Nach der Schule und an Wochenenden treffen sich die beiden zu ausgiebigen Exkursionen auf der »Wurt«, einem riesigen Gelände mit Blick auf die Bremer Vulkanwerft, schauen in die Sterne, lassen sich vom Wachmann Kriegs- und Lebensgeschichten erzählen oder »schwiegen und lauschten in die Welt« und genießen einfach nur den »seimigen Geruch der Disteln«, »von Demut und Freude durchdrungen«. Und »manchmal wogten die hohen Gräser, vor einer vom Sturm geknickten Weide stand ein Graureiher. Und als die Sonne hinter der Deichkrone versank, zerfloß die Welt bis zur Kate hin in tiefem Rot.« In diesen Szenen gelingen Dohrmann wunderbare, dichte, fast intime Landschafts- und auch Freundschaftserzählungen (zuweilen aus der Ferne an den großen Wolfdietrich Schnurre und dessen expressiv-atmosphärisches Erzählen erinnernd). Und man ist gerne dabei bei Ausflügen im Umland, auf den Dörfern, wo es auch schon einmal Rustikaler zu geht (hier macht Willem die ersten sexuellen Erfahrungen).
Nach einem Drittel des Buches gehen die Freunde auseinander; Schlosser studiert anfangs in Berlin (flieht vor der Bundeswehr), die Zwillinge sind untergebracht. Kurz darauf geht er nach Mexiko, der Liebe wegen. Willem Kronhardt studiert nicht in einem naturwissenschaftlichen Fach, sondern widmet sich der Firma. Bei einem Lieferantenbesuch lernt er seine spätere Frau Barbara kennen. Sie ist wesentlich geschäftstüchtiger als er und es gelingt ihr nach einigen Widerständen, die Alten zu überzeugen, in das Unternehmen einzutreten, es zu modernisieren (nicht nur mit einem neuen Gebäude) und den Herausforderungen am Markt zu öffnen. Dennoch bleibt man traditionsbewusst und setzt auf hochwertige Textilien. Barbara ist die bestimmende, treibende Kraft in dieser Ehe; Willem arbeitet nur halbe Tage, trennt Privat- und Geschäftsleben. Sein Büro ist mit Couch, Teleskop und allerlei naturwissenschaftlicher Fachlektüre ausgestattet. Die Reibungen mit den Alten kontert seine Frau mit viel Geschick. Noch könnte das so etwas wie ein Entwicklungsroman über Willem werden denkt man und liest weiter, obwohl man schon bald Schlosser vermisst. Aber der Leser wird – und das ist eine der Merkwürdigkeiten dieses Romans, der bis in die unmittelbare Gegenwart hinein greift – nie mehr etwas von ihm hören; nur noch zweimal erinnert sich Willem an gemeinsame Zeiten im sich ändernden Bremer Umland.
Und so erliegt Ralph Dormann der Versuchung, dem Roman nach 500 Seiten eine Wendung zu geben. Er beginnt eine Detektivgeschichte. Ungeachtet der exorbitanten Fähigkeiten der beiden Detektive »Ramow & Ramow« wird das als Mischung aus Klamotte à la Marx-Brothers und Familienverschwörung inszeniert: Willem will das Schicksal seines ums Leben gekommenen Vaters herausfinden, nach dem es Anzeichen für eine Vertuschung der wahren Todesursache gibt (eine unendlich bemüht daherkommende Stasi-Geschichte beginnt ihren Lauf zu nehmen). Es dauert nun dreihundert Seiten bis dieser Fall einigermaßen sicher aufgeklärt ist. Unterbrochen wird dies von diversen, eher nichtigen Firmenereignissen, dem Tod von Mutter und Stiefvater und endlosen Restaurantbesuchen und Firmengeplauder zwischen Willem, Barbara und der fast zur Familien gehörenden Inéz. Und auf den letzten einhundert Seiten wird dann noch einmal ganz groß am Plot geschraubt: Willem und die Detektive befinden sich plötzlich auf einer Zeitreise in eine Parallelwelt.
Das ist dann recht nett erzählt. Und wer solche Steigerungen in Grenzbereiche der Naturwissenschaften wie beispielsweise Quantenteleportation mag und magisch-mythische Wirkungen des Georgischen Schädels nachvollziehen kann, ist hier vielleicht ganz gut aufgehoben. Aber es wirkt doch alles reichlich überorchestriert und den Figuren (insbesondere Willem) aufgepfropft und an falsche Vorbilder (Umberto Eco) orientiert. Vielleicht hätte man aus dem Roman mehrere, voneinander unabhängige Erzählungen machen können. Dann wäre unter Umständen auch ein bisschen mehr an der Sprache gearbeitet worden (was insbesondere für das letzte Kapitel gilt) und so manches Füllsel wäre dem Leser erspart geblieben. Aber so torkelt der Autor holperig durch die verschiedenen Genres, Entwicklungs- und Familienroman zuerst, dann Detektivgroteske durchsetzt mit zeithistorischen Einsprengseln und schließlich dystopisch-phantastischer Wissenschafts- und Zukunftsroman. Und er verheddert sich.
Das vielversprechende erste Drittel zeigt, dass Ralph Dohrmann ein großes Talent ist. Ich warte also auf seinen Erzählungsband. Von der Wurt, Bremen, der Nordsee, vom »Ochsenkrug« im Marschenland. Oder etwas Ähnliches. Er kann das.
Vielleicht bin ich etwas voreilig, ich habe jetzt über 600 Seiten hinter mir und bin begeistert!
Ja, das war ich auch. Bitte berichten Sie mir, wenn Sie das Buch ganz gelesen haben. Würde mich interessieren.