Wenn man erklärt, dass man sich die Lesungen und Diskussionen zum Bachmannpreis anschaut, kommt immer mehr die mitleidige Frage: »Warum?« Sie impliziert zweierlei: Zum einen glaubt man nicht mehr an die Kraft der Literatur im Zeichen des Fernsehens. Und zum anderen wird damit auch gleich in einer Mischung aus Mitleid und Empörung die jeweilige Auswahl der Lesenden erledigt. Nein, die Lesenden im Bachmannpreis repräsentieren natürlich nicht »die deutschsprachige Literatur« wie es dann mal apodiktisch, mal vorwurfsvoll heißt. Nachträglich muss man dieses Dementi gerade für den »Jahrgang 2016« zur Hand haben: Nein, das, was heuer in Klagenfurt gelesen wurde ist kein repräsentativer Querschnitt der deutschsprachigen Literatur. Da mag der Moderator noch so Animateursqualitäten offenbart haben (was zuweilen peinlich war). (Über das peinliche Sandkastenarrangement »draußen«, bei Zita Bereuter, schweigt man besser.)
Aber es ist womöglich ein Querschnitt der inzwischen inflationären Stadtschreiber- und Schreibschulprosaisten, die sich von ihren Notebooks erheben und das replizieren, was sie gelernt haben, wofür sie ausgezeichnet wurden und was sie nun mit einem seltsam stoischen Selbstbewusstsein als preiswürdig reklamieren.
Schon sehe ich das Augenrollen. Wer nur einen Halbsatz etwas Negatives zu Schreibschulen oder Literaturinstituten sagt, betreibt »Bashing«, wie es dann in diversen Tweets heißt. Kritikfähigkeit ist keine Stärke dieser Generation, die sich ihre Ereignisse beim Essen in Möbelhäusern, in Schwimmbädern oder in Seminarräumen herbeischreiben muss. Stefanie Sargnagels Tweet »Alle die was negatives über mich schreiben sind blöd« finden 91 Menschen toll. So kommt man in die Medien; da ist der Text fast zweitrangig.
Früher nannte man solche selbststilisierenden Pseudo-Erlebnistexte, die von nichts anderem handeln als von sich selber »Befindlichkeitsprosa« und es ist ein Paradox, dass einmal in einer Jurydiskussion dieser Begriff tatsächlich fiel, allerdings beim Text von Isabelle Lehn, der das genaue Gegenteil davon war.
Überhaupt die Jury. Bereits beim Text von Stefanie Sargnagel griff man sofort in die große Kiste. Hubert Winkels sprach vom Gral, den die Autorin gesucht und gefunden habe und Faust könne einpacken, postulierte Sandra Kegel. Später wurde Goethe dann noch einmal bemüht; beim misslungenen Beduinen-Text von Jan Snela, den Meike Feßmann allen Ernstes mit dem »West-Östlichen Divan« verglich. Kafka gab es wie immer doppelt und dreifach (wenn man nichts mehr versteht, ist’s Kafka, so Kastberger sinngemäss). Jeder Schweizer der liest, wird mindestens für einen kleinen Augenblick transformiert zu Robert Walser (Dieter Zwicky). Hildegard E. Keller befand, dass Sascha Machts saft- wie kraftlose Prosa einer Weltuntergangs-Dystopie an den »Magischen Realismus« erinnere. Da ist man schockiert und fragt sich, ob Frau Keller jemals eine Zeile Borges oder mindestens Garcia Márquez gelesen hat.
Am Abend vor den Lesungen erklärte Burkhard Spinnen, inzwischen so etwas wie ein Maskottchen des Bachmannpreises, wie er sich diesen Wettbewerb vorstellt und wie er ihn viele Jahre lang gehandhabt hat. Über 200 Texte habe er gelesen und gelitten dabei, weil er ja nur zwei Startplätze habe vergeben können. Man glaubt es Spinnen sofort, was er sagt, aber zur Wahrheit gehört auch, dass einige Juroren sich dieser Qual kaum mehr unterziehen. Sie beauftragen ihnen bekannte AutorInnen, einen Text zu schreiben. Man wird also immer mehr ernannt, einen Bachmannpreis-Text zu schreiben. Schließlich sitzen viele der Juroren auch noch in Buchpreis- und anderen Jurys (neben ihrem Rezensenten- oder Wissenschafts-Dasein). Sie haben schlicht keine Zeit, 200 oder mehr Texte auch nur anzulesen. Das war bei Spinnen etwas anderes – er war (und ist) Autor und konnte sich in die Lage der Einsendenden hineinversetzen. Spinnen war der letzte seiner Zunft. Sicher, seine Anekdoten nervten gelegentlich. Aber seit 2014 20151 gibt es keinen Autor mehr in der Jury.
Dabei sind die matten Texte nahezu alle »gut gemacht«, »fein gearbeitet« und/oder »interessant«. Euphemismen für auf Konsumierbarkeit dressierte Textkonstruktionen. »Habe ich gern gelesen« sagt Frau Westermann im »Literarischen Quartett« des ZDF. So tief gesunken ist man in Klagenfurt (noch) nicht. Wenn in Klagenfurt der Plot in einer Geschichte knirschen sollte, schreibt man »Romanauszug« drüber und verspricht, dass sich alle Fragen im Nirwana der aktuell unerreichbaren Fortsetzung klären. Juri Steiner, der den unseligen Text von Astrid Sozio vorgestellt hatte, sprach am Samstag auch von 200 Einsendungen, die er abgearbeitet hatte. Wenn dann solch ein Text einer der besseren war, befürchtet man das Schlimmste für die deutschsprachige Literatur. Und irgendwann beginnt man den Erfolg von Erwachsenen-Malbüchern zu begreifen.
Die größte Provokation für die Bastelschreiber war dann auch der Vortrag des israelischen Autors Tomer Gardi, der mit einem Text in Oral-history-Deutsch mit falscher Grammatik die Jury vor Probleme stellte. Einerseits wollte man natürlich ganz korrekt keinesfalls auf den ersten Blick zum Teil diese amüsanten Wortkonstruktionen über Gebühr kritisieren, andererseits deutete man schon an, hier einem Manierismus ein wenig auf den Leim zu gehen. Listig stichelte Klaus Kastberger, der Gardi vorgeschlagen hatte, gegen die Jury, die sich nicht traute, die Dimensionen dieses Textes zu erörtern, weil sie sich unsicher über die Kriterien waren, die man hierzu hätte anlegen müssen. Die Ratlosigkeit überraschte dahingehend, dass den Juroren die Texte Wochen im Voraus vorliegen; eine gewisse Vorbereitung wäre möglich gewesen. Hubert Winkels gestand allerdings, dass er den Text erst ein Mal gelesen hatte und nicht weitergekommen sei – um dann praktisch aus dem Stand (und mit dem akustischen Eindruck des Vortrags) eine Interpretationsvorlage zu liefern. Leider führte die Jury dies nicht weiter, weil man zu sehr bemüht war, Parallelen zu Gardi zu finden, statt sich mit ihm und seinem Text zu beschäftigen.
Und sonst? Es ist ja wirklich hübsch, wenn jemand einen Hasen neben sich imaginiert (Selim Özdogan). Das gab es allerdings schon in den 1940er Jahren und wurde mehrmals verfilmt. Neu ist es, kurz die Perspektive eines rebellischen Frühstückseis einzunehmen (Sharon Dodua Otoo). Da dachte jeder sofort an Loriot; der gewollte Affekt funktioniert. Ich mochte auch den Mann in Ada Dorians Prosa, der einen Wald in seiner Wohnung hegt und hätte so gerne gehabt, dass sie dabei geblieben wäre. Und Sylvie Schenks autobiografische Erzählung könnte wirklich packend sein. Aber man fragt sich, warum ausgerechnet sie, die alles Recht hätte in ihrem Text »Ich« zu sagen die Erzählposition des »Du« wählt. Und warum man ihr die ein oder andere Betulichkeit nicht herausgestrichen wurden? Schenk ist 72, hat ein Leben vorzuweisen das sich jenseits gelangweilter Kolumenschreibereien bewegt – und verschenkt (kein Wortspiel) dieses Reservoir.
Anderes verpuffte recht schnell, wie etwa die Innenansichten eines fremdenfeindlichen Ex-Zimmermädchens, die dann doch noch irgendwie geläutert daherkommen sollte. Wobei man sich fragte, ob der Juror nicht auch eine Fürsorgepflicht der Autorin gegenüber gehabt hätte. Marko Dinićs Kindheits- und Adoleszenz-Geschichte aus Serbien wie auch Bastian Schneiders Miniaturen, die einfach nicht in den Klagenfurt-Kontext passten. (Dinić und Schneider sind die einzigen vom 2016-Jahrgang, deren »Aktien« [Kastberger] ich kaufen würde.)
Am Publikumspreis brauche ich mich nicht zu beteiligen, da einige »Teams« die Sache unter sich ausmachen werden. Und auch der Ausgang des Wettbewerbs 2016, also die Preisvergabe, ist mir nach mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal auf eine schmerzhafte Art gleichgültig. Keine Ahnung, woran das liegt.
Dank an einen Leser, der diesen, meinen Fehler fand ↩
Ich habe nicht alles gelesen, nicht alle Jury-Gespräche verfolgt. »Überhaupt die Jury« trifft jedoch für mein Gefühl den Punkt, wo ich Weh verspüre und das Grübeln beginnt. Die Debattierer kamen mir von Text zu Text mehr vor wie Bürger vor modernen Bildern: »Was ist denn da auf den Bildern zu sehen? Was bedeutet da der rote Strich?« Sie quälten sich so mit dem Erkennen. Mit dem Hinein- und Herauslesen, was wohl gemeint sein könnte. Ohne sich zu beschäftigen mit dem, wodurch die Texte erst preiswürdig werden könnten, nämlich Sprache, Konstruktion, Detail. Auf diese Weise tendiert der Preis bei allen »Stakeholdern« (Autoren, Publikum, Jury, Verlage) immer mehr zum literarischen Preisvergabeverfahren, das nicht unbedingt Literatur benötigt. In einigen Fällen schien es eher um ein Lifestyle-Angebot zu gehen. Warum Sprache und Literatur reflektieren, wenn »modern« sein genügt? Ich weiß gar nicht, ob irgendeiner in der Jury noch wirklich ein Ohr für Literatur hat? Zumindest einer der Jungpflanzen war ein deutlich unbegabter Dilettant (ich nenne hier mal keine Namen), der noch kaum den Griffel halten kann und gar nichts übers Schreiben weiß. Andere schrieben nicht schlecht, aber auch längst nicht gut und kaum je schön, fesselnd, begeisternd, hinreißend. Einige waren für meinen Geschmack sprachlich richtig gut, da schien mir aber teilweise die Konstruktion wieder so amateurhaft. Das alles blieb aber völlig unbesprochen. Ich würde vermuten, dass in den nächsten Jahren die Lyfestyle-Prosa weiter zulegen wird und dass diejenigen GewinnerInnen sein werden, die der Jury zwar nicht unbedingt was Schönes und Gutgeschriebenes vorlegen, aber die besten Vorlagen für das zeitgenössische Interpretationshandwerk liefern. Nach dem Motto: Das Buch ist gut, denn es handelt von ... ;))
Natürlich muss eine Jury versuchen, einen Text zu öffnen, ihm eine gewisse Interpretation angedeihen lassen. Dafür ist sie da. Dazu gehört dann auch das gelegentliche Kommazählen; warum nicht. Dennoch halte ich Ihren Befund für in weiten Teilen richtig. Das Literarische wird entweder in Superlativen verpackt (Kafka! Goethe! Gral!) oder überhaupt nicht hinreichend analysiert. Wer das manchmal getan hat, ist Winkels. Und wer dann ein bisschen auf die Superlativ-Bremse gedrückt hat, war Kastberger.
Die Superlative erkläre mich dahingehend, dass man in der Jury versucht ein nicht so literarisch bewandertes Publikum anzusprechen. Daher vergleicht man mit den ganz Großen, die jeder mindestens schon mal namentlich gehört hat. Wer mit nicht so bekannten Schriftsteller-Referenzen aufwartet läuft Gefahr, nicht verstanden zu werden. Damit ist auch zu erklären, warum man so wenig in medias res geht: Man muss eine Form finden, die TV-kompatibel ist aber eben nicht zu trivial. Das ist nicht so einfach.
»(...) also die Preisvergabe, ist mir nach mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal auf eine schmerzhafte Art gleichgültig. Keine Ahnung, woran das liegt.«
‑naja, wie wird man abgeklärt? – U. a. indem man älter wird?
Ansonsten: Informativ, Ihr Bericht – vielen Dank!
Ich hatte anderes zu tun und konnte nicht einmal hineinschauen in die Lesungen.
Gestern hab’ ich ein nicht sehr literaturaffines Publikum u. a. mit dem Nachsommer traktiert – gab wunderbare Rektionen. Der Merkur wollte derlei (Stifter, Raabe usw.) ja unlängst entsorgen – - – wg. struktureller Überlegenheit von Henry James osä. – sensationell.
Bzw. heute morgen hätte ich die Lesungen im TV anschauen können, hab’ dann aber etwas über – öh – : Populismus und Europa verfasst – da war die Zeit um, und jede Zeit gibt es ja nur 1 X (besonders, wenn man langsam älter wird, wie ich finde).
Ja, ist es wirklich das Alter? Ich habe ein Büchlein, in dem ich nur Notizen zu den Lesungen schreibe. Das ist mehr als 20 Jahre alt. Da sind etliche Schriftsteller dabei, die inzwischen längst so etwas wie kanonisiert sind. Aber seit ein paar Jahren wird das weniger. Ist es also nicht nur das Alter sondern vielleicht auch ein wenig die Frequenz, in der hier die »Jungtalente« durch das Dorf getrieben werden?
Ich meine, es hänge tatsächlich mit dem Alter zusammen, obwohl ich leider auf so imposante Dinge wie ihr Notizbüchlein nicht zurückgreifen kann. Man hat einfach schon viel kennengelernt.
Ich wage folgende Aussage: Es ist gut, dass man mit zunehmenden Alter weniger offen ist. Um nicht zu sagen: Es ist ein Zeichen von geistiger Gesundheit.
Ein Fotografenkollege glaubich hat vor kurzem das da Einschlägige bemerkt: Er wisse zunehmend besser, was nicht funktioniert.
Das kann man noch ausmalen: Das schließt mit ein, dass die Hoffnung angesichts eines neuen Talents gleichsam informierter ist: Die ganze Angelegenheit gerät geerdeter – und deswegen auch tendentiell weniger spannend.
Allerdings füge ich hinzu: Mehr würde ich nicht sagen wollen.
Sollte ich nechstjahh noch hier rumhüpfen und Zeit finden, kuck ich wieder Bachmann. Ich kucke auch gern mit anderen zusammen.
Auch die Spinnen-Bemerkungen sind allesamt einleuchtend. Irritierend: Dass Winkels geltend macht, er könne die Texte zuvor nicht lesen? Nicht wahr, oder? Muss er sofort zurücktreten, wg. Überlastung: Das ist obereinfach.
Diese Kalamität ständig mit Goethe usw. zu hantieren – das ist denk ich eine einwandfreie Einsicht Ihrerseits.
Die Alternative, der ich einiges abgewinnen kann, ist lebensweltlich zu argumentieren: Also die sozialen Orte und Situationen beleuchten, die von einer bestimmten literarischen Leistung gleichsam erschlossen werden.
Das bringt aber die Verlegenheit mit sich, dass die Anforderungen an die LiteraturkitikerInnen dadurch nicht sinken. Aber egal. Außerdem machen sie sich angreifbarer, weil diese lebensweltlichen Bezüge diskursiv gemeinfrei sind – es winkt weder der Schutz durch den Status der Fachperson, noch kann man auf diese Art leicht Ansehen gewinnen. Aber nochmal: Leicht braucht die Sache der Literaturkritik nicht zu sein.
Literarisches Quartett: Habbich letzte Woche zehn Minuten reingeschaut, und dann tags darauf tatsächlich zwei drei Menschen getroffen, die das gesehen hatten – schnell Einigkeit erzielt: Unglaubliches Irrereden. Frau Westermann geht Ihnen offenbar am meisten auf die Nerven. Egal. Mir Biller.
Noch einen Tag später habbich dann mit einigem Behagen die Quoten inspiziert: Die Sache driftet in die Zielkurve, wenn das so weitergeht. Bisher verspüre ich 0 (in Worten : null) Bedauern deswegen. – Wollte dieser Spiegel-Mann Volker Weidermann nicht einmal die New York Review of Books auf deutsch machen – ich meine, er hätte zum Einstieg in HH sich so vernehmen lassen. Und jetzt diese Heftchen, die aus dem Spiegel gleiten.
Winkels sagte beim Gardi-Text er habe beim ersten Lesen »keinen Kopp« gehabt (ein rheinischer Ausruck, den er auch erklärte) und es danach nicht mehr versucht. Das finde ich schon recht merkwürdig. Ansonsten haben einige Juroren mit ihren Google-Resultaten geglänzt (warum auch nicht).
Wenn beim Lesen so etwas wie Routine aufkommt, muss man (= ich) vorsichtig sein. Es darf nicht routiniert werden, weil man sonst so etwas wie Offenheit verliert und hochnäsig wird. Gleichzeitig ist es wichtig, dass man die Inszenierungen auch sieht und die stören mich nun einmal sehr. Aber dann ist man in diesem Wettbewerb sicherlich falsch, denn hier werden inzwischen nach allen Regeln der Kunst die Medien eingesetzt. Und die sind ja dankbar, wenn sie das sperrige, was die Literatur an sich und in sich hat, herunterbrechen kann auf Personen und Schlagwörtern.
Die Qualität der Literatur, die Facetten und all Ihre Besonderheiten sind aufgrund der fehlenden Textnähe meistens zu unattraktiv erläutert worden – viele Texte haben für mich mehr geboten, als die Jury beschrieben hat. Über die Einschätzung der Qualität der Textauswahlen möchte ich keine Bewertung abgeben, dazu ist der Respekt zu groß, vor dem was es gibt und außen vorsteht. Insofern kann ich Ihre Meinung hervorragend teilen, würde mir aber dieses Format in einer regional Deutschen Form durchaus wünschen. Gerne auch mit höherem Preisfeld, jährlich über den Bund finanziert. Literatur kann .. aber schafft zu selten! Da muss es nicht verwundern, dass die Mehrzahl an Texten qualitative Enttäuschungen mit sich bringt. Und bei aller egomanen Abstinenz bzw. Befangenheit der Jury, ich habe ihr trotzdem gerne zugehört – meist natürlich eher amüsiert. Setzt man ein anderes Text-Auswahlsystem voraus (warum nicht mit Hilfe eines Instituts oder einer Stiftung?), muss dieses Format an Größe gewinnen, super super gerne in Deutschland und mal richtigem Preisgeld – alles vom Bund jährlich gestemmt.
So etwas fehlt uns einfach in Deutschland.
Bei mir war es häufig umgekehrt: Der Text wurde von der Jury mit einer Bedeutung aufgeladen, die bei näherer Sicht nicht gegeben war. Aber ich habe Verständnis für so etwas; man muss etwas einmal ausgesprochen haben, um es dann doch verwerfen zu können.
Der Bachmannpreis ist ja nicht zuletzt auf Initiative von Reich-Ranicki entstanden. Damit sollte die »Gruppe 47« sozusagen reanimiert werden. Vergessen wurde nicht zuletzt von Reich-Ranicki dabei, dass die ursprüngliche Intention der »Gruppe 47« ein Werkstattgespräch gewesen war. Autoren tragen ihre neuesten Schöpfungen vor und diskutieren dann mit anderen Autoren über Stil und Form. Der ominöse Preis der Gruppe 47 wurde übrigens nicht immer vergeben; es war ein spontaner Akt. Die Kritik hatte sich erst später hineingeschlichen und dominierte schließlich von Anfang der 1960er Jahre an. Aus dem Werkstattgespräch wurde eine Kritikerdiskussion; man kann nachlesen, wie sich die Autoren nach und nach aus den Diskussionen verabschiedeten. Reich-Ranicki zementierte mit der Anordnung zum Bachmannpreis dieses fast tribunalhafte. Grass hatte übrigen mit dem Döblin-Preis die »Werkstatt« wieder zurückholen wollen. Aber auch hier gab es einen Preis – von seinen Gnaden vergeben.
Warum so etwas in einer »regional Deutschen Form« nachgemacht werden soll, entzieht sich meinem Verständnis. Alles wäre nur kopiert; ein Abklatsch. Auch diese Form des Sponsoring finde ich lächerlich. Stattdessen sollte man solche Gelder lieber für Bibliotheken und deren Ausstattung nehmen.
Ach ja, Sie haben recht. Öffentlicher (!) Juror zu sein, ist eine Pein. Das geht nur mit Zugeständnissen an die Pädagogik. Ein anderes Dilemma: Die Sehnsucht von Jury und Publikum, hoffe ich, geht ja gar nicht nach dem messbar »Guten«, sondern eher nach dem Inkommensurablen, dem Eigenständigen, Sonderbaren, dem Nicht-Gehabtem. Genau zwischen diesen Polen, dem Herkömmlichen, das vergleichbar ist, und dem Neuen, das mit keinem Vergleich zu fassen ist, lauern die Abgründe, in die ein Juror fallen kann. Bei Gardi war das zu erleben. Die Jury bekam offenbar keinen Zugang, weil sie nicht wusste, ob das jetzt eine Art Kroetz-Text ist (das heißt geschrieben in einem authentischen »Unterschicht-Deutsch«, neuerdings als »Einwander-Deutsch« der modische Saisonartikel). Oder ob es moderne Literatur ist, wo das Entscheidenste in der Arbeit an der Form liegt.
Ich wundere mich über die Irritation, die der Text ausgelöst hat, trotzdem sehr. Der Text enthält so viele Signale für eine bewusste Formentscheidung (schon die plumpen Rechtschreibfehler sind das Gegenteil von authentisch im Zeitalter der automatischen Rechtschreibkontrolle), dass der Text kaum anders als ein gestaltetes Reflexionsangebot zu verstehen ist, das in my humble opinion nicht bei den vordergründigen Themen »Spracheinwanderung« oder »Kulturverschmelzung« stehen bleibt. Da lauern viele Fragen zu Sprache, Sprechen, Verständigung und Verstehen. Offenbar wurde der Text aber im gewohnten Inhaltsraster unter »Flüchtlingsproblematik« abgeheftet.
Ja, das ist es: Plötzlich gibt es keine Vergleiche mehr, es ist nichts zum Andocken da; Zaimoglu musste herhalten. Wäre der Text niemandem bekannt gewesen. hätte ich das verstehen können. Aber die Juroren haben Wochen vorher das Manuskript erhalten. Wie hätte man sich darauf vorbereiten können? Googlen ging nicht (wie bei anderen Texten – immerhin: man hat’s gemacht). Es blieb ein Unbehagen (vermutlich vor Nachahmern). Damit hat man aber den Text eindeutig unterkomplex behandelt.
Wenn man mit zunehmendem Alter weniger offen wird, was mir (zunächst) einleuchtet, dann müsste man es auch gegenüber dem schon Bekannten werden (ich denke da an Raddatz).
—–
»Das Literarische wird entweder in Superlativen verpackt (Kafka! Goethe! Gral!) oder überhaupt nicht hinreichend analysiert.« Wobei das Erste eigentlich gleichbedeutend mit dem Zweiten ist (die Superlative kaschieren doch zuallermeist).
Ah, Raddatz! Der hatte ja mehr oder weniger aus Verzweiflung der zeitgenössischen Literatur gegenüber irgendwann begonnen die Klassiker noch einmal zu lesen – und dann fielen so viele durch, was ihn ziemlich betrübte. Zum Schluss erklärte er es dann damit, dass seine »ästhetischen Kriterien...veraltet« seien. »Das Besteck des Diagnostikers rostet«, schrieb er. Hatte er nicht damit die (kanonische) Literatur wieder »gerettet« und die »Schuld« auf sich geschoben? Was bedeutet es, wenn man glaubt, dass das Kriterienbesteck obsolet geworden sein soll? Stimmt dann nichts mehr?
Die Fragen sind nicht nur für Kritiker essentiell. Auch sie kennen Schreibblockaden wie Autoren. Nur: Sie sind fast noch mehr als Schriftsteller darauf angewiesen, weiterzumachen (arbeiten in einer Redaktion, o.ä.). Manchmal glaube ich, dass die Hektik des Betriebs, das unabänderliche Weiterziehen der Karawane auch vor solchen Krisen schützt. Dass dadurch die Kritiken selber beliebiger werden, merkt man vielleicht selber kaum...
@ metepsilonema
Die Sache ist wahrscheinlich noch vertrackter wie sie hier erscheint, weil die jugendliche Offenheit strukturell mit geringerer Weltkenntnis einhergeht.
Das ist das große Gefüge, dann gibt es noch so vertrackte Dinge wie das da: Jugendliche Begeisterung, die nicht ein Jota lang hält. Und es gibt diejenigen Jungen, die sofort alles richtig machen. Für mich an erster Stelle unter den Lebenden Donna Tartt, aber auch Judith Hermann. Oder kürzlich Hilary T. Smith.
Bei den Alten: Philipp Melanchthon, Johannes Brenz, später Novalis usw.
@ Gregor Keuschnig
Der Aspekt des institutionellen Schutzes und Antriebes ist nicht zu verachten. Ich war ein paar Jahrzehnte frei tätig – und habe auch Kritiken geschrieben, oft für ziemlich heterogene Auftraggeber. Am blödesten war die Heterogenität. Der berühmte Draht hat am besten geholfen – aber auch simple professionalität, wie man sie häufig in schweizerishen zeitungen fand. Ausserdem habe ich eine Literaturzeitschrift im süddeutschen Winkel mitgegründet und zehn Jahre mit beatmet. Da war wieder die Nähe ein guter Wirkstoff – auf für gemeinsame Debatten.
Man schreibt anders, wenn man angebunden ist.
Ich denke da auch an Orden – also die Klöster hier. Z. B. an die Hochblüte im Mittelalter, als im alemannischen Raum Seuse, Hermann der Lahme und in Straßburg, dann Köln Tauler und Eckart tätig waren – und die Tausenden, die da drum herum mit größter Aufmerksamkeit und Spannung z. T. Anteil nahmen. Mit unglaublichen Wartezeiten nach heutigen Maßstäben... Seuse wurde schon als Kind beäugt, und wahrscheinlich auf seine Tauglichkeit für eine Versendung nach Straßburg und Köln hin durchgemustert....
Jedenfalls i s t die institutionelle Anbindung ein großer Faktor. Ich denke das ist mit ein Grund, warum die großen Zeitungs-Redaktionen so wichtig – und so produktiv sind. Und warum z. B. aus den Funkhäusern vergleichsweise wenig Haltbares kommt. Aber das ist wieder ein etwas anderer Punkt, der so kurz vielleicht gar nicht sinnvoll bearbeitet werden kann.
@Dieter Kief
Andererseits gibt es genug Menschen, die gerade diese Dynamik der Institutionen, dieses Drehen im Strudel der Aktualitäten, überdrüssig geworden sind. Dazu zählt nicht nur Leopold Federmair. Ich bin durchaus auf Personen getroffen, die mir das »gestanden« haben. Sie machen weiter, weil sie müssen – aus finanziellen Erwägungen. Ein »Sabbatical« ist schwer möglich, weil das Fehlende nicht so leicht aufzuholen ist.
Selbst ein Idiot (im Handke’schen Sinn) wie ich hat oft genug keine Lust mehr, den Neuerscheinungen hinterherzuhecheln. Aber noch obsiegt die Neugier.
Man soll den Idioten nähren, wo immer man kann.
PS – Ich wäre – ehrlich – auf gar keinen anderen Idioten gekommen.
PPS – eine der happigeren Sachen war, dass in Deutschland die Menschen in den Redaktionen ca. viermal mehr verdienten pro Stunde als ich, der ich auf eigene Rechnung fabrizierte. Es gibt glaub ich immer noch schlappe 14 Tarif-Monatsgehälter, daran durfte ich buchstäblich nicht denken. Dennoch meine ich: Geld wird gern überschätzt.
Ich kann das Metier des Literaturkritikers nur von weitem beobachten, aber mir leuchtet ein, was Dieter in #13 sagt. Die Entwicklungspsychologie scheint inzwischen zu einer Art Schicksal der Literatur und ihrer Kritik zu werden. Es gibt eine komplexe »jugendliche« Entfaltung, einen mittleren Strom der Verzweigung vielleicht der Überanpassung, und ein Alter der Irritation und des Zweifels. Die Blockaden, die Gregor anspricht, sind vielleicht nur die Vorboten des Alters. Ich kann Raddatz jedenfalls gut verstehen, wenn er feststellt, dass das meiste irgendwann verloren ist. Die Ästhetik ist vermutlich kein »Hafen«, in den man irgendwann einläuft und sicheres Quartier bezieht. Ich erinnere mich an eine Zeile von Deleuze in diesem Zusammenhang: »...doch ich sah mich erneut auf das stürmische Meer hinaus geworfen!«.
@Dieter Kief
Geld liest nicht, könnte man in Paraphrasierung der Floskel »Geld schießt keine Tore« (jaja, schon wieder Fußball) sagen. Tatsächlich merkte neulich jemand an, dass die Journalisten aus öffentlich-rechtlichen Medien, die fest angestellt sind die Probleme der Kollegen überhaupt nicht wahrnehmen. Dafür machen die eigentlich sehr wenig aus ihrer Unabhängigkeit.
(Die Anekdote vom Unterschied zwischen »verdienen« und »bezahlt werden« erspare ich uns.)
@die_kalte_Sophie
Sehr schöne Entwicklungspsychologie. Aber sie erklärt nicht, dass sich das Nicht-mehr-bestehen-können auf die in jugendlicher Emphase rezipierten Lektüren erstreckt. Früher war also nicht alles besser – das ist okay, aber warum war es so wenig?
Vielleicht ein Streich der Erinnerung? Das ist nur Spekulation, aber ich las irgendwo, dass wir dazu neigen Erinnerungen quasi automatisch schönzufärben, man schafft sich demnach besonders mit dem Älterwerden immer mehr eine Fiktion oder Teilfiktion, statt sich eine Korrespondenz zur Realität zu erhalten. Die erneute Lektüre muss dann enttäuschen, weil sie der Erinnerung nicht standhalten kann. Und genauso verhielte es sich mit einem Vergleich mit dem Neuen, das man man der Erinnerung gegenüber stellt.
@ metepsilonema
Was aber ist mit jenen Alten, die behaupten, ihre Liebe zu ihren früheren Bücher-Lieben wächst – man könnte behaupten, die verhielten sich unwissenschaftlich.
Wahrscheinlich die beste Lösung, hehe.
Ansonsten: Ihre Skizze wäre die schwarze Lesart der koventionellen These des Erfahrungsgewinns.
Das sage ich aber unabhängig von Raddatz, dem ja laut Schirrmacher nichts anderes gelungen ist mit seinem Tagebuchband, als d e r Roman der Nachkriegszeit schlechthin.
Interessant in dem Zusammenhang: andere Romane als gerade diesen da haben Schirrmacher damals nicht mehr interessiert. Und schon gar nicht deutsche. Er schaute – und schwärmte – nun von Fernsehserien (= amerikanischen Fernsehserien).
Sch. – a leading schörmn intellectual, wie er gerne apostrophiert wurde, hatte es sich also vor der Glotze bequem gemacht und überließ die schöne Literatur seinen dafür bezahlten HausmeierInnen zur Resteverwertung. Ich erschrak jetzt doch ein bißchen als ich daran dachte, dass er bereits mit mitte Fünfzig starb.
Raddatz beschreibt ja, wie Schirrmacher einen Teil der Tagebücher zu lesen bekam und diese über den grünen Klee lobte. Und dann für immer schwieg. Jahre später erst brachte sie Alexander Fest bei Rowohlt.
Dieser Serienfetischismus ist ja was für Nicht-Leser. Endlich wurde Glotze-Gucken feuilletonistisch.
@Dieter Kief
Ich weiß nicht, was mit diesen Alten ist, der Einwurf stammt doch von Ihnen (vielleicht war die Erinnerung ja verblasst, aber wie gesagt, ich kann das jetzt kaum näher ausführen).
Ist aber eigentlich nicht das Auffinden von »neuen Werken« die den Namen Literatur verdienen, nicht ebenso wichtig?
Huch – halten sie Donna Tartt, Judith Hermann und Hilary T. Smith bereits für alt?
Besonders im Fall von Smith, der jüngsten der drei, ist die Sache sehr interessant: Weil sie, soweit ich bisher sehe, nur ein kleines Sachbuch über Persönlichkeitstörungen und emt diesen kleinen Roman mit dem Titel »Hellwach« hier veröffentlicht hat, der aber in D‑Land unter dem Label Junge Erwachsene lief, was für die Kritik eine Hürde war, die sie bisher nicht gut genommen hat.
Fällt mir noch ein: Die Kanadierin Smith wurde bekannt als die bloggerin The Intern, als welche sie über ihre Praktika, Hospitanzen usw. im Verlagswesen usw. Buch führte – mit insgesamt niederschmetterndem Ergebnis.
Wie ich sentimentaler Knilch zugeben muss: Zu meiner großen Freude hat Smith aus diesem Hamsterrad wieder herausgefunden – und lebte dann bald einmal im Camper, war aber im reinen mit sich (= nährte ihren Idioten).
Wer weiß denn, ob die heute gehypten Autoren noch in 20, 30 oder 50 Jahren bekannt sein werden? Es gibt viele Beispiele wie sich Zeitgenossen geirrt haben; nicht nur dahingehend, dass sie heutige Klassiker gar nicht kannten, sondern dass heute fast gänzlich unbekannte damals Erfolgsautoren waren.
Insofern ist das Herumstochern des Feuilletons heutzutage nur eine Stichprobe. Wer bleibt? Und dann natürlich: Warum? Wer betreibt das beste »Marketing« (nicht einmal abfällig gemeint).
Und auf heute bezogen: Warum stehen bestimmte Bücher auf Kanon-Listen, andere aber nicht?
@Dieter Kief
Vielleicht missverstehe ich Sie, aber wir diskutierten doch über Leseeindrücke, Erinnerungen und Neubewertungen, oder?