In seinen bisher erschienenen drei Frank-Bascombe-Romanen »Sportreporter« (1986/dt. 1989), »Unabhängigkeitstag« (1995) und »Die Lage des Landes« (2006/2007) erzählte Richard Ford nicht nur die persönlichen Ereignisse seiner (fiktiven) Hauptfigur, die in drei Jahrzehnten in einem fast typische amerikanisch anmutenden Pragmatismus so unterschiedliche Berufe wie Schriftsteller, Sportreporter und schließlich Immobilienmakler ausübte, sondern vermittelte immer auch ein entsprechendes zeithistorisches Bild des politischen und sozialen Zustandes der USA. Frank Bascombe musste persönliche Schicksalsschläge überwinden (sein Sohn starb als 10jähriger an dem Reye-Syndrom, was seine Ehe nicht überstand und die Scheidung zur Folge hatte) und dann schien er es November 2000, mit Mitte 50, als »Die Lage des Landes« spielt, endlich »geschafft« zu haben. In den Clinton-Jahren gelang es ihm durch Cleverness, Hartnäckigkeit und Glück in die obere Mittelschicht aufzurücken. Er war neu verheiratet, das Verhältnis zu seinen Kindern normalisierte sich, die Geschäfte liefen hervorragend. Aber dann kam der Prostata-Krebs. Unerwartet auch, als wie aus dem Nichts der ehemalige Liebhaber seiner neuen Frau auftauchte. Und als wäre dies noch nicht genug, wurde er auch noch in eine Schiesserei verwickelt. Der Roman spielt im Interregnum des Jahres 2000 – es war immer noch nicht klar, ob nun Al Gore oder George W. Bush der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika würde. Intuitiv spürt Frank, dass die Zeichen auf Veränderung standen. Vielleicht platzt bald die Immobilienblase. Wie geht es mit ihm gesundheitlich weiter? »Die Lage des Landes« war ein grosses, episches Werk voller Melancholie, aber auch Sinn für die Schönheit des Lebens, einer gehörigen Portion derbem, aber doch gutmütigem Witz und einer filigranen wie lehrreichen Verschmelzung von Familien- und Zeitgeschichte, wie es selten zu lesen ist.
Als der Roman herauskam, wusste der Leser ja bereits im Gegensatz zum Protagonisten so einiges mehr. Er wusste, dass George W. Bush der neue Präsident sein würde (also noch mehr Veränderung als ein Wechsel von Clinton auf Gore gewesen wäre), er wusste vom 11. September 2001 und den Kriegen in Afghanistan und dem Irak. Wer amerikanische Medien las, wusste, dass die Immobilienpreise inzwischen im Keller waren; die große Krise kam etwas später. Die Frage, die sich dem Leser damals stellte: Wie wird es mit Frank Bascombe weitergehen? Dass er von seiner Schusswunde genesen würde, bekam man noch mit. Aber dann?
»Ich bin wieder da.«
Jetzt, nach neun (bzw. 12) Jahren geht es weiter. Im Gegensatz zu den bisherigen Bascombe-Büchern ist »Frank« kein Roman. Stattdessen reiht Ford vier prinzipiell eigenständige Erzählungen aneinander, die alle im Jahr 2012 spielen (auch wenn es eine kleine Ungenauigkeit gibt: einmal ist von Obamas großer Rede über Abraham Lincoln die Rede – die fand aber 2013 statt). Die erste Geschichte beginnt zwei Wochen vor Weihnachten, die letzte endet am Weihnachtstag. Frank ist 68 Jahre alt und hat sich zur Ruhe gesetzt. Er ist vom Prostatakrebs geheilt und lebt jetzt mit seiner Frau Sally in Haddam. 2004 hat er sein Haus an der Küste verkauft und seinen Maklerberuf aufgegeben. Sally ist ehrenamtlich für Hilfsorganisationen tätig; sie ist fast nie zu Hause. Frank schreibt nebenbei Artikel für »Salut!«, einem Magazin, dass heimkehrenden Soldaten Hilfestellung bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft geben soll und liest für Blinde aus Romanen im örtlichen Radiosender vor. Und er beschäftigt sich damit, eine Art Liste von Wörtern zu erstellen, die nicht mehr gebraucht werden (sollten).
Der Titel der ersten Erzählung lautet in der Übersetzung von Frank Heibert »Ich bin da«, was kurz an den Anfang von Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« erinnert, als Willy Loman mit »Alles in Ordnung. Ich bin wieder da« sein Ankommen zu Hause avisiert. Im Original kommt einem dieser Gedanke nicht sofort (»It’s all right. I came back« bei Miller und »I’m Here« bei Ford). Zu Beginn wird der ehemalige Makler von Arnie Urquhart, dem Käufer von Franks ehemaligem Strandhauses in Sea-Clift, aus seinem beschaulichen Dasein herausgeholt. Nach dem Hurrikan Sally Ende Oktober 2012 ist das Haus nur noch eine Ruine. Der Wiederaufbau würde viel Geld kosten. Arnie hat ein Kaufangebot erhalten und wünscht Franks Urteil, ob er es annehmen soll, obwohl es ihm zu niedrig erscheint. Die eigentliche Causa wird jedoch nur am Rande gestreift. Ford erzählt ausgiebig wie Frank das Grundstück anfährt, die Trümmer besichtigt, wie der Cop, der das alles bewacht und dem er selber einmal ein Haus verkauft hat, in seiner Uniform aussieht (ein »Michelin-Mann der Nothelfer«), wie man wunderbar aneinander vorbeiredet und sich Arnie, der Edelfischverkäufer, in seinem Mafioso-Mantel gebärdet und schließlich doch noch eine ungelenke Umarmung versucht, die eine Freundschaft zeigen soll, die niemals existierte.
Todeskandidaten
In der zweiten Erzählung »Könnte alles Schlimmer sein« erhält Frank wenige Tage später Besuch von der ihm bis dahin vollkommen unbekannten Charlotte Pines, einer Schwarzen, Ende 50, relativ wohlhabend gekleidet, die in seinem jetzigen Haus ihre Jugend verbracht hat und ein schreckliches Geheimnis erzählt. Auch hier gerät die eigentliche Story fast zur Nebensache, zu sehr ist Frank abgelenkt – von Parfüm und Kleidung der Frau bis zur Frage, was seine Nachbarn wohl denken, dass eine Schwarze so lange bei ihm im Haus ist. In »Das neue Normal« besucht Bascombe seine Ex-Frau Ann in einer Heimeinrichtung (natürlich wie inzwischen fast überall mit skurriler Security am Eingang). Ann ist an Parkinson erkrankt, nimmt es aber gefasst. Frank bringt ihr ein orthopädisches Kissen, was sie sich genauso gut auch online hätte kaufen können. Er bewundert die Obstgemälde an den Wände, die ihm wie weibliche Geschlechtsorgane erscheinen, beobachtet Anns mühsam unterdrückten Tremor, bekommt eine am Ende doch irgendwie nicht mehr so ganz wichtige Neuigkeit erzählt und philosophiert über Essentialismus und seinem »Elementar-ich«. Einmal, ganz kurz, spürt er »einen schwachen, üppigen Hauch unseres alten Lebens« (und man hätte gerne mehr davon gelesen), aber dann sagt Ann 33 Jahre nach ihrer Scheidung von Frank wie furchtbar ihre Ehe mit ihm gewesen war.
Am Weihnachtstag spielt die vierte Erzählung, »Die Tode anderer«. Frank besucht nach einigem Zögern seinen ehemaligen Kumpel Eddie, der mit Bauchspeicheldrüsenkebs und einer patenten Pflegerin in seinem Haus auf ihn und dann den Tod wartet. Eddie ist »der Pin-Up-Boy für den Tod auf zwei Beinen« (das optische und akustische Signum des nahenden Todes ist sein rasselnder Husten, dessen Nuancen wiederum Franks Aufmerksamkeit über Gebühr beansprucht) und es hat einen Grund, warum er Frank unbedingt vor seinem Tod noch einmal sehen wollte. Er macht ein Geständnis, dass eigentlich niemand mehr hören wollte und dann kommt die stärkste Szene im ganzen Buch als Frank grußlos den zynisch-sentimentalen Todkranken verlässt, draußen vor der Tür auf den Heizöllieferanten trifft, der gerade den Tank bei Eddie füllt, sich mit dem Fahrer, den er nur ganz flüchtig kennt, nett unterhält und sich damit der Tag (und das Buch?).
Ist es ungerecht dem Autor gegenüber, wenn man »Frank« nach der Lektüre einigermaßen enttäuscht zuklappt? Aus dem üppig-epischen Erzählen, dieser dem Leser beglückenden Mischung aus mildem Sarkasmus, boshaft-liebenswerter Nassforschheit und eben auch tiefsitzender Liebesbedürftigkeit des Helden, sind kleine, zuweilen leicht geschwätzige Miniaturen entstanden, die einem die Zeit vertreiben, aber eben mehr nicht. Manches vielversprechende Motiv (z. B. die Wörterliste) wird einfach fallengelassen. Interessant die Beschreibung der Kriegsheimkehrerzeitschrift »Salut!«, die suggeriert, dass die zurückkommenden GIs wie Aliens auf die amerikanische Gesellschaft wieder neu eingestellt werden müssen. Schade, dass man auf ein Wortspiel aus dem Original verzichtet hat. Dort heißt die Zeitschrift »We Salute You«, was zum einen als profaner Gruß interpretiert werden kann, zum anderen an eine AC/DC-LP erinnert, die wiederum den römischen Sträflingsspruch »morituri te salutant« persifliert.
Unwichtige Geständnisse
In Eddies Haus kommt Frank ein Gedanke, der an die Geschichte von Charlotte Pines anknüpfen könnte: »Nur die Häuser«, sagt der ehemalige Immobilienmakler, »sind Zeugen der Leben, die vorübergehend in ihnen stattfinden.« Vielleicht sollten sie erzählen statt ihre Bewohner? Die Häuser sind »mehr wert als ihre Hypotheken«. Aber auch dieses Bild erstirbt schnell, denn direkt danach wird von Frank der Wert von Eddies Haus taxiert.
Die vier Erzählungen zeigen Franks Rückzug ins Private. Er hat weniger Furcht davor, dass der nächste Präsident der USA aus der Tea-Party-Bewegung kommen könnte als vor einem Treppensturz. Sein Leben war weder ein amerikanischer Traum noch Alptraum. Desillusionierungen kann es nur geben, wo es vorher Illusionen gab. Am Ende gibt es ein paar Geständnisse, die aber längst unwichtig geworden sind (das berührt den Leser für kurze Zeit). Begegnungen enden (bis auf eine Ausnahme) in veritablen Missverständnissen. »Wie bei den meisten Gesprächen zwischen mündigen Erwachsenen ist nichts Entscheidendes ausgetauscht worden«, lautet denn einmal die Bilanz. Die zeitgeschichtlichen Dimensionen, die in den Romanen immer wieder wie beiläufig und doch sehr wirkungsvoll die Stimmungslage der Mittelschicht-Amerikaner aufzeigen lassen, werden in dieser Erzählform nur äußerst dezent eingebracht. Da ist der Alltagsrassismus nicht zuletzt auch in Bezug auf Obama (sogar derer, die ihn als das kleinere Übel gewählt hatten) und die merkwürdige Verehrung in Franks Nachbarschaft zu Mitt Romney. Man erhält einen Eindruck von der politischen Überkorrektheit in diesem Land, die einen ehemaligen Kinderschänder zwingt, jeden seiner neuen Nachbarn brieflich zu informieren und wenn nur einer mit dieser Nachbarschaft nicht einverstanden ist, muss er fortziehen. Einen umfassenderen Überblick über Lage des Landes bietet – allen Vorbehalten zum Trotz – George Packers Doku-Fiktion »Die Abwicklung«. Auch das darf kein unmittelbarer Vorwurf gegen den Erzählband sein.
Aber wenn nicht wenigstens einige Kabinettstückchen aufblitzen würden, würde man Bascombes detailverliebte Bewusstseinsströme in »Frank« womöglich irgendwo zwischen derb-satirischer Witzelprosa (»furzativ«) und binsenweisheitsähnlichen Ausrufen subsummieren müssen, deren Vorzug immerhin darin bestünde, sich hartnäckig dem »rassenneutralen Gequatsche« zu verweigern. Aber ist dafür eine Figur, die mal eben Geduld als »prälabsarisches Konzept in einer postlapsarischen Welt« ausmacht und über Essentialismus reden kann, nicht ein wenig zu schade?
Ich hab nur den Roman CANADA gelesen, und war nicht so begeistert. Da wird mir einfach zu viel Strecke gemacht. Das kommt vom Verleger. 100 Seiten waren da mindestens zu viel. Um Reich-Ranitzki zu imitieren: »Natürlich kann man sagen, das war doch in der Absicht des Autors. Er wollte, dass sie sich die Zeit nehmen und die Breite des Buches auch ein wenig mit jener Leere füllen, die doch existenziell ist... Aber ich das stimmt nicht! Ich habe mich gelangweilt.«
»Kanada« fand ich auch nicht so gut.
Haben Sie eine Vermutung, was Richard Ford in CANADA versucht hat, ohne dass es ihm gelungen wäre?! Ich habe den Eindruck, dass zwischen Berner und der Mutter im Wechselspiel der Figuren eine Art Tragik entfaltet werden sollte, nach dem Motto: die Hoffnungen (Berner) und die Realität danach (Mutter)...
Ich mag darüber nicht spekulieren. Ford wollte vielleicht die Zeit dehnen und dabei in einen lakonischen Shortstory-Stil à la Carver verfallen? Dann wiederum hatte ich das Gefühl, dass es ein bisschen existentialistisch daherkam. Die in den Bascombe-Romanen immer wieder aufkommenden Lebensweisheiten wirkten hier noch deplatzierter.