Das ist im Wesentlichen der Inhalt dieses »Lumpenromans«. Wenn dies ein bisschen dürftig erscheint – es ist dürftig. Es ist nicht nur ein dürftiger Inhalt, es ist auch dürftig erzählt. Bianca hält sich selber nicht für intelligent (sie füllt einmal einen Fragebogen einer Frauenzeitschrift aus und erklärt dies dort), was im Erzählton gespiegelt wird. Sie bemerkt, dass sich in Europa oder Italien ökonomisch etwas ändert, weiss aber nicht was. Aber später kennt sie die Worte »Amnesie« und »Lobotomie« und verwendet sie richtig.
Es sind viele solcher Widersprüche in diesem kleinen Buch. Der Bruder ist minderjährig, bekommt aber offensichtlich problemlos Pornofilme. Bianca schaut nur Quiz-Shows, bis sie sich auch alle möglichen Filme besorgt, sich dann jedoch eher für die Hüllen interessiert als sie anzuschauen. Ihre Jungfräulichkeit verliert sie wie nebenbei. Immer kündigt Bianca ihr Hineinrutschen ins Kriminelle an, aber außer, das es einen Plan gibt, erfährt man nichts. Bianca zeigt eine wache Trägheit, ist tendenziell aber eher passiv. Diagnosen des Lesers wie Depression oder psychische Störung greifen nicht. Man gibt dieses Suchen nach Erklärungen schnell auf und lässt sich von der Gleichgültigkeit der Erzählfigur anstecken.
Es wäre ein Fehler, die Unstimmigkeiten als Fehler des Autors zu werten. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wie schon im ausufernden Roman »2666« betreibt Roberto Bolaño ein ausgiebiges, bisweilen hinterlistiges Suchspiel mit Verweisen, Rückbezügen und Motiven aus Literatur, Theater und Film, die unter der eher trägen Erzählsprache der minderbemittelten Bianca erst entdeckt werden sollen. So ist der »Lumpenroman« eine Art Referenz-Memory. Ein ideales Buch für eine Party literaturbegeisterter Philologen, die stundenlang Parallelen und Fortschreibungen berühmter (oder weniger berühmter) Werke herausdestillieren mögen. Fast fühlt man sich manchmal an eine Spielshow erinnert, bei der man auf den Buzzer drücken soll, wenn man wieder eine Allegorie entdeckt hat, die an Fellini, Pasolini, Kafka, Beckett, Brecht, Thomas Bernhard oder sonst wem erinnert. Diese »Literatur-Literatur« ist in der kleinen Form dieses Buches noch stärker präsent als im Monumentalwerk »2666«, in dem es immerhin dieses verstörend-wuchtige Kapitel der Frauenmorde gab.
Es war vorhersehbar, dass »Lumpenroman« mit großer Anteilnahme bedacht wird, da die Bedürfnisse der zeitgenössischen Literaturkritik perfekt erfüllt werden. Hinzu kommt das persönliche Schicksal des Autors, welches eine ideale Projektionsfläche bildet. Man kann sich so herrlich-wortgewaltig einem Lob hingeben (und nebenbei dem »normalen« Leser damit seine Unbildung vorführen). Jede Nuance wird aufgepeppt, weil sie im Kontext mit Höherem verortet wird. Nichts steht für sich, alles ist Symbol, Metapher, Bild. Das Buch ist der Prototyp des postmodernen Romans. Nicht die Erzählung mit ihrer ziemlich bescheidenen Sprache wird da gelobt, sondern ihre Deutung. So kommt man zu einem Urteil wie Adam Soboczynski, der hier »schlechterdings alles Essentielle der vergangenen Jahrtausende« verwoben sieht. Und Christopher Schmidt macht »dunkel leuchtende, phosphoreszierende Poesie« aus. Das ist jetzt nicht etwa Loriots heile Welt, sondern die »Zeit« bzw. die »Süddeutsche Zeitung«.
Was bleibt ist das herrliche Motto von Antonin Artaud, welches dem Roman vorangestellt ist: »Alles Geschriebene ist Schweinerei […] Das ganze Literatenvolk ist schweinisch, und besonders dasjenige dieser Zeit«. Die Schweinerei hätte ich gerne gelesen. Stattdessen wird mir ein ziemlich kleines Ferkelchen als Sau verkauft.
Ergänzung? Gegenrede! Und hier die Antwort von Thomas Hummitzsch auf diese, meine Sicht: »Die Vermessung der menschlichen Abgründe«.
Verschwendet
Vielen Dank, wieder einmal, für die klaren Worte.
Fast sind die vielen Worte an eine Belanglosigkeit, an etwas Aufgeblasenes verschwendet; ich hatte mich einfach nur gelangweilt.
2666 dagegen mag ich nicht so kritisch sehen, immerhin gibt es dort mehrere wirklich interessante, vielschichtige Figuren und soghaft wirkende Handlungsstränge.
Ich hatte Ihre Kritik nach meiner Lektüre gelesen. Dadurch bin ich auf die Lobeshymnen bei Zeit und SZ aufmerksam geworden. Natürlich ist »2666« ein ungleich besseres, vielschichtigeres Buch. Das Frauenmordkapitel ist ja wirklich sehr suggestiv. Die Archimboldi-Erzählung dann jedoch vollkommen missglückt. Aber vielleicht sehe/sah ich es ja wirklich zu kritisch.
2666
Alleine die Figuren, die Charaktere in 2666! Amalfiltano, Fate – das ist doch »Fleisch« (im Gegensatz zu den meist dürftigen Knochen in seinen anderen Werken). Und das Verbrechens-Kapitel ist nicht nur gelungen suggestiv, auch strotzt es vor interessantem, widersprüchlichem Personal, dass es eine Freude ist, zu lesen..
Beim Archimboldi-Kapitel habe ich dann viel überblättert...
ich war von der lektüre auch enttäuscht – stern in der ferne hat mir sehr viel besser gefallen. vom schönen einband, dem guten papier und grünem schnitt habe ich mich dies mal leimen lassen.
beim lesen habe ich oft darüber nachgedacht, warum ich quentin tarrantinos spätere filme nicht mehr mag. an die fühlte ich mich im lumpenroman erinnert.
auf das dritte reich bin ich sehr gespannt.
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