Da ist er also wieder: Frank Bascombe. Inzwischen 74 Jahre, sechs Jahre älter als bei den Erzählungen von Frank, die allerdings 2012 spielten, während der Hauptteil des neuen Romans Valentinstag 2019/2020 spielt. So ganz stimmt da was nicht (oder ich habe falsch gerechnet).
Seine erste Frau Ann, Mutter seiner Kinder Paul (47) und Clarissa (45), ist verstorben (sie litt an Parkinson). Frank selber ereilte in der Zwischenzeit ein »Mini-Schlaganfall« sowie »eine Episode globaler Amnesie und ein kleines, frisch entdecktes Loch« im Herz. Zuweilen tritt noch der (bekannte) Schwindel auf, aber ansonsten geht es ihm gut. Er hat in Haddam einen Teilzeitjob als »Hausflüsterer« bei seinem früheren Angestellten Mike Mahoney angenommen. Frank sitzt alleine in einem Büro, bewundert, was aus Mike, dem Tibeter, geworden ist und kümmert sich um Immobilienbeschaffung für Leute, die nicht in Erscheinung treten wollen. Potentielle Kunden leitet er dann an seinen Boss weiter, der sie wiederum in seinem kleinen Firmenimperium weiterbearbeitet.
Die Tage sind lang und so kommt Frank ans Räsonieren und Bilanzieren über Vietnam, seine Mutter, seine zweite Frau Sally, die als weltweite Trauerbegleiterin derzeit in Tschetschenien weilen soll oder einen gewissen Pug Minokur, der sich irgendwann einmal während seines kurzen Aufenthalts auf der Militärakademie für ihn beim Basketballtrainer eingesetzt hatte. Als sei es eine Verpflichtung, erzählt er ihm Jahrzehnte später auf einem Veteranentreffen davon. »Ich dankte ihm – für lebenslange Erinnerungen. Ich ergriff seine erstaunlich weiche, erstaunlich kleine und einst geschickte Hand – seine Werferhand – und schüttelte sie behutsam, um der guten alten Zeiten willen.« Teil eines Programms, »bevor der graue Vorgang fällt«. Ob Pug sich daran erinnert – egal.
Schließlich nimmt er sich frei, um den letzten Wunsch von Ann zu erfüllen, dass »die Hälfte ihrer kremierten Überreste auf dem Friedhof von Haddam neben unserem Sohn Ralph Bascombe begraben werden sollte, der jetzt einundfünfzig wäre und ein berühmter Physiker an der Cal Tech oder ein Lyriker oder ein viel bewunderter Solo-Oboist.« Und so reist er mit einem Zipper-Beutel im Flugzeug zu einem einstigen Familienidyllenort mit »Urkiefern und ‑tannen«, »drehte den Beutel um und ließ den körnigen Inhalt hinausrieseln.«
Die auf ihn »hernieder« sinkende Frage »Was jetzt?« beantwortet sich noch auf dem Weg zum geplanten Rückflug. Seine Tochter Clarissa meldet sich aus Arizona und erklärt, dass Paul an ALS erkrankt sei, und zwar an einer seltenen, gefährlicheren Variante, die schnell das Gehirn angreift. Frank gelingt es durch Vermittlung einer ihm bekannten Ärztin (die er stillschweigend immer noch verehrt), dass Paul in der Mayo-Klink in Rochester an einer Art Testbehandlung, begrenzt auf ein paar Monate, teilnehmen kann. Es ist jene Klinik, bei der Frank einst seine erfolgreiche Prostatakrebs-Behandlung erhielt.
Die Klinik mit weltweiter Reputation dominiert das Stadtbild als »ein glitzernder, vielhäusiger, vielstufiger, viellappiger summender Koloss, den an jedem beliebigen Tag Tausende betreten und wieder verlassen, zweihundert Prozent sicher, dass, falls es Heilung für sie gibt, sie hier drin zu finden ist.« Frank ist begeistert: »Krankenhäuser verbreiten vor allem Angst. Hier aber geht niemand unzufrieden weg, nicht mal in einer Kiste.« Aber er fürchtet auch, dass das experimentelle Programm, an dem sein Sohn teilnimmt, falsche Hoffnungen schüren könnte. Denn eines steht fest: Paul ist dem Tod geweiht.
Die beiden treffen im Dezember im eiskalten Minnesota ein (das Apartment hatte Mike besorgt) und es beginnt ein trotzig-spöttisches, ernst-albernes Kammerspiel zwischen dem körperlich stetig verfallenden Sohn (er ist immer häufiger auf einen Rollstuhl angewiesen) und dem im schlechten Gewissen eingelegten Vater. Aber Paul lässt niemanden auch nur in die Nähe falschen Mitleids kommen, verballhornt seine Krankheit als »Al’s«, beschimpft seinen Vater, den er abwechselnd »Lawrence« (»kurz für Lawrence Nightingale«), sein Lieblings-Arschloch oder »Kackeimer« nennt, um ihn danach mit bohrenden Fragen zu konfrontieren. Etwa, warum er damals nicht nach Vietnam gegangen sei, ob er seine Mutter geliebt habe oder er erkundigt sich nach seiner Attraktivität als bei Frauen. In einem »Webinar« für ALS-Kranke wird er kurzzeitig ausgeschlossen, weil er von der Krankheit erzählt, »als säße man in einem Flugzeug, plötzlich seien die Motoren verstummt und man sei da oben nur noch am Abwarten, wann die Schwerkraft übernimmt und der freie Fall beginnt. ‘Das war gar nicht so schlimm’, sagte er ihnen« – die mit derartigem Sarkasmus nicht gut zurechtkommen.
Frank stellt fest, dass er von seinem Sohn verblüffend wenig weiß. So rätselt er, warum er seine Wachtmann-Stelle so gut fand (und kommt zu keinem Ergebnis; wie fast immer). Dass Paul inzwischen Ähnlichkeiten mit dem Porno-Produzenten Larry Flint und dicke, warzige Finger hat, sagt er ihm nicht. Frank begegnet den Invektiven Pauls mit Gleichmut und Verständnis. Selten erfolgt ein Gegenschlag: »Nenn mich nicht Lawrence, Arschloch. Ich bin dein Vater, nicht dein Krankenpfleger. Ob’s dir gefällt oder nicht.« Gerade diese rustikalen Wortgefechte genießt Paul dann noch mehr. Sie verhindern allzu große schwermütige Vorab-Trauerstimmung. Authentizität sei der »Goldstandard«, so interpretiert Frank Pauls Anspruch an ein Zusammenleben. Fast erscheint es als ein Spiel, aber es ist beiden bewusst, dass es kein Entkommen gibt. Immer wieder meldet sich die Schwester, will den Bruder bei sich versorgen (er gehe eher nach Libyen, sagt Paul). Ein wenig Trost sucht Frank ausgerechnet beim »ranzigen alten Heidegger«. Skurriler geht es kaum.
Auf der Suche nach Entspannung während Paul in der Klinik seine Behandlungsstunden absolviert, entdeckt er einen vietnamesischen Massagesalon. Er freundet sich mit der Familie an, die auch noch andere Geschäfte in der Umgebung betreut, lobt deren Tüchtigkeit und ist ziemlich hingerissen von Betty Tran, bei der er nun regelmäßig Sitzungen (jeweils für 200 Dollar!) bucht. Es wird viel geredet und noch mehr massiert, aber mehr als ein paar Knutscher im Auto (ab und zu ein Dinner) gibt es nicht. Frank glaubt, dass er für Betty etwas Besonderes ist, bis zu dem Moment als er ein bisschen zu früh kommt und sieht, wie sie einen Marine-Soldaten verabschiedet.
Es ist mittlerweile Februar (2020) und bald endet die Behandlungszeit. Was tun? Frank erinnert sich an einen Wunsch von Paul, mit ihm in einem Wohnmobil »in alle Städte Amerikas fahren, deren Namen er brüllkomisch findet und die deshalb einen Besuch verdienen.« Wie zum Beispiel Whynot oder Stinking Springs. Den immer weiter verfallenden Zustand Pauls einkalkulierend, variiert er die Unternehmung. Es soll ein Ausflug zum Mount Rushmore werden, ein Plan, der »mit den Verkaufsargumenten Einfachheit, Kürze und Vernunft« glänzt. Von allen Wohnmobilen, die es bei Pete und Krista (beide Irak-Veteranen und »das Beste, was Amerika zu bieten hat«) gibt, sucht Paul mit »Warmer Wind« das älteste und für ihre Zwecke unbrauchbarste aus. Übernachtungen sind dort unmöglich und müssen nicht zuletzt aufgrund der Eiseskälte in Hotels stattfinden.
Als die Abschiedsfeier für Paul in der Klinik droht eine Zirkusveranstaltung zu werden, brechen die beiden schon vorher auf. Aus dem Kammerspiel wird ein Road Movie, bisweilen urkomisch und mit Bascomb’scher Detailfülle und ganz viel Abschweifungen erzählt. Es ist immer noch bitterkalt und die Reise mit dem Busmonstrum ist nicht immer einfach, aber die beiden kommen sich trotz der immer wieder aufbrechenden Konflikte näher, so nah, wie sie vielleicht nie miteinander waren.
Nach zweieinhalb Tagen Reisezeit kommen sie am Valentinstag an (wie fast immer spielen Fords Bascombe-Geschichten um ein Datum herum). Franks Valentinskarte, die für Betty gedacht war, bekommt Paul. Und Paul hat auch eine. Sie bleiben zwanzig Minuten (»nur zu schauen hat seine emotionalen Grenzen«) bei den vier Präsidenten, deren Gesichter irgendwie kleiner wirken als auf den monumentalen Fotos aus Büchern. Keiner von denen, da ist Frank sicher, würde heute zugelassen, geschweige denn gewählt. Paul »lächelt glückselig, als hätte er gerade etwas außerordentlich Überraschendes entdeckt. Eine Bestätigung. Ich bin schlicht glücklich, weil ich annehmen kann, wir sehen ein einziges Mal etwas gleich – mehr oder weniger. Es ist sinnlos, und es ist stupide. Es mag ihn nicht heilen, das zu sehen, aber ein bisschen vielleicht doch«. Frank ist eben doch ein Melancholiker. Wenigstens manchmal.
Paul Bascombe stirbt im September, in Scotsdale, dem Wohnort von Clarissa und ihrer Lebenspartnerin, »an einer völlig neuen Krankheit, von der wir nur flüchtig gehört hatten«. Der Epilog trägt wie der Prolog die Überschrift »Glück«. Und plötzlich merkt man, dass dieses Buch nur durch den 47jährigen Paul Bascombe interessant war. Man vermisst schon nach wenigen Seiten, denn Franks Nachrichten aus seinem weiteren Leben sind uninteressant und der Ton geht einem auf die Nerven.
»Es ist eine meiner Schwächen, dass ich am liebsten jede Unterhaltung mit einem Bonmot beenden würde. Einer Grußformel.« Eine freundliche Umschreibung für den scheinbar nie endenden Pointenzwang Franks, der nur im Widerpart mit dem todgeweihten Sohn und dessen Überlebenszynismus erträglich ist. Aber Paul braucht auch Frank als Sparringspartner und Ford inszeniert in den Dialogen der beiden mitunter eine veritable Screwball-Komödie und man ahnt schon, dass in vielleicht zehn Jahren der Roman mit einer Trigger-Warnung beginnen wird. »Sterben ist die letzte große Eskapade seines Lebens, und die will er auf keinen Fall in der falschen Geistesverfassung unternehmen«, so der Vater zu Beginn das Verhalten seines Sohnes. Aber dann stellt sich heraus, dass die Sterbebegleitung vielleicht auch die letzte große Eskapade in Franks Leben war und jetzt der Fokus auf das eigene Ende näher rückt.
Im kurzen Nachwort vergleicht der Übersetzer Frank Heibert die Bascombe-Romane von Richard Ford mit Balzacs »menschlicher Komödie«. Auch wenn dies übertrieben scheint, so blitzt doch immer wieder auch die »Lage des Landes« (ein Titel eines Bascombe-Romans) hervor. Der Besuch zu den vier ehemaligen Präsidenten spricht Bände. Wer Sottisen gegen Trump erwartet, wird enttäuscht; nur einmal wird er kurz beschrieben. Alle Menschen, denen Frank begegnet, werden sowohl geographisch wie auch politisch verortet: Südstaatler? Republikaner? Wenn ja, welcher Flügel? Warum hat jemand sowohl Trump- wie auch Biden-Sticker auf dem Auto? Ist derjenige, mit dem er gerade spricht, vielleicht ein Rassist?
Wer einen Blick ins Original wirft, weiß die Übersetzungsarbeit zu schätzen. Personen und besondere Idiome, auf die Frank sich bezieht, und die in Deutschland unbekannt sind, werden in einem Glossar kurz vorgestellt. Manche »Pointe« zündet trotz Erklärung nicht, was an den rhetorischen Pirouetten der Hauptfigur liegt.
Nur eine Frage bleibt: Warum wurde der schöne, doppeldeutige amerikanische Titel Be Mine aufgegeben?