Der neue Erzählungsband von Richard Ford heißt im Original »Sorry For Your Trouble«, was man mit »Entschuldigung für Ihre Probleme« übersetzen könnte. Frank Heibert, der seit 2006 Richard Ford ins Deutsche übersetzt, und dem der Autor am Ende dieses Bandes explizit für seine »scharfsinnigen« Textvorschläge dankt (ob dazu auch die Übertragung von »piano students« als »Klavierschüler und ‑schülerinnen« zählt, weiß man nicht), wählte hingegen »Irische Passagiere« als Titel für die insgesamt neun Erzählungen.
Tatsächlich spielt das Irische in nahezu allen Erzählungen eine Rolle. Zwei Mal wird Irland sogar zum Schauplatz. Irgendwann sucht man regelrecht dieses Motiv wie ein Gewürz, das nicht immer dominiert, aber (fast) immer bemerkbar ist. So lernt man einiges, bekommt »irische Zwillinge« erklärt (Geschwister, die auf den Tag neun Monate auseinander liegen) und ein bisschen was zur angeblichen irischen Physiognomie (»leicht unvollständiges Kinn«, »plumpe Hände«, »seelenunruhiges…Starren«). Da gibt es irische Emigranten, die wieder zurückfahren, weil sie nicht klarkommen. Oder ein Ehepartner irischer Abstammung, der nach der Scheidung von New York nach Dunquin gezogen ist und dort in einer »schweren Wollstrickjacke« Architekturprojekte entwirft. Anderswo ein irischstämmiger Zahnarzt mit einem Faible für europäische Literatur. Und eine Frau aus einem kleinen Kaff in Nordirland, die in Dublin ein paar Mal im Jahr eine Affäre kultiviert und für die die Stadt die große Welt ist.
Schauplätze sind neben europäischen Städten wie Dublin und Paris (aus einer amerikanischen Bar, bei Resultaten zur Präsidentschaftswahl 1992) natürlich New York, vor allem diesmal New Orleans und bisweilen die amerikanische Provinz (Maine!), die zu Refugien vom Alltag werden (seltener zu Bedrohungen).
Die Protagonisten sind überwiegend aus der weißen Mittel- bis Oberschicht, meist im besten Alter: Anwälte oder Immobilienmakler, einmal ein Millionär, der ein Vermögen damit gemacht hat, früh Grundstücke zu kaufen, die später von Ölförderfirmen benötigt und gekauft wurden. Manchmal wird erwähnt, dass sie die Demokraten wählen, aber es sind – wie erholsam! – keine Intellektuellen. Selbst die Bildhauerin Bobbi Kamper, genannt »Happy«, die eine Trauergesellschaft besucht, auf der der Tod ihres Mannes (einem Iren!) gefeiert wird, ist eher dem Gin als der Kunst zugeneigt. Entsprechend gerät die leicht ibsenhafte Feier.
»Am falschen Ort« handelt direkt von einer irischen Einwandererfamilie, die Ende der 1950er Jahre in einem Wohnheim untergekommen ist. Der Vater ist Taxifahrer. Wenn der Vater unpässlich ist (d. h. zuviel getrunken hat), übernimmt Niall, der Sohn, die Taxischichten. Erzählt wird dies aus der Perspektive eines 16jährigen, eher schüchternen Mitschülers. Niall besucht mit diesem Jungen eines Abends ein Autokino (genannt »Fummelhöhle«), gibt sich weltläufig, erfahren, will etwas zeigen. Es gibt eine Komödie mit Bob Hope und Anita Eckberg. Niall, im klassischen Argyl-Pullover, ist aufgekratzt, trinkt und amüsiert sich über den Film. Schließlich drückt er dem Jungen einen Kuss auf den Mund. In wenigen Strichen erfährt der Leser darauf von Nialls weiterem Leben: Er verlässt das Elternhaus geht zur Armee, scheitert dort und fährt schließlich wieder zurück nach Irland.
In »Überfahrt« beobachtet ein Amerikaner drei ältere Damen auf einem Schiff. Man ist kurz davor, in Dublin einzulaufen. Die Frauen sind in Feierlaune, der Erzähler, ein Anwalt, schließt seine Scheidung ab. Das Leben des Mannes ist an einem Punkt angekommen, der eine neue Perspektive bringen wird.
So geht es auch dem Witwer Peter Boyce, der sich in »Der Lauf des Lebens«, der längsten Erzählung, zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau Mae für den Sommer ein Ferienhaus in dem Ort, in dem sie immer Urlaub gemacht hatten, mietet. Hier ist Mae, die an Krebs litt und sich dann umbrachte, das irische Element. Mit ihrem »Irisch-Sein« konnte sie jedoch nie etwas anfangen. In Rückblenden wird das Leben der beiden entwickelt, die Liebe Peters zu Mae, die schon als sie sich kannten schlauer war, »als er es je werden würde«. Schließlich die Krankheit, Maes Launen, das Hadern mit dem Leben, dem Gefühl »nicht gelebt zu haben«. Die einzige Tochter, Patty, eine Englischlehrerin, lebt weit entfernt. Sie ist, wie es lakonisch heißt, unglücklich. Ein Besuch bei ihrem Vater nach dem Tod der Mutter verläuft ins Sprachlose. Immerhin: »Er brauchte nie wieder mit ihr zu reden. Sie schafften einen Abschiedsgruß.«
Dieser Peter Boyce geht eines Tages entgegen seinen Gewohnheiten in eine Kneipe und nimmt eine chaotische, halb obdachlose junge Frau in sein Haus. Das Leben würde jetzt, so Boyce, ein »Katalog« werden: »Das und dann das und dann das und dann das – alles fügte sich irgendwie zu einem Sinn zusammen. Gespräche, Begegnungen, Menschen, Abreisen, Ankünfte. Die Dinge würden wie Gespenster vorüberziehen.« Aber, und das ist die Quintessenz: »Gar nicht schrecklich.« Am Ende schweigen beide nachts um drei Uhr am Strand und schauen in den Himmel.
In den Augen der 12jährigen Louise aus »Aufbruch nach Kenosha«, die sich von ihrer schwarzen Mitschülerin, die aus New Orleans wegzog, verabschiedet hatte, erkennt der Vater plötzlich die Ahnung des Kindes an eine »andere, furchteinflössende Zukunft«, während er selber manches Gute für sie in der Zukunft sieht. Vorausgegangen ist ein Gespräch mit dem Vater des Mädchen. Er, der weiße Anwalt und der schwarze Fahrer, beschäftigt bei UPS. Eine (ungeplante) Zusammenkunft, während die beiden Mädchen sich innig verabschieden. Small Talk, bei dem alles schiefgehen kann. Jede falsche Reaktion des Anwalts könnte als rassistische Beleidigung aufgefasst werden. Beide balancieren. Am Ende: »Es war gut gelaufen. Besser als erwartet.« Auf diesen wenigen Seiten lernt man mehr über das Zusammenleben zwischen Weißen und Schwarzen in Amerika als in ellenlangen Analysen. Die Hoffnung als Allegorie: In der Freundschaft der beiden Mädchen liegt die Zukunft.
Der Millionär Jonathan aus »Die zweite Sprache« entdeckt nach seiner zweiten Ehe (die erste Frau starb überraschend; er trauert auch in seiner neuen Ehe noch) die Wonnen der unverbindlichen Freundschaft zu seiner weiterhin begehrenswerten Ex-Frau Charlotte, einer erfolgreichen wie ehrgeizigen Immobilienmaklerin. Der Tod seiner ehemaligen Schwiegermutter, den er in einem Heim zusammen mit Charlotte erlebt, lässt ihn innehalten und gleichzeitig fast euphorisch in die Zukunft schauen. Plötzlich ist ein Einverständnis mit Charlotte, der zweiten Frau (der »zweiten Sprache« – daher der Titel der Erzählung) als ein Zusammenleben als wirkliche Freunde erzielt: »Das Leben würde weitergehen, bis das, was sie sich tatsächlich von ihm wünschten, klar und handhabbar wurde, so als hätten sie es immer so gewünscht.«
Diese letzte Erzählung im Band ist das Meisterstück. Mit subtiler, an Thomas Mann erinnernder Ironie (die nur durch den klamaukhaften Einschub bei der Schilderung der starrsinnigen Ex-Schwiegermutter im Heim unter- bzw. gebrochen wird), skizziert Ford mit großer Könnerschaft und pathosfreier Empathie auf gerade einmal 58 Seiten nicht nur zwei Lebensläufe, sondern entwickelt für die beiden Mittfünfziger je eine neue Lebensperspektive. Das einst als Oberfläche empfundene Leben bekommt plötzlich Tiefe, weil sich die Gestaltungsspielräume neu formiert haben.
Das ist das überwölbende Axiom dieser Erzählungen: Die Protagonisten verharren nicht in ihren Erinnerungen. Sie schwelgen oder Jammern nicht. Ausflüge in die Vergangenheit dienen weder der Verklärung des Gewesenen noch zur Aufdeckung von Lebenslügen. Zwar mag einiges, wie es einmal heißt, von »Erinnerungen überwuchert« sein. Aber in den besten Erzählungen entwickeln die Figuren eine aktive Zukunftserwartung; den Blick nach vorne. Das Weiterleben nach dem Tod eines Partners, nach einer Unwetterkatastrophe oder anderen einschneidenden Veränderungen des ehemalig Alltäglichen wird damit nicht zu einem dauerbegrübelten Überleben, sondern zurück- bzw. vorausgeführt auf »Neueinschätzung[en] des Lebens« (»Nichts zu verzollen«). Der Trost liegt nicht im Vergangenen, sondern in der Zukunft – als Zuversicht. (Freilich sind die Protagonisten dabei zumeist in sicheren ökonomischen Verhältnissen.)
Richard Fords Erzählband erzeugt in Zeiten sich potenzierender Krisen und Konflikte eine bisweilen beruhigende Aura des Optimismus. Die Könnerschaft des Autors verhindert ein Abdriften ins Seichte. Bleibt nur noch eine Frage: Was macht eigentlich dieser Frank Bascombe?
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