Hephaistos, Schmied und griechischer Gott des Feuers, war nicht nur der Erfinder des Streitwagens, sondern auch Erbauer sämtlicher Häuser auf dem Olymp. Er war der einzige Handwerker unter den griechischen Göttern. Aber Hephaistos ist gezeichnet: Er hat einen Klumpfuss. Und in der antiken griechischen Kultur galten körperliche Missbildungen als Schande. Der Klumpfuss des Hephaistos – symbolisiert er bis heute den gesellschaftlichen Wert des Handwerkers? Zeigt Homers Kapitel über Hephaistos in der »Ilias«, dass die materielle häusliche Kultur den Wunsch nach Ruhm und Ehre niemals zu befriedigen vermag? Und hieraus speist sich – trotz der mittelalterlichen Hochphase der Zünfte (die ausführlich behandelt wird) – auch heute noch das Bild des Handwerkers? Und Pandora, jenes »reizende Mädchen«, die mit ihrer Büchse immer auch als Mahnung für den Zorn der Götter steht, als Gegenpol?
Richard Sennetts »Handwerk«, das erste Buch einer Trilogie über materielle Kultur (die anderen Bände sollen »Krieger und Priester« und »Der Fremde« heissen), ist mehr als eine Kultursoziologie des Handwerks. Es ist eine emphatisch-euphorische Schrift für all diejenigen, die ihrer Arbeit mit Hingabe nachgehen und sie um ihrer selbst willen gut machen wollen. Das ist für Sennett die Definition des Handwerkers. Sie üben eine praktische Tätigkeit aus, doch ihre Arbeit ist nicht nur Mittel zu einem anderen Zweck. Ob dieser Bestimmung bedarf es Sennetts Bekenntnis am Ende des Buches, ein Anhänger der philosophischen Denkschule des Pragmatismus zu sein, fast nicht mehr.
Engagiertes Tun
Ein Handwerker ist demnach weit mehr als ein Handarbeiter, der mit den Händen Fertigkeiten ausübt. Der Handwerker steht für die besondere menschliche Möglichkeit engagierten Tuns. Sennett erweitert so den Begriff des Handwerkers (durchaus in den Spuren Heideggers). Handwerkliches Können basiert für Sennett auf hoch entwickelte Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dabei ist für ihn Motivation wichtiger…als Talent, weil das Streben nach Qualität…Gefahren für die Motivation berge.
Die kulturell seit Jahrhunderten bestehende Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit will Sennett aufheben. Dafür legt er sich sogar noch posthum mit (seiner Lehrerin) Hannah Arendt und deren Verachtung für den »Animal laborans« (das arbeitende Tier Mensch) zu Gunsten des »Homo faber« an. Unter der falschen Alternative Kopf versus Hand leide letztlich der Kopf und sowohl Verständnis als auch Ausdruck nehmen Schaden. Bei jedem guten Handwerker, so die These, stehen praktisches Handeln und Denken in einem ständigen Dialog. Sennett versucht sich als zweiter Diderot, der in seiner Encyclopédie die Leser in den Salons bat, einfache arbeitende Menschen…zu bewundern (ohne Gefahr zu laufen, einer Verkitschung oder gar falschen Heroisierung anheim zu fallen). Dies berücksichtigend, und weil Wittgenstein und dessen Wort von den »Grenzen der Sprache« erwähnt wird, sei am Rande (ein bisschen süffisant) gefragt, warum es im Buch keine Illustrationen und Bilder gibt, die einige Umständlichkeiten hätten beheben können.
Fast überbordende Opulenz
Sennett zeigt am Beispiel sowjetischer Bauarbeiten Ende der 80er Jahre, wie Handwerk degenerieren kann und entwickelt bei der Rekonstruktion der Geschichte des Mobiltelefons die These, dass Kooperation dem Wettbewerb überlegen sei (und nicht nur als Belohnungssystem). Es wird auf die Problematik der CAD-Software hingewiesen, die dem Architekten (bzw. Konstrukteur) zwar das Zeichnen abnimmt, aber auch – durch die permanente Reproduzierbarkeit virtuell erzeugter »Nachbildungen« – das Verständnis…für den Gegenstand ihrer Arbeit schwächt, das sinnliche Erlebnis verkümmern lässt, den Menschen nur noch zum passiven Zuschauer oder Konsument[en] der…erweiterten Fähigkeiten macht und zu Fehlkonstruktionen führen kann (Überdeterminierung[en] und/oder falschen Relationen); ein Tatbestand, der übrigens durchaus bekannt ist und eingeräumt wird.
Er veranschaulicht, wie unter dem Deckmantel der »Qualitätssicherung« das britische Gesundheitswesen zum Fordismus verkommt, weil es, extrem arbeitsteilig, einer Bürokratie verpflichtet ist und nicht mehr den Menschen im Fokus hat und postuliert seine die Ambivalenz des Begriffs »Qualität« (hierauf wird noch einzugehen sein).
Der Leser wird in mittelalterliche Werkstätten geführt, in denen es anfangs keine Trennung zwischen Privatleben und Arbeit gab, bekommt Einblicke in die Trinität Meister-Geselle-Lehrling (und in die Ersatzvaterrolle des Meisters dem Lehrling gegenüber) und wird mit der Auseinandersetzung mit Fragen der Autorität und der Autonomie innerhalb der Werkstatt konfrontiert. Man geht mit den Gesellen, die sich anderswo zum Meister ausbilden lassen und wagt einen Blick in die Werkstätten Stradivaris, die nach dessen Ableben der unwiderbringliche Verlust des stillschweigenden Wissens (später, genauer, implizites Wissen genannt) untergingen. Niemand weiss bis heute genau, was die Musikinstrumente Stradivaris so einmalig macht – das Wissen hierum, nirgendwo festgehalten, ist auf immer verloren gegangen; etwas am Charakter ihrer Werkstätten muss den Wissenstransfer verhindert haben.
Geduld und heilsames Scheitern
Man erfährt, wie Frauen im Mittelalter zum Weben und Sticken kamen, erhält einen Ahnung, wie Goldschmiede früher das Gold ertasteten und bekommt erläutert, wie Kinder mit der »Suzuki-Methode« Geige lernen, in dem sie die auf dem Griffbrett angebrachten farbigen Plastikstreifen mechanisch abfassen (was Sennett als Simulation einer falschen Sicherheit geisselt – allerdings wird der ganzheitlichen Ansatz der »Methode«, der weit mehr umfasst als die bunten Plastikstreifen, schlichtweg unterschlagen).
Es gibt eine kleine Industriegeschichte des Glasbläserhandwerks, die Differenzen zwischen Handwerk, Kunstwerk (Kunstwerke sind Zeugnisse eines inneren Lebens) und Kunsthandwerk werden ausführlich dargelegt und dem Leser wird der Unterschied zwischen Spiegelwerkzeugen, Replikanten und Robotern erklärt. Sennett unternimmt eine kurze Kulturgeschichte des Ziegels, entwirft eine Chronik der Entwicklung vom profanen Schneidemesser bis zum Skalpell des Chirurgen, belehrt über die Zunahme der materiellen Güter seit dem 15. Jahrhundert und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Herstellung dieser Güter, führt den Leser zur französischen Papier- und Textilindustrie des 18. Jahrhunderts, entdeckt das »Erhabene« im Flachschraubenzieher, philosophiert über eine gebotene Mehrdeutigkeit in der Stadtplanung, vergleicht den Gebrauch der Hand beim Musiker, Glasbläser – und Koch, sinniert mit fast fernöstlichem Duktus über die Notwendigkeit des Handwerkers zur Geduld (Wenn etwas länger dauert als erwartet, höre auf, dagegen zu kämpfen!), referiert über die Differenz zwischen sozialem und antisozialem Expertentum, wettert gegen den alles nivellierenden und die Kreativität tötenden, individualfeindlichen Perfektionismus und lobt stattdessen das »heilsame Scheitern« (Montaigne), plädiert für die Langeweile…als Anreiz und regt zu Reflexion[en] über das Material an, die den unvollkommenen Ziegel als Ikone der Qualität erscheinen lassen.
Sennett führt den Leser zum Museumsbau nach Bilbao, in den Peachtree Centre nach Atlanta, Georgia und vergleicht ausführlich die Architektur der Häuser, die Ludwig Wittgenstein und Alfred Loos in Wien Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut haben.
Und das sind alles nur Ausrisse aus diesem so detailreichen Buch. »Handwerk« ist ein Kompendium gespickt mit Thesen, Lektüreeindrücken, Geschichten (und Geschichtchen), Verknüpfungen, Allegorien, Abschweifungen. Das ist an- und aufregend und bildend – aber auch gelegentlich (und leider mehr als man möchte) anstrengend und ermüdend. Sennetts weitschweifiges Mitteilungsbedürfnis, welches sich, wie man an den zahlreichen Fussnoten sehen kann, auf einer enormen Fülle von Lektüre stützt, erdrückt den Leser dann doch im einen oder anderen Fall, wenn die Exkurse dann Pirouetten drehen und zur Dekoration des angelesenen Wissens werden.
Unverständliche Anleitungen
Etwa, wenn er auf das ärgerliche Thema der häufig unverständlichen Anleitungen zu sprechen kommt. Anhand (sic!) einer Anleitung zur Entbeinung eines Hühnchens führt er nicht nur dieses Unverstehen vor, sondern erläutert auch, warum die zitierte Anleitung letztlich für denjenigen der hier Hilfe erwartet wertlos ist, totes Bezeichnen darstellt: Was die Verfasser dieser Anleitungen zur Genüge kennen, was ihnen derart vertraut ist, können sie nicht allgemeinverständlich ausdrücken. Hinzu kommt, dass es häufig einen imperativen Ton gibt. Bis dahin ist man vollkommen d’accord – natürlich auch deswegen, weil man diese Problematik zur Genüge kennt. Routiniertes Wissen stehe guten Anleitungen im Weg, so die These. Zwar ahnt der Leser schon, dass dies nicht in dieser Monokausalität stimmt, aber dennoch begibt man sich erwartungsvoll in Sennetts Hände – den Alternativen Einfühlsame Illustration, der Beschreibung des Schauplatzes und – am Ende – der Anleitung durch Metaphern.
Gerade letztere hebt er besonders hervor; eine kochende Bekannte, 1970 als Flüchtling aus dem Iran in die USA gekommen, pflegte diese Art von Beschreibung. Das Kochrezept klingt dann (zunächst) phantastisch: »Dein totes Kind. Erwecke es zu neuem Leben. Fülle es mit Erde. Sei vorsichtig! Es sollte nicht zuviel essen. Lege ihm den goldenen Mantel an. Und bade es. Wärme es, aber sei vorsichtig! Ein Kind stirbt von zu viel Sonne. Lege ihm die Juwelen an. Das ist mein Rezept.«
Tatsächlich wunderschön – und Sennett erläutert auch, was die einzelnen Formulierungen zu bedeuten haben. Aber als praktische Anleitung taugt dies auch nicht. Vorher beklagt Sennett zu Recht, dass zuviel implizites Wissen vorausgesetzt wird – aber das ist hier ja nicht anders. Bei einem vorherigen Beispiel empfahl er schon, das Entbeinen von einem Fachmann vornehmen zu lassen. Damit hätte sich die eingangs gestellte Frage erübrigt. Und am Ende weiss man immer noch nicht, wie Anleitungen aussehen und geschrieben werden können, die man auch tatsächlich »gebrauchen« kann. Der Leser bleibt – nicht nur hier – alleine gelassen.
Trotz dieser gelegentlich fruchtlosen Verirrungen ist dieses Buch immanent lehrreich. Sennetts emphatischer Handwerks- und Handwerkerbegriff zeigt neue Aspekte auf, die man sonst in dieser Konzentration kaum geliefert bekommt. So wird eine Neudefinition des Begriffs der Routine vorgenommen, den er aus seiner negativen Konnotation »befreit« und in das weite Feld des »Übens« überführt, in dem sie zum Entwicklungsvorgang wird. Übung dient als Erlernen eines Rhythmus, der unweigerlich zum Handwerk dazugehört aber keinesfalls mit sturer Wiedergabe gleichgesetzt werden darf. Aber auch die Philippika gegen die Perfektion, die Versuch und Irrtum unterbinden und somit keine Innovationen und Neuentwicklungen zulassen, ist anregend, auch wenn Sennett Perfektionismus als Obsession in pathologische Gefilde überführt und als zwanghafte Störung rubriziert.
Plädoyer für das Chaos und die sieben Leuchter
Sehr lesenswert ist Sennetts mit auffälliger Sympathie vorgebrachte Schilderung des sogenannten Ruskinismus. John Ruskin war ein radikaler Technikverweigerer des viktorianischen England (er wetterte sogar gegen den Buchdruck), der von einer Wertschätzung für rohe, unbehaue Schönheit beseelt war und letztlich die Meinung vertrat, die moderne Gesellschaft solle und könne als ganze in die vorindustrielle Vergangenheit zurückkehren. Schon in Diderots »Encyclopédie« wurden Unregelmässigkeiten nicht-maschineller Produktion mit dem anthropomorphen Begriff des Charakters bezeichnet (später im Buch treibt Sennett noch philosophische Studien zum ehrlichen Ziegel). In dem Sennett die fast entfesselt daherkommende Mechanisierung des viktorianischen Zeitalters mit der automobilistischen Übermotorisierung der Gegenwart vergleicht, ergibt sich der Anknüpfungspunkt zu Ruskin.
Mit grossem Vergnügen wird dessen Plädoyer für das Chaos des Handwerkers, welches sinnvoll, ja notwendig ist, um seine Arbeitsverfahren besser zu verstehen und seine sieben Anleitungen oder »Leuchter« für den verwirrten Handwerker und für jeden, der direkt mit der Herstellung materieller Objekte arbeitet zitiert. Fünf der »sieben Leuchter« sind:
- »der Leuchter der Aufopferung«: darunter versteht Ruskin (wie auch ich) die Bereitschaft, etwas um seiner selbst willen zu tun, also Hingabe;
- »der Leuchter der Wahrheit«, der Wahrheit mit ihren »ständigen Brüchen und Rissen«; damit meint Ruskin Schwierigkeiten, Widerstand und Mehrdeutigkeit;
- »der Leuchter der Kraft«, gezähmter, durch andere Maßstäbe als blinden Willen geleiteter Kraft;
- »der Leuchter der Schönheit«, die für Ruskin eher im Detail, im Ornament zu finden ist als im großen Entwurf – handliche Schönheit;
- […]
- »der Leuchter des Gehorsams«, des Gehorsams gegenüber dem Beispiel, das ein Meister eher durch seine Praxis als durch einzelne Werke gegeben hat. Anders gesagt: Strebe danach, wie Stradivari zu sein, aber versuche nicht, seine Geigen zu kopieren!
Ruskins Ablehnung der Gegenwart, sein Eintreten für das leidenschaftliche Verlangen nach einem verlorenen Freiraum, in dem der Handwerker zumindest zeitweilig die Kontrolle verlieren darf, fasziniert Sennett. Dass er sich am Ende doch gegen Ruskins extreme Positionen wendet und nicht den Kampf gegen die Maschine, sondern in der Arbeit mit ihr die radikale emanzipatorische Herausforderung sieht (Sennett bezeichnet dies als aufgeklärtes…Verständnis), dürfte eher rationalen Erwägungen geschuldet sein. Im weiteren Fortgang des Buches werden durchaus – mal versteckt, mal offen – Thesen Ruskins von Sennett adaptiert.
Jeder kann ein guter Handwerker werden
Eine der Kernthesen im Buch, am Schluss fast hastig hervorgebracht (stark an Beuys erinnernd und diesen paraphrasierend, ohne ihn zu erwähnen) lautet, dass nahezu jeder Mensch ein guter Handwerker werden könne. Statt dies jedoch beispielsweise anhand der »Do-It-Yourself«-Bewegung, die in den letzten Jahrzehnten nicht unerheblich zur Dekonstruktion einer Teils des professionellen Handwerks beigetragen haben dürfte, in dem sie Scharen von Hobbyheimwerkern ermöglichte, auszuführen, begründet er dies mit Schillers Spieltheorie. Im Spiel liege der Ursprung des Dialogs…den der Handwerker mit Materialien wie Ton und Glas führt. Im Spiel erkennt Sennett den Beginn des Übens.
Vereinfacht bedeutet das: Wer spielen kann, kann auch handwerken. Im weiteren Verlauf werden dann die gängigen multiple-choice Intelligenztests, die – so Sennett – problematisierendes Denken negativ bewerten und bei denen es keine Zeit zum Nachdenken gibt, zu Gunsten der Fähigkeit des Handwerkers in die Tiefe zu gehen verworfen. Damit soll von der Fixierung auf einen einzigen Wert wie beispielsweise dem Intelligenzquotienten abgerückt werden. Der Schluss, dass Menschen mit einem IQ von 85…durchaus mit denselben Problemen fertig werden wie die Masse der Intelligenteren ist allerdings kühn, auch wenn er mit der kleinen Einschränkung nur etwas langsamer versehen wird. Da kommt das zen-buddhistische Versuche nicht, das Ziel zu treffen! als romantisches Trostpflaster vielleicht gerade recht.
Trotz der bereits erwähnten Detail- und Materialfülle, die sich allerdings häufig an Vergangenem orientiert, vermisst der Leser Aspekte des gegenwärtigen »globalen Handwerkens«. Sennett konstatiert richtigerweise, dass mit dem technologischen Wandel seit Mitte des 19. Jahrhunderts für grosse Teilen der Arbeitnehmer nur die Alternative Dequalifizierung oder Entlassung blieb. Dieser Prozess dürfte in den Industrienationen inzwischen weitgehend abgeschlossen sein, d. h. eine weitere Freisetzung von Arbeitskräften durch neue Technologien ist in grösserem Rahmen im Handwerk nicht mehr zu erwarten (im Dienstleistungssektor mag dies anders aussehen). Daher wäre es in einer Schrift über das Handwerk durchaus notwendig gewesen zu zeigen, wie das »verbliebene Handwerk« aus ökonomischen Gründen nun sukzessive in sogenannte Billiglohnländer ausgelagert wird und welchen Einfluss dies auf die Herstellungsprozesse, die Produkte – und den »Konsum« hat.
Die Achillesverse dieses Buches ist Sennetts fast kauzig-ablehnende Meinung über den Begriff der Qualität, der in die Nachbarschaft des so verteufelten Perfektionismus gestellt wird. Dabei ist in seiner am Ende vorgetragene Charakteristik des guten Handwerkers implizit so etwas wie Qualitäts- und Fortschrittsdenken angelegt. Nur weil »Qualität« zwischenzeitlich als Floskel durch die Werbeindustrie vereinnahmt und instrumentalisiert wurde, ist es nicht einzusehen, warum ein peinlich genaues, präzises und hochwertiges Arbeiten, erreicht durch Üben, durch gelegentliches Scheitern, durch »Versuch und Irrtum« – warum ein solch qualitativ hochwertiges Produkt fast dämonisiert wird. Ausgerechnet dieser Punkt bleibt von einer genaueren Erörterung ausgespart.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
Das macht Lust auf das Buch. Dennoch ein paar Fragen bzw. Anmerkungen : kranken Betriebsanleitungen nicht eher daran, daß die von eher materiefremden verfasst werden und / oder daß gerade technische Geräte eine derartige und über den Alltagsgebrauch hinausgehende Komplexität erreicht haben, daß es gleichsam zu einer Entfremdung von »Features« und Lebenswelt gekommen ist ?
Gibt es nicht eine doppelte Entwertung des Handwerks, daß selbst solche, nicht maschinell leistbare Arbeiten dennoch via Zeitdruck, Akkordarbeit gleichsam industrialisiert werden einerseits, durch sinkende Bezahlung – an den einzelnen (die Kunden zahlen an den Betrieb dennoch immer höhere Entgelte) andererseits ? Ein Handwerker heute ist nicht mehr der, der einst hatte sein können und dürfen, außer er übt sein Handwerk zu Schauzwecken auf Mittelaltermärkten oder auf Murano (Glasbläser) aus, will mir scheinen.
in Händen
In Händen hatte ich das Buch. Und der wohlgestaltete Umschlag lockte mich zum Kauf. Aber ich habe widerstanden. Jetzt lese ich, dank Ihrer Zusammenfassung, dass das Buch für mich dennoch eine lohnende Lektüre sein kann. Allein das Thema CAD und wie es behandelt wird interessiert mich.
Liebe Grüße
Karl Gumbricht
Zu CAD schreibt er nur ein paar Seiten. Aber ich glaube trotzdem, dass Ihnen das Buch gefallen würde.
Schön, wieder von Ihnen zu hören. Mail folgt!
#1 tinius
Zu den Betriebsanleitungen: Sennetts These ist eine andere – Anleitungen werden (so er) von Leuten verfasst, die zuviel implizites Wissen voraussetzen und dadurch sozusagen »blind« für die Probleme der »Unwissenden« sind.
Und über Deine Einlassungen zur doppelten Entwertung des Handwerks – hierüber hätte ich gerne was gelesen. Dazu gibt’s aber – leider – nichts.
Es mag unromantisch sein,
aber möglicherweise wird das Geheimnis der Stradivaris bald gelüftet.
Aber das »Geheimnis« hätte jahrhundertelang gehalten...
Würde die Vermutung im Artikel richtig sein, dann wäre das implizite Wissen, was lt. Sennett verlorengegangen ist, nur am Rande der Grund für die Einzigartigkeit. Weiterhin bliebe die Frage, warum andere Geigenbauer der damaligen Zeit nicht ähnliche Instrumente bauten – wenn es am Holz gelegen haben soll.
Handwerk in der globalisierten Welt
»Trotz der bereits erwähnten Detail- und Materialfülle, die sich allerdings häufig an Vergangenem orientiert, vermisst der Leser Aspekte des gegenwärtigen »globalen Handwerkens««
Das Thema Handwerk im Kontext der globalisierten Moderne wird in dem etwas älteren Buch von Sennett »Die Kultur des neuen Kapitalismus« behandelt. Dort wird es nicht so umfänglich besprochen, aber es wird hergeleitet (in angelsächsischer Leichtfüßigkeit), warum die gegenwärtige Wirtschaft die handwerkliche Einschätzung nicht zulässt.
Danke für den Hinweis; das Buch kenne ichnicht . Aber ich hätte es trotzdem für sinnvoll und notwendig erachtet, es in »Handwerk« anzusprechen.
Die Theorie sagt, dass Handbücher von Personen verfasst werden sollen, die das technische Innenleben der beschriebenen Geräte nicht kennen – weil sie dann denselben Zugang haben wie die späteren Benutzer. Und in dem dadurch notwendigen Diskurs mit den Ingenieuren, die für Hard- und Software zuständig sind, erfahren diese etwas über die Bedürfnisse der Benutzer. Und ein ganz anderes Thema sind die Übersetzungen aus asiatischen Sprachen.
Und wieder ein anderes Thema ist die Featuritis der Geräte. Eine Ursache ist sicher, dass die ersten Tester die Entwickler und die zweiten die »Nerds« oder »Early Adopter« sind. Meistens sind das selbst Entwickler anderer Geräte oder Technikfreaks, die auf der einen Seite eine Unmenge von (überflüssigen) Funktionen goutieren und andererseits, was die Fehlerhaftigkeit betrifft, sehr leidensfähig sind. Der Konkurrenzkampf zwischen den Firmen macht es praktisch unmöglich, dass durchdachte Standards vor den Geräten verabschiedet werden.
Das letzte Gerät mit einer einheitlichen Bedienphilosophie war das Auto. Das Gaspedal ist immer vor dem rechten Fuß und das Lenkrad befindet sich direkt vor dem Fahrer. Wenn man das Chaos der PC-Programme auf das Auto übertragen würde: Bei jedem Auto ist ein anderes Pedal fürs Gasgeben und Bremsen verantwortlich, und mit welchem Element man lenken kann, muss man während der ersten Fahrt erst herausfinden.
Welche Theorie ist das?
Sie stünde im Gegensatz zu Sennetts Diktum.
Ich glaube, man kann am Hilfe-Forum von twoday manchmal sehen, wie Anleitungen verfasst werden. Ich gehe davon aus, dass dort nur jemand antwortet, der auch Ahnung von den Problemen der Fragesteller hat. Diese Antworten sind jedoch sehr häufig in einer Sprache geschrieben, die schon wieder die Vorkenntnisse voraussetzt, die eigentlich angefragt werden.
Das was Sennett dann selber präsentiert, ist aber keinen Deut’ besser.
[EDIT: 2008-08-11 12:16]
Ich habe diese Empfehlung bereits mehrfach in Büchern über Softwareentwicklung gelesen. In unserer Firma schreibt jeder Entwickler die Dokumentation zu seiner Software selbst. Aber ein Entwickler bedient seine Software anders als ein normaler Anwender. In größeren Firmen (Entwicklerteams) machen das deshalb andere. Zum Beispiel könnte es die Designerin schreiben, die die Icons und das Layout entwickelt hat. Sie kennt zwar die prinzipielle Arbeitsweise und Aufgabe des Programms, aber sie klickt die Menüpunkte anders an als die Entwickler.
Wenn ich mein eigenes Programm bediene, stürzt es niemals ab. Aber in den frühen Phasen der Entwicklung brauchen andere nur kurze Zeit bis sich das Programm verabschiedet. Sie kommen mit wenigen Klicks auf Programmablaufpfade, bei denen ich im Traum nicht daran gedacht habe, dass man es auch so versuchen kann. – Im übrigen ist das auch einer der Gründe, warum soviel der Free- und Shareware aus dem Netz kaum benutzbar ist. Man findet die Bedienreihenfolge nicht, bei der es nicht abstürzt. Denn die Programmautoren waren ja bei der Veröffentlichung der Meinung, dass alles funktioniert und für sie tat es das auch.
[EDIT: 2008-08-11 14:52]
Es wird auf die Problematik der CAD-Software hingewiesen, die dem Architekten (bzw. Konstrukteur) zwar das Zeichnen abnimmt, aber auch – durch die permanente Reproduzierbarkeit virtuell erzeugter »Nachbildungen« – das Verständnis…für den Gegenstand ihrer Arbeit schwächt, das sinnliche Erlebnis verkümmern lässt, den Menschen nur noch zum passiven Zuschauer oder Konsument[en] der…erweiterten Fähigkeiten macht und zu Fehlkonstruktionen führen kann (Überdeterminierung[en] und/oder falschen Relationen); ein Tatbestand, der übrigens durchaus bekannt ist und eingeräumt wird.
Das glaube ich so nicht. Die Qualität an räumlicher Vorstellung wird einerseits von den individuellen intellektuellen Voraussetzungen jedes Einzelnen und andererseits von der Zeitmenge bestimmt, in der man bestimmte Aufgaben zu lösen hat. Wenn sich das räumliche Vorstellungsvermögen also tatsächlich verschlechtert haben sollte, dann würde das nicht am Kopieren, sondern an der Verschiebung der Arbeitsinhalte hin zu etwas Anderem liegen. – Nur was sollte das bei Konstrukteuren sein?
Mit dem sinnlichen Erlebnis
ist das Zeichnen gemeint. Indem am Computer immer aufs Neue Modelle erstellt werden und verworfen werden können und keine Zeichnung mehr erstellt wird, verliert der Architekt einen Bezug zu dem Objekt. Ich hatte für diese These mit meiner Nichte gesprochen. Sie bestätigt den Eindruck – insbesondere was diejenigen Architekten angeht, für die diese Software eine Umstellung erforderte.
[EDIT: 2008-08-11 12:11]
Das erinnert mich daran, dass Menschen, die viel am Computer schreiben, eine miserable Handschrift entwickeln oder auch gar nicht mehr imstande sind leserlich zu schreiben, obwohl sie früher eine schöne Handschrift gehabt haben.