler Sozialmüll, Unsinn, Jauche seien, die auch dem Qualitätsjournalismus viel zu oft das Hirn viel zu sehr überschwemmt. Demnach bestünde Qualitätsjournalismus durchaus (oder gerade) auch im Nicht-Melden allzu banaler und/oder lächerlicher bzw. ungeprüfter, einfach nur abgesonderter »Informationen«. (Eine mehr als zutreffende Einschätzung, wie man beispielsweise aktuell an der lachhaften Pseudo-Berichterstattung der sogenannten Qualitätsmedien zu den Koalitionsverhandlungen sehen kann.)
Und wenn Goetz richtig wütend und dabei genau ist, dann ist die Lektüre tatsächlich mehr als nur amüsantes Plaisir. Etwa, wenn er aus Anlaß der Finanzkrise gekonnte Medienkritik betreibt und den kompletten Diskursirrsinn konstatiert, der die gesamte Presse, besonders aber die Feuilletons, und unter denen am allerheftigsten natürlich gerade auch wieder das allerhysterischste, das der Faz, befallen hatte, wo jetzt in mehr oder weniger täglich erscheinenden Artikeln die Revolution ausgerufen wurde, die morgen gleich über uns hereinbrechende REVOLUTION vorhergesagt wurde, Revolution, egal eigentlich von was und wofür, Revolution aber auf jeden Fall täglich angefragt und angemahnt wurde […] und jeder von uns Schriftstellern musste, das war in diesen Wochen Pflicht, per Artikel oder Interview das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen verkünden, das neu heraufkommende Zeitalter der Vernunft ankündigen, das jetzt im Zusammenbruch der Irrsinnigkeiten des Kapitals sichtbar werden würde […] je besser bezahlt der Feuilletonredakteur, umso radikalantikapitalistischer der Neoantikapitalismus, umso orthoorthodoxer der Basalmarxismus, es war in der gesamten Öffentlichkeit kurz eine Stimmung wie früher in der Alternativkultur, Wirgefühl, Gruppendruck, Unsinnsparolen und richtiger Lügen natürlich auch, mit dem unangenehm modischen Triumpfgefühl, es immer schon gewusst zu haben, aber links ist nicht nur mit den Schwachen im Sozialen, links ist im Diskurs manchmal auch kurz da, wo eine Wahrheit schwach ist aktuell…
Baby Schimmerlos mit lichten Momenten
Da ist dann doch dieser Hang auf der richtigen Seite stehen zu wollen (was er den anderen vorwirft). Unter diesem Konformismus büßt Goetz’ Denken dann an Schärfe ein; es wird eindimensional und leicht auszurechnen. So lehnt er natürlich ganz »korrekt« den Nationalstaat ab (besonders heftig sein Ekel vor den Schleimer[n] und Mitmacher[n] der nur so tropfenden, so fürchterlich gewesenen mittleren Nullerjahre hier in diesem DEUTSCHLAND VERRECKE usw, Grausigkeitstiefstpunkt war der WM-Sommer 2006 gewesen), während er den Wohlfahrtsstaat selbstverständlich bejaht (angekotzt ist er von einem ein Buch mit der Kapitelüberschrift »Warum ist der Staat überhaupt notwendig«). Über die Ambivalenz dieser beiden Einstellungen ist sich Goetz (wie viele andere Intellektuelle) gar nicht im Klaren.
Nicht nur hier seufzt der Leser ob des Privilegs eines nicht argumentieren müssenden Buches: Man erklärt es ganz schnell zur Literatur, damit man die Inkonsequenzen nicht erläutern muss. Widerspruch ist in diesem Konzept nicht nur nicht vorgesehen, er ist sinnlos. Oder warum (und vor allem: wie) sollte man widersprechen, wenn beispielsweise Gorbatschow zum etwa drittwichtigste[n] Mensch des 20. Jahrhunderts apostrophiert wird, nach Lenin und Hitler und wohl sicher vor Stalin?
Eindeutig leidet darunter das, was man Seriosität des Autors nennen könnte (ein Begriff, den Goetz voraussichtlich in drei Sätzen à je zweieinhalb Seiten aufs Schärfste als Unfug abtun würde). Aber es gibt auch gewollt komische Passagen in diesem Buch, wenn der Autor beispielsweise eine Art Fehlersuchspiel entwirft:
Giovanni di Lorenzo, Die Zeit […]
Helmut Markwort, Focus […]
Gerhard Steidl, Steidl-Verlag
Elke Heidenreich, Spinat
Oder wenn er launig die sieben großen »W« des Journalismus aufzählt:
wer? // was? // wie? // wo? // wann? // warum?
Bei aller Albernheit: Goetz versteht sich (seit »Abfall für Alle«) als Chronist (inzwischen der perversen Nullerjahre). Und dies macht er rebellisch-posierend, bernardesk-wütend in einer Mischung zwischen Baby Schimmerlos des FAZ/taz/SZ/Spiegel/Zeit-Feuilletons und eines »écriture automatique«-Adepten der 1920er Jahre.
Man vergesse jedoch nicht: Hier wird ein Schauspiel aufgeführt. Goetz ist natürlich längst nicht mehr das enfant terrible. Er ist »angekommen« und berichtet aus dem Zentrum des »Betriebs« und nicht von dessen Rand (auch das unterscheidet ihn beispielsweise von Bernhard). Man achte beispielsweise darauf, wen er nicht erwähnt. Es gibt bei ihm auch keine »Entdeckungen«, keine »Außenseiter«-Sichten. Er stiftet keine »Diskurse«, er nimmt sie nur auf, spinnt sie teilweise in Absurde aber manchmal gelingen ihm dabei belebende Ideen. Seine Kreativität ist dennoch auf die Re-Aktion beschränkt. Goetz’ »loslabern«, Teil eines großen Projekts, sind Aufzeichnungen, die den am Feuilleton interessierten Leser ein bisschen eine Schlüssellochperspektive suggeriert. Wie lange die Kraft dieser Beobachtungen attraktiv bleibt, ist fraglich. Der Chronist der Nullerjahre scheint manchmal mit eher kurzer Lebensdauer zu berichten. Aber vielleicht irrt der Leser da und in zwanzig Jahren sind diese Bücher kanonisiert. Mindestens werden sie den dann noch lebenden Zeitgenossen als Erinnerungsstützen dienen.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
Das scheint ja ein wirklich amüsantes Gelaber zu sein, aber verdammt mühselig zu lesen. Dein ausgewähltes Zitat z‑B. wird nach 5–6 Zeilen recht unübersichtlich:
„...kompletten Diskursirrsinn konstatiert, der die gesamte Presse, besonders aber die Feuilletons, und unter denen am allerheftigsten natürlich gerade auch wieder das allerhysterischste, das der Faz, befallen hatte, wo jetzt in mehr oder weniger täglich erscheinenden Artikeln die Revolution ausgerufen wurde, die morgen gleich über uns hereinbrechende REVOLUTION vorhergesagt wurde, Revolution, egal eigentlich von was und wofür, Revolution aber auf jeden Fall täglich angefragt und angemahnt wurde […] und jeder von uns Schriftstellern musste, das war in diesen Wochen Pflicht, per Artikel oder Interview das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen verkünden, das neu heraufkommende Zeitalter der Vernunft ankündigen, das jetzt im Zusammenbruch der Irrsinnigkeiten des Kapitals sichtbar werden würde […] je besser bezahlt der Feuilletonredakteur, umso radikalantikapitalistischer der Neoantikapitalismus, umso orthoorthodoxer der Basalmarxismus, es war in der gesamten Öffentlichkeit kurz eine Stimmung wie früher in der Alternativkultur, Wirgefühl, Gruppendruck, Unsinnsparolen und richtiger Lügen natürlich auch, mit dem unangenehm modischen Triumpfgefühl, es immer schon gewusst zu haben, aber links ist nicht nur mit den Schwachen im Sozialen, links ist im Diskurs manchmal auch kurz da, wo eine Wahrheit schwach ist aktuell…“
Ich selber verliere mich ja auch zu gern in ellenlangen Schachtelsätzen , aber das obige Beispiel ist schon heftig und wenn „...“ bedeutet, dass es noch eine Weile so weitergeht – ääh, wo war ich stehen geblieben?
Ich glaube, man muß in einen gewissen Rhythmus kommen – dann geht’s mit der Lektüre eigentlich ganz gut. Das ist natürlich bei einem Zitat schwierig, weil ich meist mittendrin angefangen habe und auch noch Auslassungen gemacht habe (der Übersichtlichkeit wegen). Mir kommt allerdings jetzt der Gedanke, dass diese Auslassungen das Verständnis eher erschweren als verbessern.
Re-Aktion – und ein Gefühl des Ungenügens
Im nochmaligen Überlesen frage ich mich, ob Goetz nicht einfach nur das bessere Feuilleton sein will. Was er wiederfinden will, ist seine Höhe der Erkenntnis.
Er will nämlich nicht sich selber und seine Freiheiten aufgeben und hinter diese Zugewinne zurück. Sein Manko ist, dass er – obwohl er es verschiedentlich forderte – das bisher nicht in »künstlerische Anstrengung«, also Literatur verwandeln konnte. Ist vielleicht das literarische / literarisierte Blog überhaupt seine Form und seine Stärke?
Ich erinnere mich an seine Anfänge in SPEX, wo er sofort mit einem eigenen, hoch-subjektivierten, dringenden Ton dabei war. Während seine Bücher nach »Irre« dann oft eine Anstrengung waren, eine Kunst-Anstrengung, die ästhetisch nicht wirklich aufgingen. Und seine neueren Sachen sind nett, aber nicht wirklich von literarischem Belang. (Obwohl ich den Verdacht habe, dass er einen selbstgegebenen Belang gern erreichte.)
So erscheint seine Zeitungshörigkeit als ein Ausweg, als ein Angeschlossensein an eine Zeitgeistigkeit, ie er anscheind sucht (Vanity fair), die er auch leicht überflügelt... und dann doch hinter etwas zrückbleibt. Ihn zu lesen, macht mir meistens Spaß. Aber das war es dann auch. Das ist jedenfalls mein Gefühl des Ungenügens.
Ja, »Spaß« gemacht hat die Lektüre; nett ist die richtige Formulierung. Manchmal holzt er ein bisschen herum, um ein gewisses Skandalpotential zu haben. Alles in Allem aber von possierlicher Harmlosigkeit. Und literarisch tatsächlich zweitrangig. Obwohl er’s könnte.
Das Ungenügen
Die Rezension und Kommentare bestätigen mir ein bisschen den zwiespältigen Eindruck, den das Ende von »Irre« bei mir hinterlassen hatte, und das mich ein bisschen daran zweifeln ließ, wie die nächsten Werke so geraten könnten. »Irre« habe ich wirklich nicht bereut, (kraftstrotzende Vollblutsprosa, Form- und Gestaltungswille, die reflektiert werden, ohne dass es künstlich wirkte).. nur als er dann »die Kultur in seinen Kopf tut«, so ähnlich sagt er’s glaube ich, da hat es für mich nicht mehr die gleiche Substanz. Zu sehr klingt es mir nach Kraftmeierei, wenn er sich mit Fäkalien in die Feuilletonschlacht schmeißt und sich aber der großen Wahrheit verpflichtet. Seine Gegner, diese Professörchen, Germanistenprosaschreiberlinge legen die Latte nicht hoch genug, können gar nicht so (wie er) aus dem vollem Schöpfen.. aber so steigen doch langsam die Zweifel empor: Was ist denn diese große Wahrheit, für die er kämpft? Irgendwie sehe ich sie nicht mehr in den Deklarationen, nur ihr zu dienen, den Angriffen, Verteidigungen,... Es ist immer noch lustig, selbstironisch usw... Aber wenn er so um sich drischt, kämpft er dann nicht letzlich auch nur um die Deutungshoheit, die geistige Lufthoheit im Zeitungsblättersalat? Ist er dann nicht doch auch »nur« einer von ihnen, auch wenn er noch so ironisch darüber schreibt, wie die umsorgende Kultur ihn empfängt?
Die Stärke von »Irre« ist die Stärke des eigenen Erlebten. Die Positionen, die er zu Kunst, zu anderen Personen, Äußerungen, öffentlichen Vorkommnisen etc. vertritt, fallen dagegen ab, weil sie nicht die Wucht dieses unmittelbar Betroffenen erreichen und wirken dann etwas »ungenügend« wenn sie dennoch mit der gleichen Emphase vorgebracht werden.
So ist in jedenfalls mein vorläufiger Deutungsversuch..
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@Phorkyas
Ich habe »Irre« nicht gelesen, aber was Sie da beschreiben, erzählen, rekapitulieren: Dies könnte auch für »loslabern« gelten. Wobei vielleicht dann hier noch mehr die oberflächliche »Kraftmeierei« bedient zu werden scheint (aber das ist eine Vermutung).
Wobei: Bei aller »Kraftmeierei« ist Goetz dennoch im »Betrieb« sehr stark eingebunden. Das bestärkt meine Skepsis, was diese Rebellenattitüde angeht.
mensch, der goetz.... den hatte ich total vergessen, nachdem ich damals, vor vielen jahren ... mich schier »irre« gelesen habe.
jetzt ertappe ich mich bei dem gedanken »lebt der noch?«.... irgendwie hatte ich ihn des selbstmords oder des exzessiven lebetodes verdächtigt und siehe da.... er bleibt sich treu, um es mal positiv zu sagen :-)
Goetz wurde seinen Selbstmord mindestens zwei Bücher vorher ankündigen...
Erzählung über die Hintergründe reiner Re-Aktion in der Literatur
Eine weitere Serie, die hier seit kurzem zu sehen ist, trägt den Titel Rückkehr aus der Anomalie. Die Figuren laufen beständig durch verschiedene Eingangstore auf denen Anomalie draufsteht. Neu für die meisten Zuschauer dürfte die Darstellerin Jeniffer Lewis sein, die als PR-Mitarbeiterin in der Serie dafür zuständig ist, alles, was die Anomalien betrifft, vor der Öffentlichkeit geheim zu halten.
Die PR-Mitarbeiterin sieht genauso aus wie eine junge Frau, die in der Serie eine Rolle als angehende Schauspielerin hat, Clarence Brown, agiert aber völlig anders und sorgt damit für einige Probleme bei Kollegen, die meinen sie ja bereits „zu kennen“.
Das Team, das im Zentrum steht, agiert von einem so genannten Anomaly Research Center, kurz ARC, aus. Zwischenzeitlich tritt auch die PR-Managerin dem Team bei. Da sie aussieht wie Clarence Brown, aber eigentlich eine ganz andere Persönlichkeit ist, führt dies natürlich zu zahlreichen Verwechselungen, auf die ich aber nicht weiter eingehen werde.
Stattdessen soll hier noch etwas über das Team mitgeteilt werden, dessen Mitglieder ständig vergessen durch welche Tore sie schon gelaufen sind, durch welche noch nicht. Diese Mitglieder tauchen immer nach einiger Zeit auf und verschwinden dann wieder. Alle Tore führen in eine Geisterwelt, wenn man einer alten Legende der Eskimos vertrauen schenken darf.
Die Tore bestehen aus einer glitzernden Kristallflüssigkeit, durch die man von beiden Seiten hindurchschauen kann. (Man sieht nur undeutliche Konturen.) Von der einen Seite her schaut man in die Vergangenheit. Von der anderen in die Zukunft. Zwischen jeweils zwei Toren ist es so, als würde die Zeit stillstehen. Oder als hätte alles von irgendwelcher Bedeutung bereits stattgefunden, in der einen oder anderen Form. Als wären alle möglichen Gedanken bereits gedacht worden. Neuigkeiten werden jeweils zwischen den Teamplayern ausgetauscht, wenn sie sich beim Verlassen oder Eintreten in die Tore begegnen.
Anomalie gibt es in verschiedenen Sorten, die von den Teamplayern ebenfalls gegenseitig ausgetauscht werden. Ein Konzentrat einer bestimmten Sorte Anomalie (z.B. Exotic Mist) lässt sich in praktischen Schachteln einlagern, mit Hilfe eines computerunterstützten Verfahrens.
Die Schachteln sind üblicherweise versteckt in kleinen sprechenden Puppen, die sich von Anomalie ernähren. Diese Puppen sprechen (in der Regel) sehr höflich, scheinen aber ansonsten etwas verwirrt zu sein. Wenn sie lügen, sind es aus ihrer Sicht immer Notlügen. Die Teamplayer, die das bis zu einem gewissen Grade erkannt haben, scheinen eigentlich ganz gut mit ihnen auszukommen. Manchmal sind sie aber irrsinnig ungehalten, weil sie vor lauter Notlügen ganz aufgedreht sind (süße Dinger). Wegen diesem ganzem Stress mit den Puppen wird man auch schwerlich nur so etwas wie einen normalen Teamplayer antreffen. (Richtig: Die Puppen werden von Darstellern gespielt, von denen eine die bereits erwähnte Clarence Brown ist.)
Ein Untersuchungsausschuss zur Ermittlung der Bestandteile von Anomalie brachte kürzlich folgendes ans Licht: 70% das Übliche (das, was auch als Nachrichten der Sendeanstalten zu entnehmen ist) 30% das, was, aus welchen Gründen auch immer, nicht öffentlich diskutiert werden kann, worüber aber jeder seine ganz eigene Vorstellungen besitzt. Das P.R.-Team, welches für die Regierung arbeitet, sorgte dafür, dass in den Medien dieses Ergebnis des Untersuchungsausschusses ausführlich diskutiert wurde. Mit dem Ergebnis, das man ihm nicht trauen könne. (Obwohl es auch einzelne Stimmen gab, die meinten jetzt wüssten wir also endlich woraus Anomalie bestehe.)
Eine Reporterin schien sogar nachfragen zu wollen, ob denn nun durch dieses Ergebnis aller unbestimmbaren Herkunft der Anomalie der Kampf angesagt sei, aber niemand ging weiter auf ihre Argumentation ein. So war jeder weiteren Diskussion über die Bedeutung der Existenz der Anomalie wieder einmal auf unbestimmte Zeit der Saft abgedreht.
Vor einigen Tagen erschien eine weitere Serie auf den heimischen Kanälen, zu der Teamplayer aus den bereits gesendeten Staffeln von Zurück aus der Anomalie eingeladen wurden, um dort, in einer nachgeahmten Studioatmosphäre, ihre Erfahrungen mit den Wirkungen verschiedener Sorten von Anomalie öffentlich zu erörtern.
Die Behauptungen eines Teamplayers dort liefen zum Beispiel darauf hinaus, dass jedes bisherige ideologische Denken eine massenpsychologische Anomalie darstelle, ganz so wie es Hermann Broch bereits 1941 in seiner Massenwahn-Theorie dargestellt hätte. Laut dieser entwickelt sich Geschichte in psychischen Zyklen: 1. Ein bestimmtes Wertesystem gelangt zu absoluter Geltung. 2. Überspannung des Wertesystems (Überwachungswahn, Hexenverfolgung und Säuberungsaktionen anderer Art)
3. Glaubwürdigkeitskrise 4. Zerrissenheitswahn.
Im Moment würde die westliche Kultur sich selbstverständlich in letzterer Phase befinden, gekennzeichnet durch die völlige Unsicherheit, in die die Menschheit zur Zeit gerate, hin und her gerissen zwischen der alten Ideologie der Individualisierung durch Konsum und dem zunehmenden Erkennen der Notwendigkeit des Überwindes dieser Ideologie zugunsten eines nachhaltigen Lebensstils und eines Lebens in Einklang mit allen Menschen und der Natur.
Ein anderer Mann, der sich als weiterer Teamplayer aus einer älteren Staffel vorstellte, (von der ich nie eine Folge gesehen habe) behauptete vor laufender Kamera es wäre endlich Schluss mit aller Anomalie, sobald sich die Frauen konsequent weigern würden, weiterhin für die Rollen als Puppen bereit zu stehen. Nur so könnte aller Verwechselung zwischen Schein und Wirklichkeit unter Männern und Frauen Einhalt geboten werden und wir könnten endlich diesen historischen teuflischen Kreislauf der soeben von seinem Kollegen beschriebenen psychischen Zyklen verlassen. Könnten unsere falschen Vorstellungen über Anomalie, Zeit und Tod abstreifen.
Noch ein anderer Player mischte sich nun in die Diskussion ein und meinte er wolle unbedingt zu dem bislang Gesagten noch hinzufügen, dass wir dazu aber zunächst einmal den Machenschaften der PR-Agenturen der Regierungen ein Ende machen müssten, damit sich die Puppen nicht weiterhin zwangsläufig an Hand von Anomalie ernähren müssten b.z.w. könnten.
Offenbar ein schwieriges Thema, sagte die Moderatorin und fegte sich mit gehörigem Schwung einige weiße Haarsträhnen von ihrem Gesicht weg, lehnte sich zurück und seufzte so tief, dass ihr unmittelbar alle anwesenden Player, aus den unterschiedlichen bereits ausgestrahlten Staffeln, in die Augen starrten. Sie so anstarrten, als würde gleichzeitig in ihnen allen die Vermutung aufkommen, sie wäre vielleicht selbst nur eine weitere dieser, von der PR-Maschinerie vorgeschalteten, Puppen.
Aber wie steht es denn mit euch, meine lieben Teamplayer, entfuhr es darauf hin der Moderatorin, als sie sich wieder begann vorsichtig etwas nach vorne zu beugen. Wenn ihr alle euch nicht mehr länger unter euren abstrakten Verhältnis zu dem Codex eures Teams verstecken würdet, sondern jeder wirklich als derjenige, der er einfach ist zu agieren begänne, zusammen mit Gleichgesinnten aus allen Lebensbereichen und Kulturen, würde sich dann nicht auch die Nachfrage nach weiteren neuen Sorten von Anomalie rapide verringern. Und die Vorstellungen über die Rollen, welche die so genannten Puppen in unserer Gesellschaft spielen, können doch erst dann offen thematisiert werden, wenn wir allen gleichermaßen das Recht geben den Lebenssinn, frei von äußeren Vorgaben, in sich selbst zu entdecken.
Warum diese Sendung nicht im Eklat einer zentralen Medien-und-Sucht-tragischen Wendung endete, fragte ich kürzlich einen halbwegs minderjährigen Reporter und er antwortete mir amüsiert, aber auch besorgt: Weil niemand etwas darüber an den entscheidenden Stellen mitbekommen hat. Oder zumindest so tut. Diese Sendung führt ihr Schattendasein, so lange sie von entsprechenden Stellen einfach durch vorgetäuschte Nichtbeachtung abgezirkelt wird. Solange diese Stellen offiziell diese Sendung als Phänomen darstellen können, welches man nicht beachten bräuchte. Solange irgendetwas so präsentiert werden kann, dass es innerhalb der Struktur der spektakulären Macht wahrgenommen wird, die natürlich ausschließt, dass wir Widersprüche innerhalb unserer Gesellschaft wirklich erkennen und gleichzeitig auch ernst nehmen. Solange die PR Anstalten es schaffen die Unzufriedenheiten der Bevölkerung so zu kanalisieren, dass diese jene als Unterhaltung oder Loslabern oder was auch immer genießen kann, solange kann alles eigentlich noch beim Alten bleiben.
Sie fahnden nach dem Schlüssel zum Umbruch zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert, nach der Erkenntnis des Irrweges und nach der Einsicht in den Ausgang aus den Anomalien des heute immer weiter inmitten des sich ausdifferenzierenden Medienwahns bis der Wind plötzlich aus einer ganz anderen Richtung weht und uns alle Dinge neu sehen lässt.
Hatte das Buch immer noch nicht in den Händen, aber weil das Stichwort »Qualitätsjournalismus« fällt und das Cover sowohl farblich als auch typografisch im Corporate Design des DLF daherkommt... meine Frage: Spielt das irgendeine Rolle? Oder positioniert sich RG paratextuell ganz bescheiden als Deutschlandfunk(er) der deutschen Intellektuellen? Auf jeden Fall eine reizvolle Reibung zwischen Buchdesign und Titel, weil DLF ja für alles, außer »loslabern« steht.
Interessante Deutung
…wäre aber nicht meine. Goetz hat »genug« mit seinem »Gegenüber« der FAZ zu tun (die SZ kritisiert er deutlich rauer für das Kaiser-Interview). Was er über Qualitätsjournalismus sagt, ist praktisch zitiert. Ich bin fast sicher, dass er DLF/DLR nicht als Quelle verwendet.
Dieses »loslabern« ist in meiner Deutung eine Art spontanes Moritaten- bzw. Stegreif-Gerede in Buchform mit gelegentlichen Twitter-Einschüben. Das ist natürlich alles nur Show und cool gestylte Selbstdarstellung. Wer bei Goetz nicht vorkommt, existiert für ihn sozusagen nicht.
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