Ri­chard Ford: Ka­na­da

Richard Ford: Kanada

Ri­chard Ford: Ka­na­da


Dell Par­sons ist 1945 ge­bo­ren. Er er­zählt im Jahr 2011, als pen­sio­nier­ter Leh­rer, über die Zeit zwi­schen Au­gust und Ok­to­ber 1960. Ei­ne Zeit, die sein Le­ben ra­di­kal ver­än­dert und ge­prägt hat. Der durch­aus fu­ri­os da­herkommende An­fang lässt hof­fen: »Zu­erst will ich von dem Raub­überfall er­zäh­len, den mei­ne El­tern be­gan­gen ha­ben. Dann von den Mor­den, die sich spä­ter er­eigneten.« Fast la­ko­nisch wird er­gänzt: »Der Raub­überfall ist wich­ti­ger, denn er war ei­ne ent­scheidende Wei­chen­stel­lung in mei­nem Le­ben und in dem mei­ner Schwe­ster«.

Aber nun be­ginnt ein un­end­lich in die Län­ge ge­zo­ge­nes, zä­hes Re­ka­pi­tu­lie­ren über sich sel­ber, sei­ne Zwillings­schwester Ber­ner und ih­re El­tern, Va­ter Bev (geb. 1923), sei­ne Frau Nee­va (geb. 1926), über Gre­at Falls, Mon­ta­na (die Fa­mi­lie lebt seit ei­ni­gen Jah­ren dort) und die pre­kä­re fi­nan­zi­el­le Si­tua­ti­on. Der Va­ter, einst Flie­ger in der Ar­mee (er warf Bom­ben auf Ja­pan im Zwei­ten Welt­krieg), ver­lor sei­nen Cap­tain-Rang und wur­de ent­las­sen (al­ler­dings mit be­lo­bi­gen­der Ur­kun­de). Er schlägt sich als Au­to- und Ranch­ver­käu­fer mehr schlecht als recht durch. Die jü­di­sche Mut­ter ar­bei­tet als Leh­re­rin, schreibt in ih­rer Frei­zeit Ge­dich­te, ist Bev in­tel­lek­tu­ell über­le­gen und ent­deckt et­was zu spät, dass sie den fal­schen Mann ge­hei­ra­tet hat. Man er­fährt von den il­le­ga­len Fleisch­ge­schäf­ten, die Bev bei der Ar­mee ab­ge­wickelt hat­te und jetzt wie­der auf­nahm. Als die Lie­fe­ran­ten auf Be­zah­lung ih­rer Wa­re be­stehen, der Ab­neh­mer je­doch aus fa­den­schei­ni­gen Grün­den nicht zahlt, be­kommt er Pro­ble­me und an­ony­me An­ru­fe (je­der An­ruf wird pro­to­kol­liert und er­wähnt). Auf Sei­te 120 be­ge­hen die El­tern schließ­lich (end­lich!) den Bank­raub, auf des­sen schick­sal­haf­te Rol­le vor­her im­mer wie­der hin­ge­wie­sen wur­de. Es dau­ert nicht lan­ge und sie wer­den ver­haf­tet. Um die Kin­der küm­mert sich über­ra­schen­der­wei­se nie­mand. Sie be­su­chen ih­re El­tern am näch­sten Tag im Ge­fäng­nis. Es wird das letz­te Mal sein, dass sie sie se­hen.

Bis Mild­red Rem­lin­ger, ei­ne Freun­din der Mut­ter, Dell ei­ni­ge Ta­ge spä­ter ab­holt (Ber­ner war in der Nacht vor Mild­reds Be­such al­lei­ne auf­ge­bro­chen und ver­schwun­den) ver­ge­hen wei­te­re 110 Sei­ten. Dell kommt nach Sas­kat­che­wan, Ka­na­da, zu Mild­reds Bru­der Ar­thur, der in ei­nem gott­ver­las­se­nen Nest ein zwie­lich­ti­ges Ho­tel be­treibt. Zu­nächst küm­mert sich Char­ley Quar­ters um den Jun­gen. Char­ley ist Rem­lin­gers Fak­to­tum, ein stin­ken­der, häss­li­cher Mensch, der sich schminkt und Hit­ler ver­ehrt. Die vier Wo­chen, die auf rund 60 Sei­ten aus­ge­brei­tet wer­den, sind in vie­ler­lei Hin­sicht ein Alp­traum für den Jun­gen. Bis zum zwei­ten schick­sal­haf­ten Da­tum (dem 14. Ok­to­ber) sind es dann noch ein­mal rund 100 Sei­ten. In­zwi­schen hat­te Rem­lin­ger Dell ei­ne Kam­mer im Ho­tel zur Ver­fü­gung ge­stellt. Er muss­te Putz- und Lauf­dien­ste im Ho­tel ver­rich­ten. Rem­lin­ger, der wie Dell Ame­ri­ka­ner ist, wirkt in die­ser Wild­nis zwi­schen Ei­sen­bahn­ar­bei­tern und Gän­se­jä­gern ver­lo­ren und de­plat­ziert. Schließ­lich wird Dell von Char­ley ein­ge­weiht: zwei Män­ner sei­en un­ter­wegs, die Rem­lin­gers Be­tei­li­gung an ei­nem Bom­ben­an­schlag vor vie­len Jah­ren her­aus­be­kom­men ha­ben. Schließ­lich ge­sche­hen die bei­den Mor­de – be­gan­gen von Ar­thur Rem­lin­ger an den bei­den Be­su­chern. Dell wird Zeu­ge die­ses kalt­blü­tig ver­üb­ten Ver­bre­chens (das kras­se Ge­gen­teil des­sen, was die El­tern mit ih­rem stüm­per­haf­ten Bank­raub ver­an­stal­tet hat­ten) und ent­kommt schließ­lich mit Hil­fe von Rem­lin­gers Le­bens­ge­fähr­tin Flo­rence, ei­ner Ma­le­rin, die ihn zu ih­rem Sohn ins 800 km ent­fern­te Win­ni­peg schickt. Dort geht er dann of­fen­sicht­lich zur Schu­le und kommt in ge­ord­ne­te Ver­hält­nis­se. Knapp er­fährt man, dass er Leh­rer ge­wor­den ist, ge­hei­ra­tet hat (die Ehe blieb kin­der­los) und seit 35 Jah­ren ka­nadischer Staats­bür­ger ist (der Ant­ago­nis­mus Ka­na­da / USA wird im­mer wie­der am Ran­de an­ge­spro­chen).

Der Kern des Bu­ches sind die knapp drei Mo­na­te zwi­schen Au­gust und Mit­te Ok­to­ber 1960. Sie wer­den in ei­ner schier end­lo­sen Zeit­lu­pe ge­dehnt und ma­chen mehr als Drei­vier­tel des Bu­ches aus. Da­bei wird je­des Lä­cheln ent­schlüs­selt, je­der Blick in­ter­pre­tiert, je­des Schu­he­put­zen ge­schil­dert, je­de Stim­mungs­schwan­kung der El­tern nach­träg­lich ge­wich­tet. Im­mer wie­der wird er­wähnt, dass Dell da­mals 15 Jah­re alt war und wie groß die We­sens­un­ter­schei­de zu Ber­ner wa­ren (als ge­nü­ge es nicht, sie zu er­zäh­len). Spä­ter er­fah­ren wir auf fast je­der zehn­ten Sei­te, dass er Char­ley nicht mag und Ar­thur Rem­lin­ger schüt­te­res blon­des Haar hat. Es sind Red­un­dan­zen oh­ne li­te­ra­ri­sche Kraft; sie wir­ken pro­to­koll­haft an­ge­klebt, als wol­le Dell, der mit sei­nem gu­ten Ge­dächt­nis prahlt, mit die­sem Prä­zi­si­ons­fu­ror Em­pa­thie beim Le­ser er­zeu­gen. Aber all dies öff­net kei­nen dop­pel­ten Bo­den, zeigt kei­ne neue (Lese-)Perspektive und lässt mich kalt. Zeit­wei­lig denkt man, es ent­steht so et­was wie ein Bil­dungs- oder Ent­wick­lungs­ro­man, da Dell im­mer wie­der sei­nen Wis­sens­drang in ei­ner Schu­le stil­len möch­te, ge­ra­de­zu ei­ne Sehn­sucht da­nach ent­wickelt. Aber auch die­se Spur ver­ödet ir­gend­wann in der ka­na­di­schen Wild­nis.

Schließ­lich würzt Dell sei­ne Äu­ße­run­gen noch mit Le­bens­weis­hei­ten, die mal ins my­sti­sche (»Wir sind al­le ein My­ste­ri­um«) mal ins ne­bu­lös-un­ge­fäh­re ab­drif­ten (»Über die Jah­re ha­be ich mir an­ge­wöhnt an­zu­er­ken­nen, dass je­de Si­tua­ti­on, die mit Men­schen zu tun hat, auf den Kopf ge­stellt wer­den kann«) und da­mit zu oft die Qua­li­tät von chi­ne­si­schen Glücks­kek­sen be­kom­men. Fast im­ma­nent für die­se Hal­tung ist ein fa­ta­ler Schicksals­glaube, den Dell dem Le­ser im­mer wie­der auf­zwingt, et­wa wenn er die Fa­mi­lie »im Rück­blick als dem Un­ter­gang ge­weiht« be­trach­tet oder von den »hand­fe­sten Er­eig­nis­sen« phi­lo­so­phiert, die »den Ver­lauf ei­nes Le­bens«, des »Schick­sals«, be­stim­men. Der Kom­men­tar zum Ver­schar­ren der er­mor­de­ten Ame­ri­ka­ner, an de­nen Dell mit­hel­fen muss­te, klingt da ex­em­pla­risch für den gan­zen Ro­man: »All das zu­sam­men­ge­nom­men er­gibt schon das Ma­xi­mum an Sinn in die­ser Ge­schich­te, mehr ist nicht drin.«

Sprach­lich ist der Ro­man ei­ne gro­ße Ent­täu­schung. Ein un­ge­len­ker Ver­kün­di­gungs­ton do­mi­niert das Buch. Fords Er­zäh­ler lie­fert im­mer noch die In­ter­pre­ta­ti­on da­zu. Die su­chen­de Be­we­gung wird nur imi­tiert; statt­des­sen wird im­mer nur ge­wusst. Das ist nicht nur mit der Über­set­zung er­klär­lich. Aber ob­wohl Frank Hei­bert ein Kön­ner sei­nes Fachs ist, gibt es ei­ni­ge Sät­ze, die merk­wür­dig da­her­kom­men (oder wer ver­steht das: »Ich steck­te die Hän­de in den Ta­schen, um nicht stän­dig die Au­gen vor dem Licht zu schüt­zen, die mir schon weh­ta­ten«). Viel­leicht hat es mit dem Be­trieb zu tun und man soll­te Ste­fan Zwei­fels Ap­pell an Ver­la­ge und Über­set­zer ein­fach Ernst neh­men.

Merk­wür­dig bei all die­ser De­tail­ver­ses­sen­heit sind ei­ni­ge Un­ge­reimt­hei­ten (die ei­nem eben des­we­gen be­son­ders auf­fal­len). Mal ist En­de Au­gust der Herbst ein­ge­kehrt und es wird kühl, am näch­sten Tag ist von ei­ner lau­en Som­mer­nacht die Re­de. Zwar liest man vom Frei­tod von Dells Mut­ter, aber der Ur­teils­spruch über den Va­ter wird nie­mals er­wähnt. Und ziem­lich un­glaub­haft ist es, wie Char­ley in die­ser welt­ab­ge­schnit­te­nen Ein­öde von der ge­plan­ten An­kunft der bei­den Ame­ri­ka­ner in­klu­si­ve de­ren Na­men und Hin­ter­grün­de er­fah­ren ha­ben will.

Der Ge­gen­satz zum de­kla­ma­to­ri­schen Dell ist Ber­ner, die bur­schi­ko­se Schwe­ster, die am Le­ben land­läu­fig be­trach­tet Ge­schei­ter­te, ehe­ma­li­ge Trin­ke­rin, mehr­mals Ver­hei­ra­te und töd­lich an Krebs Er­krank­te (sie stirbt 2010 und hat­te ei­ne Wo­che vor­her ih­ren Lebens­menschen noch ge­hei­ra­tet). Die letz­te Be­geg­nung mit ihr, die sich über­ra­schend nach ih­rem Va­ter »Bev« nennt, ist der Hö­he­punkt die­ses Bu­ches. Hier wird end­lich episch er­zählt, die Dia­lo­ge sind me­lan­cho­lisch oh­ne Sen­ti­men­ta­li­tät und das schick­sals­schwan­ge­re Ge­re­de un­ter­bleibt. Und end­lich sind die ge­gen­sei­ti­gen Lie­bes­be­kennt­nis­se in die­sem Buch echt. Aber die­se letz­ten drei­ßig Sei­ten ret­ten »Ka­na­da« nicht mehr. Ford bleibt na­he­zu al­les schul­dig, was sei­ne Bü­cher sonst aus­zeich­nen.

Ich klapp­te das Buch zu und dach­te, was das wohl für ei­ne ful­mi­nan­te Kurz­ge­schich­te hät­te wer­den kön­nen. Und man denkt so­fort an ei­nen Satz des gro­ßen Chri­stoph Rans­mayr: »Ge­schich­ten er­eig­nen sich nicht, Ge­schich­ten wer­den er­zählt.« Ich bin si­cher, Ri­chard Ford weiß das auch.

5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Es ist mög­lich, wie Sie schon sel­ber zu­ge­ben, daß die deut­sche Über­set­zung sprach­lich nicht auf der Ni­veau der Ame­ri­ka­ni­schen Ori­gi­nal ist.

    Ford ist ein Mei­ster der Spra­che, und sei­ne Er­zäh­ler, un­ter an­de­ren auch der Er­zäh­ler von Ka­na­da, sind fast le­ben­di­ge Men­schen de­ren Sät­ze klin­gen wie Still­le­ben klin­gen wür­den wenn sie sin­gen könn­ten.

    Ei­ni­ge mei­ner Ge­dan­ken zum Ro­man hier –

    http://goaliesanxiety.blogspot.com/2012/05/canadas-narrator.html

    Wuss­ten Sie, daß Ford eins Pe­ter Hand­kes Lieb­lings­au­toren ist?

    Und letzt­end­lich, hier, in »Ka­na­da«, ha­ben wir wie­der die Stadt Gre­at Falls, wie auch, an­geb­lich, am En­de von »Der Gro­ße Fall«.

    . . . ha­be auch Ihr Hand­ke Buch jetzt und schrei­be bald et­was dar­über.

  2. Vie­len Dank für Ih­ren Kom­men­tar. Ste­fan Zwei­fel geht in der »Literaturclub«-Sendung ja et­was ge­nau­er auf das Ver­fah­ren ein: Zu­nächst wer­den die Rech­te an dem Buch un­ter den Ver­la­gen so­zu­sa­gen ver­stei­gert (was da­zu führt, dass Fords Werk in vier oder noch mehr Ver­la­gen er­schie­nen ist). Dann wer­den die Über­set­zun­gen »aus­ge­schrie­ben«. Da­bei ist die Zeit wohl li­mi­tiert, denn der Ver­lag will das Buch na­tür­lich so schnell wie mög­lich pu­bli­zie­ren. Wo­mög­lich ist Hei­bert, der ja sehr gut und stim­mig »Die La­ge des Lan­des« über­setzt hat, in die­se Rä­der ge­kom­men.

    Ihr Link, der sich ja mit ei­ner Kri­tik zu die­sem Buch be­schäf­tigt, ist sehr in­ter­es­sant. Die Re­zen­sen­tin kommt an­schei­nend mit der Art des red­un­dan­ten Er­zäh­lens von Dell Par­sons nicht zu­recht. Und das ist auch das, was mich so ge­stört hat. Da­bei ist das Zwil­lings­bei­spiel noch se­kun­där für mich. Auch bin ich nicht ge­gen sich wie­der­ho­len­de Er­zäh­ler. Es kommt im­mer dar­auf an, wor­in der poe­ti­sche Nut­zen ei­nes sol­chen Ver­fah­rens liegt. Dell ist ein sehr um­ständ­li­cher Er­zäh­ler. Die­ses Klin­gen der Spra­che der Men­schen ha­be ich nicht ge­hört. Ich hat­te stel­len­wei­se den Ein­druck, da sei ei­ne münd­li­che Er­zäh­lung tran­skri­biert wor­den, und dies eben nicht »ge­glät­tet«, son­dern oh­ne Ver­än­de­rung. Da­bei be­rich­tet Dell sehr lang­at­mig und will da­bei Em­pa­thie er­zeu­gen, was ihm je­doch nicht ge­lingt (oder, um prä­zi­se zu sein: bei mir nicht ge­lingt, aber viel­leicht liegt ja der Feh­ler bei mir).

    Dass Ri­chard Ford ein sehr gu­ter Er­zäh­ler ist, zweif­le ich nicht an (dass er ei­ner der Lieb­lings­au­toren von Hand­ke ist, war mir al­ler­dings neu). Viel­leicht liegt es wirk­lich an der Über­set­zung.

    (Bin sehr ge­spannt, was Sie zu mei­nem Buch schrei­ben wer­den.)

  3. Im Ra­dio (Kul­tur-Ra­dio des rbb) wird das Buch seit heu­te vor­ge­le­sen, je­den Tag ei­ne hal­be Stun­de (& das wird dann nachts noch­mal wie­der­holt). Vor­le­ser ist der »üb­li­che«, al­so der all­seits ver­wend­ba­re Chri­sti­an Brück­ner.