In Zeiten fast blinden Wissenschaftsglaubens scheint der neue Versuch, einen Beweis für die Existenz Gottes zu führen, fast schon rührend. Dies in einer Welt, in der Neurowissenschaftler mit ihren Erkenntnissen gleich mehrere lästige Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen. Der grösste Brummer ist dabei die Leugnung des freien Willens. Den entdecken sie nämlich (genau wie die »Seele«) auf ihren Kinderbildchen nicht mehr und glauben damit, etwas Neues oder Anderes zu erkennen. Die nur im Schafspelz getarnten Wölfe überbieten sich derzeit mit den abstrusen »Sensationen«, die in Wirklichkeit nur effekthascherische Belanglosigkeiten sind, die ihre philosophische Impotenz nur verschleiern. Da ist von einer »Matrix-Existenz« die Rede oder es werden Luftbuchungen wie »phänomenale Selbstmodelle« in die Welt gesetzt – grosses Getöse in einem hohlen Körper. Der Dekonstruktionsfuror hat, ist er erst einmal aus seinem Bedeutung simulierenden Jargon herausgelöst, den Charme eines verwelkten Blumenstrausses.
Noch eine Stufe hinter die Aufklärung zurück geht allerdings Robert Spaemann mit seinem Büchlein »Der letzte Gottesbeweis«. Bereits im zweiten Satz des Vorwortes zieht er einerseits den hochtrabenden Anspruch, einen neuen Gottesbeweis liefern zu wollen, zurück und spricht lieber von einem Argument, das die Vernünftigkeit des Gottglaubens zeigen soll – andererseits sieht er sich jedoch durchaus in der Tradition von Pascal und Kant, was wohl als grandiose Selbstüberschätzung gesehen werden muss. Spaemanns (und später auch Schönbergers) Furor, Nietzsches Ausspruch »Gott ist tot« als Gottesleugnung zu interpretieren und den diagnostischen Charakter dieses Diktums entweder zu leugnen oder schlichtweg zu übersehen, ist fast peinlich.
Die vom Verlag gepriesene »kleine Sensation« ist ein alter Hut
Den jetzt als Buch vorgelegten Gottesbeweis hatte Spaemann bereits seit 2005 in diversen Vorträgen und Publikationen entwickelt (wesentliche Textstellen des Buches finden sich ein einem Artikel in der Welt und in dem Artikel »Rationalität und Gottesglaube«). Der eigentliche »Beweis« folgt auf Seite 31 und umfasst etwa eine Seite. Danach wechselt der Autor dann (auf dem Cover ist das nicht zu sehen; erst im Klappentext) und Rolf Schönberger referiert über die Gottesbeweise von Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin und tastet sich über Kant und Nietzsche auf den letzten rund 10 Seiten des Buches an eine Interpretation von Spaemanns Beweis.
Spaemanns »vernünftiges Argument« lautet:
Ich möchte das, was ich meine, dass nämlich Wahrheit Gott voraussetzt, an einem letzten Beispiel verdeutlichen, an einem Gottesbeweis, der sozusagen nietzsche-resistent ist, einem Gottesbeweis aus der Grammatik, genauer aus dem sogenannten Futurum exactum. Das Futurum exactum, das zweite Futur ist für uns denknotwendig mit dem Präsens verbunden. Von etwas sagen, es sei jetzt, ist gleichbedeutend damit, zu sagen, es sei in Zukunft gewesen. In diesem Sinne ist jede Wahrheit ewig. Dass am Abend des 12. Oktober 2006 zahlreiche Menschen in der Katholischen Akademie in München zu einem Vortrag über »Rationalität und Gottesglaube« versammelt waren, war nicht nur an jenem Abend wahr, das ist immer wahr. Wenn wir heute hier sind, werden wir morgen hier gewesen sein. Das Gegenwärtige bleibt als Vergangenheit des künftig Gegenwärtigen immer wirklich. Aber von welcher Art ist diese Wirklichkeit? Man könnte sagen: in den Spuren, die sie durch ihre kausale Einwirkung hinterlässt. Aber diese Spuren werden schwächer und schwächer. Und Spuren sind sie nur, solange das, was sie hinterlassen hat, als es selbst erinnert wird.
Solange Vergangenes erinnert wird, ist es nicht schwer, die Frage nach seiner Seinsart zu beantworten. Es hat seine Wirklichkeit eben im Erinnert werden. Aber die Erinnerung hört irgendwann auf. Und irgendwann wird es keine Menschen mehr auf der Erde geben. Schließlich wird die Erde selbst verschwinden. Da zur Vergangenheit immer eine Gegenwart gehört, deren Vergangenheit sie ist, müssten wir also sagen: Mit der bewussten Gegenwart — und Gegenwart ist immer nur als bewusste Gegenwart zu verstehen — verschwindet auch die Vergangenheit, und das Futurum exactum verliert seinen Sinn. Aber genau dies können wir nicht denken. Der Satz »In ferner Zukunft wird es nicht mehr wahr sein, dass wir heute Abend hier zusammen waren« ist Unsinn. Er lässt sich nicht denken. Wenn wir einmal nicht mehr hier gewesen sein werden, dann sind wir tatsachlich auch jetzt nicht wirklich hier, wie es der Buddhismus denn auch konsequenterweise behauptet. Wenn gegenwärtige Wirklichkeit einmal nicht mehr gewesen sein wird, dann ist sie gar nicht wirklich. Wer das Futurum exactum beseitigt, beseitigt das Präsens.
Aber noch einmal: Von welcher Art ist diese Wirklichkeit des Vergangenen, das ewige Wahrsein jeder Wahrheit? Die einzige Antwort kann lauten: Wir müssen ein Bewusstsein denken, in dem alles, was geschieht, aufgehoben ist, ein absolutes Bewusstsein. Kein Wort wird einmal ungesprochen sein, kein Schmerz unerlitten, keine Freude unerlebt. Geschehenes kann verziehen, es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Wenn es Wirklichkeit gibt, dann ist das Futurum exactum unausweichlich und mit ihm das Postulat des wirklichen Gottes. »Ich fürchte«, so schrieb Nietzsche, »wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.« Aber wir können nicht umhin, an die Grammatik zu glauben. Auch Nietzsche konnte nur schreiben, was er schrieb, weil er das, was er sagen wollte, der Grammatik anvertraute.
Unbefriedigende Beweisführung
Die entscheidende Frage lautet: Warum »müssen« wir ein Bewusstsein denken, in dem alles aufgehoben ist? Wie ist das gemeint? Eine Art kollektives Erinnerungsdepot mit Gott als Oberbibliothekar? Oder ein kafkaesker Gesetzeshüter, der für das »jüngste Gericht« Beweismittel sammelt? Man ist gespannt auf Schönbergers Ausführungen. Aber in medias res kommt er erst 90 Seiten später (vier Seiten vor Ende des Buches):
Im Bewusstsein … ist die Vergangenheit nicht durch ihre Folgen, sondern durch das Erinnertwerden gegenwärtig. Auch hierdurch lässt sich keine Ewigkeit denken. Denn das Bewusstsein ist das von Menschen; es wird aber auch die Spezies Homo sapiens, aus welchen Gründen auch immer, untergehen. Dann gibt es keine menschliche Erinnerung mehr. Die Vergangenheit ist dann wie nicht gewesen. Aber genau das kann nicht sein, denn es widerspräche dem Ausgangssatz [Alle Tatsachenwahrheiten sind ewige Wahrheiten]…
Keine Tatsache wird jemals wieder falsch. Dies heißt aber, dass weder die Natur noch der menschliche Geist der Ort dieser Wahrheit sein können. Es kann also nur ein unendliches Bewusstsein sein. Ein solches absolutes Bewusstsein können wir nur Gott zuschreiben.
Wenn es also keine Menschen mehr auf der Erde geben wird, dann bliebe doch die Tatsache aus Spaemanns Beispiel, dass am Abend des 12. Oktober 2006 zahlreiche Menschen in der Katholischen Akademie in München zu einem Vortrag über »Rationalität und Gottesglaube« versammelt waren wahr. Nur: Wem ist dies dann noch gegenwärtig? Die Antwort wäre (gemäss Schönberger): Gott.
Aber was ist diese Tatsache dann »wert«, wenn kein anderes Lebewesen mehr Rekurs hierauf nehmen kann? Schon in einhundert Jahren dürfte diese »Wahrheit« (1.) irrelevant und (2.) vergessen sein (im Gegensatz zu anderen »Wahrheiten«, wie beispielsweise historischen Ereignissen). Sie existiert nur solange, so lange sie erinnert wird. Danach bleibt diese Tatsache zwar weiterhin wahr, ist aber nicht mehr präsent. Gott wäre also nur eine Art Präsenzverwalter für ewige Wahrheiten – so banal sie auch sein mögen. Aber was finge ein Gott mit solchen Tatsachen an? Was finge er mit allen Wahrheiten der Welt an, wenn sie nur ihm bekannt wären? Und: Wem nütze eine Bibliothek aller Wahrheiten, wenn er nur alleine auf der Welt wäre?
Das keine Tatsache jemals wieder falsch wird, ist zwar richtig (insofern sind Naturgesetze eben nur solange wahr, so lange sie nicht widerlegt sind). Dies setzt aber keinen Statthalter voraus, der diese in einem imaginären Bewusstseinsraum archiviert. Dieser Statthalter ist aber nicht automatisch dadurch schon inauguriert, dass es so etwas wie Wahrheiten gibt.
Zwar fragt Schönberger, ob denn für die Wahrheit einen Ort denken muss, an dem sie gedacht und gewusst wird, aber eine nachvollziehbare und befriedigende Beweisführung bleibt er schuldig. Genauso wie die Frage, wie man sich dieses absolute Bewusstsein nun zu denken hat. Flugs ist das Büchlein schon zu Ende, nicht ohne noch einmal herausgestellt zu haben, dass es sich nicht um einen Beweis im strengen Sinne handele.
»Bedingungslose Unterwerfung«
Obwohl Spaemann schreibt, dass die Abschaffung der Aufklärung zum Nihilismus führe, betreibt er selber ein voraufklärerisches Spiel. Sein Gott ist gut, gerecht, wahrhaftig und – vor allem – allmächtig! Spaemann kritisiert Teile der heutigen Priesterschaft, die Gott auf das »Gute« reduzieren wollen und seine Allmacht »vergessen«. Das Theodizee-Problem, welches er mit keinem Wort erwähnt, wird durch dieses Postulat nicht eben kleiner. Da verwundert es allerdings nicht, wenn bedingungslose Unterwerfung Gott gegenüber für Spaemann ein absolutes Gebot ist. Für den heutigen Leser mutet dies arg archaisch an.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Spaemann im (durchaus berechtigten) Furor gegen die immer weiter fortschreitende, Verwissenschaftlichung der Welt, die nun ihrerseits religiöse Züge annimmt und immer mehr der Theologie und vor allem der Philosophie droht, den Rang abzulaufen, einen Kontrapunkt setzen wollte. Die Faszination, etwas empirisch beweisen zu können, was eigentlich jeder Empirie entzogen scheint und letztlich »nur« geglaubt werden kann, erscheint offensichtlich zu verlockend. Aber sein Beweis, den er selber schnell als Argument abwertet, hilft nur dort, wo es keiner Hilfe bedarf.
Ergänzende Links:
- Robert Spaemann im Gespräch mit Peter Voß: »Bühler Begegnungen – Wozu muss man Gott beweisen, Herr Spaemann«. Videostream der Sendung hier (»Video im Player« empfohlen).
- Interview in der »Wirtschaftswoche« – Spaemann u. a. zu Kreationismus und Intelligent Design. Interessant auch seine Verschlüsselungsthese zu Johann Sebastian Bachs Violinsonate in g‑moll, die, gemäss eines bestimmten Verschlüsselungsverfahrens einen Rosenkreuzertext hervorbringen soll. Spaemann hält es für unmöglich, dass dies ein »Zufall« sein kann und attestiert Bach göttliche Schöpferkraft. Von hier aus rekurriert er dann auf die Evolutionsthese. Diese Verschlüsselungsthese wird auch im behandelten Buch ausgebreitet, allerdings interessanterweise ohne Nennung der Musikwissenschaftlerin Helga Thoene.
Der letzte Titel
In einer Buchhandlung würde ich vielleicht ein bisschen durch die Seiten blättern, um das Buch dann angewidert zur Seite zu legen.
Der Titel mit der Adjektivierung »letzte« reicht aus, um das gesamte Buch zu desavouieren.
Etwas so zu titulieren zeigt von der Art von Journalismus oder Geschreibse, der es nicht auf den Inhalt ankommt.
Es wäre aber zu hoffen, dass es »das letzte Buch« des Autors ist, genauso wie ich ihm wirtschaftlichen Misserfolg damit wünsche.
Ich könnte langatmig begründen, warum mich der Titel so aufregt, doch glaube ich, dass ich von den wesentlichen Lesern auch so verstanden werde.
Ja, der Titel...
ist reichlich merkwürdig. Spaemann ist aber ein seriöser Religionsphilosoph – vielleichst schaust Du Dir ja wenigstens den Anfang des Videostreams einmal an. Dort kommt irgendwann heraus, dass er sein Buch sicherlich anders genannt hätte (die Vokabel »Gottesbeweis« negiert er ja bereits im zweiten Satz im Vorwort). Da ist wohl auf den Verlag sehr viel »Rücksicht« genommen worden.
Er ist 80 Jahre alt – vielleicht meint er deshalb, es sei »der letzte« – also sein letzter, sozusagen. Beziehungsweise: der letzte, den er noch gedenkt zu denken.
Der Stream scheint bei mir nicht zu funktionieren. Ich probiere es morgen noch einmal.
@steppenhund
Bei mir geht’s mit »Video im Player«.
Frage
Erstmal bin ich froh, dass ich nicht der einzige bin, der das lange Zitat nicht versteht. Bzw. der nicht versteht, worin die Beweiskraft liegen soll. Da ich in Philosophie eine Niete bin, will ich aber nicht weiter darauf eingehen.
Jetzt zur Frage (führt ewas vom Thema weg, sorry). Du schreibst von »Zeiten fast blinden Wissenschaftsglaubens« und am Schluss nochmal vom »berechtigten Furor gegen die immer weiter fortschreitende Verwissenschaftlichung der Welt«. Mich würde interessieren, woran du diese festmachst. Mir scheint, dass die Welt vor z.B. 50 oder 70 Jahren viel »verwissenschaftlichter« war als heute.
Vielleicht
Beispielsweise mit fortschreitenden Dominanz der Neurowissenschaften (die der Philosophie den Rang ablaufen wollen – alles wird jetzt über die Gehirnfunktionen erklärt) oder auch einfach nur mit der Technikgläubigkeit etlicher Protagonisten was die Gentechnik angeht (um dies sehr stark zu pauschalieren), haben wir m. E. eine Dimension erreicht, in der sich der Mensch (bzw. der Wissenschaftler) sich schöpferisches anmasst.
Vielleicht ist aber auch nur die Qualität der »Verwissenschaftlichung« eine andere, weil es (mit Beck gesprochen) zu Risiken führen kann, die globale Auswirkungen haben können.
[EDIT: 2007-08-07 20:06]
Stirnklatsch
An das naheliegendste hatt ich gar nicht gedacht. Neurowissenschaften, ja klar. Und Gentechnik, und Mikrobiologie überhaupt. Ich war auf einer ganz anderen Schiene, zunehmende Geringschätzung von (im weitesten Sinne) wissenschaftlicher Gedankenführung, oder überhaupt der vier Grundrechenarten. Anscheindend surfe ich in letzter Zeit zuviel auf spinnerten Esoterikseiten herum.
[EDIT: 2007-08-07 21:57]
Phänomenales und nicht-substanzielles Selbstmodell
halte ich nicht für Luftnummern, sondern eigentlich für recht klar gewählte Begriffe mit recht verständlichen Grundgedanken:
Selbstmodell: Alle Wahrnehmungen, die wir über unsere Sinne haben, werden im Gehirn in neuronale Aktivitätsmuster abgebildet. Da das nicht die Wirklichkeit selbst ist, sondern eine Abbildung, ist Modell dafür ein vernünftiger Begriff. Die Aktivität ist dabei räumlich und zeitlich verteilt, u.a. weil die Objekte selbst eine Ausdehnung in der Raumzeit haben, also im Auge verschiedene Sinneszellen angesprochen werden und auch meist verschiedene Sinnesorgane beteiligt sind.
Den meisten „Input“ erfahren wir aber von uns selbst, hier nicht unbedingt, weil wir uns räumlich am nächsten sind, sondern weil der Großteil der neuronalen Verschaltungen innerhalb des Gehirns verläuft und weil natürlich unser eigener Zustand für uns (für unser Überleben) die allergrößte Bedeutung hat.
In dieses unser Selbst wird also der allergrößte Teil unserer Nerventätigkeit investiert. Das unterscheidet uns von den Tieren, unser Gehirn verbraucht weit überproportional Ressourcen, verglichen mit anderen Tieren. Die Neurowissenschaftler versuchen das minimale neuronale Korrelat zu finden, also die kleinstmögliche Anzahl von Neuronen und deren Verschaltungen, um ein Selbst zu konstituieren.
Phänomenal: Das größte Rätsel bei unserem Bewusstsein ist, warum es nicht nur einfach (unbewusst) funktioniert, wir also wie Zombies durchs Leben stolpern, sondern warum wir dabei etwas erleben, eben die „Phänomene“ oder Qualia. Weniger erstaunlich finde ich die oft als verblüffend geschilderte weitgehende Konstanz des Selbst, also dass man sich im Alter noch als dieselbe Person wie in der Jugend empfindet. Ganz einfach, weil unsere natürliche und soziale Umwelt, unsere Interaktivität und unser Äußeres konstante Anteile beinhaltet und unsere Nerventätigkeit auf einer ziemlich konstanten Hardware läuft.
Nicht-substanziell: Das macht Metzinger in dem von dir verlinkten Artikel an der Fadenanalogie deutlich. Unser Selbst ist nicht-substanziell, also keine Substanz, weil man, wenn einer im Gehirn „den Stecker zieht“, als Person aufhört zu existieren. Nach Ansicht der Neurowissenschaftler und der ihnen nahestehenden Philosophen (ala Metzinger) ist die Existenz eines Selbst an ein funktionierendes Gehirn gebunden, das rekurriert auch wieder auf das „neuronale Korrelat“. Aber der bewusste Fokus springt im Gehirn ständig hin und her, es ist ein Prozess der ständigen (elektrischen und chemischen) Veränderung, kein Ding, deshalb „nicht-substanziell“.
Ein Dissens von Metzinger mit den Neurowissenschaftlern besteht darin – erinnere dich an die von Miriam bei Nensch losgetretene Diskussion – dass er befürchtet, dass das Finden dieses minimalen neuronalen Korrelats dazu dienen kann, KI zu schaffen, also nichtmenschliche bewusste Selbste. Er plädiert dagegen, um das Leid auf der Welt nicht zu vergrößern. Erst da wird er mir merkwürdig. Erstens sehe ich nicht, dass das überhaupt jemals (oder in nächster Zeit) gelingen wird, und dann ist mir nicht klar, warum ein relativ „dummes“ bewusstes Etwas darunter leiden soll. Raben z.B., siehe einen meiner letzten Artikel, haben vermutlich beispielweise ein derartig einfaches Bewusstsein, und sie benutzen es einfach. Und es gibt sehr viele sehr dumme Menschen, die recht zufrieden mit sich leben können.
Der Ansatz für den Gottesbeweis ist absolut lächerlich. Kurzzusammenfassung: Weil ich mit nicht vorstellen kann, dass etwas endlich ist, muss Gott her und für mich die Unendlichkeit garantieren. Da ist nicht einmal ein Fünkchen Logik zu erkennen. Für das Verschwinden jeglicher Erinnerung kann man im einfachsten Fall sogar die Quantentheorie bemühen. Selbst bei vollständiger Kenntnis des heutigen Zustands kann man weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft unendlich weit extrapolieren, weil Gevatter Zufall immer mit am Tisch sitzt, in beiden Richtungen.
Summa summarum: Metzinger sollte man nicht in die Nähe von Leuten rücken, die sich an Gottesbeweisen versuchen. Er ist eine ganz andere Liga.
Mir ist klar, dass Metzinger mit Spaemann natürlich nicht direkt »vergleichbar« ist. Aber auch Metzinger treibt ja in Wirklichkeit keine bloß beschreibende Wissenschaft, sondern lässt in dem Interview in der ZEIT schon anklingen, worum es ihm geht:
Wenn wir das neuronale Korrelat des Bewusstseins kennen und ein mathematisches Modell haben, das erklärt, wie Information darin fließt und verarbeitet wird, dann können wir auch Bewusstseinsinhalte direkt modulieren, sie hemmen, verstärken, optimieren (Hervorhebung von mir).
Auf die vorsichtige Nachfrage, ob das nicht auch ein bisschen gefährlich ist, folgt eine ausweichende Antwort:
Neurotechnologie wird aber erst zur Bewusstseinstechnologie, wenn sie beginnt, phänomenale Realitätsmodelle, also Bewusstseinsinhalte als solche, vorsätzlich und selektiv zu verändern oder zu erzeugen.
Das ist keine Antwort auf den Einwand, sondern genau das (mit anderen Worten) was er vorher sagte. Was ihn durchaus mit den Gottesbeweisern vom Mittelalter bis heute gemeinsam umtreibt ist seine apodiktische Bedeutungsaufplusterung (die fällt bei Spaemann zugegebenermassen durch die exorbitante Schwäche seines »Beweises« eher gering aus). Metzinger hebt die Neurowissenschaften als konstituierend für ein neues Weltbild an.
Die Diskussion auf Nensch hat mich schnell nicht mehr interessiert; u. a. deswegen, weil dort sehr spezifisch um Begrifflichkeiten gerungen wurde, die für mich wenig Relevanz hatten und dessen Bedeutung ich auch irgendwann nicht mehr verstanden habe (in diesem Thread wird übrigens schon Spaemann behandelt [und als »übler Geselle« ein bisschen harsch beleidigt]; s. hier). Metzingers Selbstmodell ist mir immer suspekt vorgekommen, da es das eine Dogma (die Religion) durch ein anderes ersetzt; nein: weil es dem neuen Dogma weit die Türen öffnet.
Überspitzt könnte ich auch sagen, dass die einen Gott beweisen wollen – die anderen es Gott gleich tun wollen.
Natürlich hat Metzingers Modell bei vielen »IT-Menschen« eine hohe Attraktivität (das belegen auch die Leser-Kommentare nach dem Interview in der ZEIT).
Die Neurowissenschaften sind konstituierend für ein neues Weltbild, wenn ihnen der Nachweis gelingt, dass die Qualia ausschließlich auf neuronale Vorgänge rückführbar sind. Aber daran glaube ich nicht, dass das machbar ist. Es wird eine zwar empirisch sehr gut untermauerte aber doch Theorie bleiben, dafür wird ihre Heiligkeit, die Emergenz, schon sorgen.
Aber bereits die Annahme als Hypothese führt zu sehr merkwürdigen Diskussionen, wie die um den freien Willen. Abgesehen von dem damit verbundenen Kategorienfehler wird heute die Möglichkeit bereits als Tatsache diskutiert. Das vermischt sich auf interessante Weise mit der Diskussion über die KI, die seit 40 Jahren mit jeweils einem Zeithorizont von »in spätestens 20 Jahren« angekündigt wird.
Welche Bedeutung hat die Konstituierung eines neuen Weltbildes für die Menschen, die das Detailwissen der Spezialisten zwar vermittelt bekommen, dessen Relevanz für ihr eigentliches Leben aber weiterhin keinerlei Bedeutung hat? Wenn ich mal im Positiven davon ausgehe, dass Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht zum Missbrauch führten (Einschränkung der Persönlichkeitsrechte etc.), dann ergänzten sie doch lediglich das Verständnis von biologischen Funktionsweisen und, zugegebenermaßen, das Verständnis um ihre Auswirkungen auf unser soziales Verhalten.
Würde ich mich aber deswegen anders verhalten? (Das Parfum, dass wir heute benutzen enthält Stoffe die anmachen, dass wusste man schon vorher. Fernsehen ist schlecht für Kinder – so what?) Enstehen andere soziale Bedingungen? Bleibt der Mensch nicht weiterhin stärker in seinen Traditionen verhaftet und den Fragestellungen in Zusammenhang mit seiner Existenz? Die Behauptung der Neurowissenschaft, wie auch anderer hoch spezialisierter Wissensbereiche, das Leben zu erklären, erlöst den Menschen doch nicht von den klassischen Sinnfragen. Das sind die Räume, die von der Philosophie, der Psychologie, den Religionen, der Literatur, der Kunst zu füllen sind (je nach Geschmack und Bedarf). Ich hoffe, das war nicht am Thema vorbei.
Danke für den spannenden Beitrag. Ach so: Der Gottesbeweis zeigt lediglich auf, welche Notwendigkeit derjenige hat, der die Beweisführung versucht. Das ist nicht abfällig gemeint.Ich lese da etwas über die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit über sich selbst hinaus. Das klassische Motiv des: Was kommt nach mir durch mich. Es ist die Frage nach dem Leben nach dem Tode, die den 80-jährigen Speamann beschäftigt. Das ist nicht unlauter und wenn ich richtig verstanden haben, eher ein Versuch, denn ein Postulat.
@Köppnick
Tja, wenn und ausschliesslich...
Die Gemeinsamkeit zwischen dem (verkrampften?) Gottesbeweis und dem Versuch, die Welt ausschliesslich biologistisch erklären zu wollen, liegt m. E. darin, dass beide das voraussetzen, was sie vorgeben erklären zu wollen. Die Frage ist allerdings, inwieweit dies nicht immanent ist.
@nerone
Veränderung unseres Weltbilds: Nimm als Beispiel die Diskussion um den freien Willen. Gesetzt den Fall, es gelingt der Nachweis, dass alle Vorgänge im Gehirn so wie im Computer ablaufen. Streng determiniert, aus dem Input kann man den Output errechnen, die Reaktionen des und im Organismus sind alle vorhersagbar. Gibt es keinen freien Willen, dann bricht unser Rechtsverständnis (und Justizsystem) zusammen. Wenn der Einzelne in einer bestimmten Situation keine freie Wahl zwischen mehreren Handlungsalternativen hat, kann man ihm seine Tat nicht vorwerfen.
Man kann jetzt mehrere Diskussionslinien aufbauen, die an dieses Problem vollkommen unterschiedlich herangehen:
a) Religiös: Es stimmt nicht, dass alles naturwissenschaftlich determiniert ist, „da draußen“ ist noch mehr. Meiner Meinung nach löst aber diese Argumentation das Problem in unserem Fall nicht, denn wer entscheidet denn nun? Wenn Gott die böse Tat verursacht, kann der Betreffende ebenfalls nicht verurteilt werden, es war ja quasi göttlicher Befehl. Wenn Gott aber wieder Freiheitsgrade für den Einzelnen einführt, wie äußern sie sich naturwissenschaftlich?
b) Quantentheoretisch: Auf der untersten Ebene der uns bekannten Naturbeschreibung gibt es den echten Zufall. Dieser soll dann verschiedene mögliche Entscheidungen kausal verursachen. Auch das eine absurde Situation, weil reiner Zufall ja das Gegenteil einer freien und bewussten Entscheidung ist.
c) Emergenz: Es ist unerheblich, wie gut und genau die Beschreibung auf neuronaler Ebene wird, sie kann niemals erschöpfend sein in dem Sinn, dass alle höheren Ebenen auf sie rückführbar sind. Es gibt immer Erklärungslücken. Mathematisch-physikalisch einfach dadurch, dass die Zahl der Neuronen und die Zahl der Verknüpfungen und möglichen Interaktionen zu groß für eine vollständige Modellierbarkeit ist. Und zwar nicht bloß praktisch, sondern auch theoretisch. Gleiches gilt übrigens auch für die Beziehung zwischen den Quanten und den Neuronen. Auch hier gibt es eine Lücke, was in meinen Augen auch den quantentheoretischen Ansatz auf dieselbe Stufe wie den religiösen stellt. Er klärt nichts auf.
Ergo: Die Neurowissenschaftler glauben, sie würden unser Weltbild verändern, wenn ihnen die vollständige Reduktion auf das Spiel der Neuronen gelingt. Das können sie ruhig glauben, aber sie werden es nicht schaffen – weil es theoretisch gar nicht möglich ist.
Es ist also nicht mein Argument, dass die Neurowissenschaft ALLES auf den Kopf stellt. Aber es ist zweifellos eine der drei großen Wissenschaften des 21. Jahrhunderts: Physik/Kosmologie, Biologie/Genetik, Neurowissenschaften/Philosophie/Religion. Alle drei bestimmen unser Weltbild.
Das Justizbeispiel ist erschreckend einleuchtend, impliziert es doch die Auflösung der tradierten ethischen und moralischen Implikationen. Metzinger äußert ja die Befürchtungen deutlich, wenn er von »vulgärem Materialismus« spricht, oder einem »primitiven Hedonismus«, der in die Entsolidarisierung führt. Seine nicht ganz überzeugende Antwort auf diese Möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen wäre dann der »evolutive Humanismus«, wasimmerdasist.
Den Weg in dieses neue Weltbild sehe ich jedoch noch dunkler vor uns liegen, als das Ziel. Die Gefahr, die Metzinger in dem Fundamentlismus sieht, die sehe ich auch. Die Gefahr, dass charismatische Wertegemeinschaften größere Attraktivität haben, als die wissenschaftlich begründeten kann für Gesellschaften verheerende Folgen haben. Wenn Metzinger weiter konstatiert, er gebe Amerika verloren, dann ist das auch eine Folge des »blinden Wissenschaftsglaubens« (Keuschnig). Ich befürchte eine Welt multipler Wahrheiten, die sich nicht mehr einig wird. Business as usal also, aber unter verschärften Vorzeichen.
Das waren jetzt die Schreckgespenster. Ansonsten kann ich Ihren Ausführungen bestens Folgen, Köppnick, bis hin zu Ihrer Schlussfolgerung. Vielen Dank.
@Köppnick
In dem verlinkten Interview der SZ wird noch »d)« aufgemacht (Arbeitstitel: Sozialer Druck).
Wuketits sagt da:
Die Existenz eines freien Willens ist jedoch keine notwendige Voraussetzung für moralisch richtiges Handeln. Wir haben ja beispielsweise auch soziale Zwänge zu berücksichtigen. Nicht Moral, sondern das Bedürfnis, in meiner Gesellschaft nicht zum Außenseiter zu werden, bringt mich dazu, meine Versprechen einlösen.
Und weiter:
Stellen wir uns einen Mann vor, der eine Frau vergewaltigt und tötet und dann sagt: „Tut mir Leid, ich konnte nicht anders, weil ich keinen freien Willen habe. Meine Hormone, Gene, Neurone haben mich dazu gezwungen“. Dann könnten wir antworten: „Das sehen wir schon ein. Aber Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass andere Menschen nicht vergewaltigt und getötet werden wollen. Deshalb müssen wir Sie aus dem Verkehr ziehen.“
Dieses ganze archaische Konzept von Schuld und Sühne brauchen wir nicht zu bemühen. Wenn jemand dazu neigt, andere physisch oder psychisch zu schädigen, dann hat die Gesellschaft das Recht, ihn daran zu hindern. Was das im Einzelnen bedeutet, muss man diskutieren. Ich denke aber, dass das klassische Schema der Bestrafung, der Rache obsolet geworden ist.
Zwar wird dann noch die Frage nach der Resozialisierungsfähigkeit gestellt, aber »spannender« wäre es sicherlich, wer bestimmt, wann jemand »auf dem Verkehr gezogen« wird.
Sacrifizio dell’intelletto
Herrlich! Die katholische Kirche marschiert einem neuen Sacrifizio dell’intelletto entgegen. Du arbeitest sehr klar heraus, was hier funktioniert, nämlich gar nichts mehr (abgesehen davon, daß der Herr wohl einen Kampf gegen Windmühlen führt, wie viele katholische Intellektuelle, und zwar gegen Windmühlen des 19. Jahrhunderts, die »Versuchung« für die Theologie des 21. Jahrhunderts und die fehlenden Antworten auf brennende Fragen liegen eher in der Psychologie und Hirnphysiologie begründet als in der Philosophie des deutschen Idealismus.)
Mein Hauptproblem liegt immer in Sprüngen auf die dogmatische oder pastorale Ebene, die sich die Theologen leisten. Bis dahin ist alles gut, aber Sätze wie: »Wir müssen ein Bewusstsein denken, in dem alles, was geschieht, aufgehoben ist, ein absolutes Bewusstsein« sind für mich stets erstaunlich. Wir müssen? Weshalb müssen wir? Damit sich der Zirkelschluß in seiner Argumentation vollendet? Damit die römisch-katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, nicht ins Leere läuft? Müssen wir? Das einzige, was wir müssen, ist – na, ich schenk’s mir. Spolche Sprünge sind m.E. awissenschaftlich und albern. Camus geißelt sie als Auswitschen vor dem offensichtlich Absurden in die Metaphysik, sie seien der finale Rettungsversuch, etwas Unrettbares zu retten, und zwar mit reiner Irrationalität. Da feiert für mich der Satz »credo quia absurdum« fröhliche Urständ. Et ergo: Amen.
@Gregor
Meiner Meinung nach macht Wuketits denselben Fehler wie schon Libet. Dieser hatte festgestellt, dass jeder bewussten Handlung unbewusste neuronale Aktivität vorangeht. Man kann also durch die Messung von Gehirnströmen bereits vorher wissen, dass ein Mensch gleich eine bestimmte Handlung ausführen wird. Aber was sagt das über den freien Willen aus? Nichts! Es ist ein simpler Fall von Kausalität: Wenn das Auto fahren soll, muss der Motor laufen und ein Gang eingelegt werden. Das Auto wird niemals fahren, wenn kein Gang drin ist. Ein Muskel kann sich nicht bewegen, wenn er nicht zuvor elektrisch dazu aufgefordert wurde.
Man kann sich ja überlegen, was die Alternative wäre: Das Ich / Selbst / Gehirn trifft eine Entscheidung, ohne dass es neuronale Aktivität gibt. Ja wie soll das denn gehen, wer soll dann an unseren Strippen ziehen? Es steckt hinter all diesen scheinbaren Problemen immer derselbe Kategorienfehler: Selbstverständlich ist jeder Gedanke, jede Entscheidung, jede Empfindung mit neuronaler Aktivität verbunden, und selbstverständlich beginnt diese Aktivität BEVOR es uns bewusst wird.
Aber diese neuronale Beschreibung sagt aber über die phänomenale Ebene nichts Neues aus. Ein Problem haben damit nur alle, die denken, man könne die Ebene der Gedanken und Empfindungen auf die neuronale Ebene reduzieren. Es ist eine Frage an unser Verständnis von „Wirklichkeit“ in unserer Welt. Wenn wir in ihr Gedanken und Gefühle haben, uns als frei handelnde Wesen empfinden, dann ist das genauso wirklich wie die Erkenntnisse, die ausgefeilte wissenschaftliche Experimente bringen. BEIDES ist in unserem Kopf gleichzeitig präsent. Und jede Theorie muss sich hier daran messen lassen, beides zugleich wirklich sein zu lassen. Vermag sie das nicht, ist der Denkansatz einfach falsch.
@Köppnick – Kleine Ergänzung
zur Diskussion: »Alles so schön bunt hier« von Ludger Tebartz van Elst.
Über die Relativierungsnotwendigkeit der uns als revolutionär verkauften »Erkenntnisse«.
@Gregor
Ich habe heute über die Suche nach Stefan Schleim auch noch einen interessanten Link gefunden: ICH oder mein Gehirn? Die Farbwahl finde ich zwar grauenvoll, aber der Grundgedanke, den ich aus dem Text extrahiert habe, scheint sehr interessant: Inwieweit kann man überhaupt einen »freien Willen« finden, wenn man sich auf ein einzelnes Individuum konzentriert? Konstituiert sich das Ich nicht gerade durch die fortwährende Interaktion mit der gesamten Umwelt?
Den Autor Jürgen Albrecht findet man im Netz (neben einem offensichtlich künstlerisch begabten Namensvettern) auch hier: Globale Aufklärung – Globale Chance.
@Köppnick – Links
Danke für die Links (trotz der Farbwahl; im Druckmodus ist’s besser).
In »ICH oder mein Gehirn« werden letztlich die beiden antipodischen Positionen des Christen auf der einen Seite und des Neurowissenschaftlers auf der anderen Seite gegenübergestellt. Dann wird ein Kompromiss formuliert, der (zunächst) ein bisschen freien Willen herausarbeitet, aber auch nur innerhalb der jeweiligen Art (die merkwürdigerweise »Schicht« genannt wird).
Ich habe mich nach der Lektüre gefragt, was ein aufgeklärter Agnostiker machen soll. Also jemand, der sich in beiden Extrempositionen nicht wohl fühlt, aber – bedingt durch Sozialisation oder auch schlichtweg Dummheit – eher der These des christlichen Weltbildes zustimmt, aber eben ohne den religiösen Überbau (was ja nach Kant streng genommen nicht möglich ist).
Dass das Gehirn »autonome Entscheidungen« trifft, müsste man genauer definieren. Mir scheint die Annahme, dass »unterbewusste« Aktionen des Gehirns mit einer Autonomie beschrieben werden, reichlich kühn.
Seine Thesen zum freien Willen sind ein bisschen ungelenk und werfen neue Fragen auf: Wenn jede Schicht (Art) sozusagen immanent betrachtet werden muss, kann es keine Quantifizierungen untereinander geben, d. h. Menschen und Tiere sind nicht miteinander vergleichbar. Insofern ist die Aussage, dass Menschen mehr Freiheitsgrade in seinem arttypischen Verhalten, als Tiere haben, nicht nur unsinnig, sondern gar nicht zu treffen. Später nivelliert er diese Aussage noch, und spricht von keinem absoluten freien Willen. Diese These steht dann übrigens im Widerspruch zu dem anderen von Dir verlinkten Beitrag, in dem er (arg blauäugig) die UNO in der Pflicht sieht, eine neue Epoche der Aufklärung durchzuführen. So etwas ist aber mit der Unterstellung einer »Schwarm-Intelligenz« m. E. nicht schaffbar.
Die beim Menschen mehr zur Verfügung stehenden Freiheitsgrade können mit folgender Analogie verstanden werden: Ein klügerer Mensch kann dümmere Antworten geben und folglich dümmer wirken, ein dümmerer aber kann keine klügeren Antworten geben, da es ihm hierfür schlicht an Intelligenz mangelt. Der Klügere hat also mehr Freiheitsgrade, weil er sowohl klug als auch dumm erscheinen kann.
Auch für den »aufgeklärten Agnostiker« sehe ich eine Möglichkeit: Solange die Neurowissenschaft (oder die sich damit beschäftigende Philosophie) das phänomenale Empfinden (also die Qualia) nicht auf der Grundlage neuronaler Vorgänge kausal erklären können, haben wir die »Erklärungslücke«. Das lässt den Raum für den Emergentialismus, der sowohl atheistisch als auch theistisch interpretiert werden kann: »Auf höherer Systemebene treten Eigenschaften hervor, die nicht auf die Eigenschaften einer niederen Systemebene rückführbar sind.«
Denn der jetzige Erklärungsstand der Neurowissenschaften ist ja nur ein Glauben. Nämlich der Glauben, dass neuronale Vorgänge phänomenale Erlebnisse kausal verursachen. Bewiesen aber ist lediglich Korrelation, d.h. das zeitgleiche Auftreten von neuronalen Vorgängen mit den Erlebnissen in der Ich-Perspektive. Der geringe Zeitversatz gibt ebenfalls nichts her, denn gäbe es diesen nicht, wäre der atheistische Ansatz bereits gescheitert.
@Köppnick – Man »landet« bei Kant
Ich fürchte, die »Freiheitsgrade« können nicht nach Intelligenz und/oder Dummheit definiert werden. Es beginnt ja schon damit, dass nicht eindeutig definierbar ist, was dumm und was schlau ist. Kaum ein Mensch ist durchgehend blöd und vollkommen klug. Es gibt aus der Zeit des NS-Regimes genügend Beispiele, in dem vermeintlich kluge Köpfe der Ideologie der Nazis folgten – und scheinbar »dümmere« Menschen widerständlerisch tätig waren (teilweise mit fatalen Folgen für sie).
Beiden Gruppen (ich lasse jetzt die weitaus grösste Gruppe der »Mitläufer« weg) standen immer auch Handlungsalternativen zur Verfügung. Niemand hat Leni Riefenstahl zu ihren Monumentalfilmen gezwungen. Und Georg Elser hatte jederzeit die Möglichkeit, den Sprengsatz nicht zu verstecken.
Im Wikipedia-Artikel über den freien Willen wird eine schöne Zusammenfassung des Denkens von Kant in diesem Zusammenhang gegeben: Man sei durch die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes als obersten praktischen Gesetzes für vernünftige Wesen gezwungen, einzusehen, dass man dem Willen eine Freiheit von der Naturkausalität beimessen müsse. Denn die Kausalität des Willens selbst sei als eine Kausalität aus Freiheit zu denken.
Die Freiheit von der Naturkausalität liegt in der Möglichkeit des »vernunftbegabten Wesen« Handlungen zu beginnen oder zu unterlassen. (Damit ist natürlich nicht gemeint, dass man plötzlich fliegen kann oder einen Baum mit blossen Händen entwurzeln.)
Kant kommt aus einer Art Dreiklang nicht heraus: Freiheit -> Willen -> Vernunft bzw. Freiheit -> Willen <-> Vernunft -> Freiheit, usw.
Zu deinem zweiten Punkt: Dass die Neurowissenschaften letztlich nur ein Glaube sind, ist eine interessante Aussage, die ich von Dir so nicht erwartet hätte. Spaemann (um den Bogen zu dem Buch zu werfen) geht sogar noch weiter und hält letztlich alle Naturwissenschaften für »Täuschungen der Moderne« (er schiebt hier Wittgenstein als Zitatgeber vor; aber ich habe das aber nicht gefunden [was nichts heissen muss]. Irgendwo anders spricht er gar vom Aberglauben. Das ist natürlich übertrieben polemisch formuliert. Aber letztlich landen wir wieder bei Kant, der sinngemäss meinte, alle Wahrnehmungen seien sozusagen nur durch unseren Sinnesapparat »gefiltert«. So etwas wie ein »Ding an sich« gibt es nicht bzw. es zeigt sich uns nicht. Insofern stellen natürlich die jeweiligen Kenntnisse der Naturwissenschaften immer nur den aktuellen Stand dar. Da kann der Theologe dann wieder triumphieren.
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