»Schreckens Män­ner« – Re­vi­si­on ei­ner Lek­tü­re

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer

Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

2006 er­schien in ei­nem »Son­der­druck« der edi­ti­on suhr­kamp Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers kur­zer Es­say Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer. Mei­ne Be­spre­chung da­mals war eher ab­leh­nend. Zu holz­schnitt­ar­tig schien HME zu ar­gu­men­tie­ren, zu kon­stru­iert die Par­al­lel­füh­rung zwi­schen den »Ver­lie­rern« der ara­bi­schen Welt mit der Macht­über­nah­me durch Hit­ler. Die is­la­mi­sche Welt und das Phä­no­men des Is­la­mis­mus wur­de et­was sim­pel auf »Ara­ber« re­du­ziert, so als ha­be es die »Is­la­mi­sche Re­vo­lu­ti­on« im Iran mit all ih­ren Schreckens­aus­wüch­sen nicht ge­ge­ben.

Die­se Kri­tik­punk­te blei­ben. Aber den­noch muss ich heu­te Ab­bit­te lei­sten. Liest man das Buch noch ein­mal – mit dem Wis­sen um all die aus­ge­las­se­nen Chan­cen, den geo­po­li­ti­schen Kon­flikt um Pa­lä­sti­na im Na­hen Osten zu lö­sen und un­ter der Be­rück­sich­ti­gung der ul­ti­ma­ti­ven »Schreckens Män­ner« des so­ge­nann­ten »Is­la­mi­schen Staats« – so er­kennt man, dass En­zens­ber­ger ei­ne Ent­wick­lung vor­weg nahm. (Her­vor­he­bun­gen in den fol­gen­den Zi­ta­ten sind von mir.)

»Der ra­di­ka­le Ver­lie­rer«, so En­zens­ber­ger, »son­dert sich ab, wird un­sicht­bar, hü­tet sein Phan­tas­ma, sam­melt sei­ne En­er­gie und war­tet auf sei­ne Stun­de.« Er ist ein Schlä­fer. Die »ein­zi­ge Lö­sung sei­nes Pro­blems, die er sich vor­stel­len kann: die Stei­ge­rung des Übels, un­ter dem er lei­det.« Manch­mal ge­nügt nur ei­ne Klei­nig­keit, um ihn zur Ex­plo­si­on zu brin­gen. Ein fal­scher Blick oder ein Witz wer­den zum »ideo­lo­gi­schen Zün­der«. Je­de Äu­ße­rung kann so­fort zur »Be­lei­di­gung« in­ter­pre­tiert wer­den (im An­ge­sicht der Iden­ti­täts­po­li­tik lin­ker Krei­se nennt man dies dann Dis­kri­mi­nie­rung; das kann­te En­zens­ber­ger noch nicht). Und: »Je­des Ver­lie­rer­kol­lek­tiv neigt zu Er­re­gungs­zu­stän­den, die sich po­li­tisch aus­beu­ten las­sen.«

Ir­gend­wann dann »steigt [der ra­di­ka­le Ver­lie­rer] auf ei­nen Turm und zielt auf al­les, was sich vor dem Su­per­markt be­wegt, nicht ob­wohl, son­dern weil das Mas­sa­ker sein ei­ge­nes En­de be­schleu­ni­gen wird.« Da­bei ist ihm sein Sta­tus klar; ge­ra­de hier­in, so die The­se, liegt nach­her der sui­zi­da­le Ef­fekt sei­nes Han­delns. Dies trifft auf Amok­läu­fer ge­nau so zu wie auf die Mör­der-Bri­ga­den der Ha­mas vom 7. Ok­to­ber 2023.

Der ra­di­ka­le Ver­lie­rer braucht ei­nen Feind, je­mand, der an sei­ner Si­tua­ti­on Schuld ist. »Daß es an ihm liegt, daß der Ge­de­mü­tig­te sel­ber schuld ist an sei­ner De­mü­ti­gung, daß er den Re­spekt, den er ein­for­dert, gar nicht ver­dient« kommt ihm nicht in den Sinn. »Psy­cho­lo­gen«, so En­zens­ber­ger, »nen­nen die­se Heim­su­chung die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Ag­gres­sor«.

»Der ein­zi­ge Aus­weg aus dem Di­lem­ma ist die Fu­si­on von Zer­stö­rung und Selbst­zer­stö­rung, Ag­gres­si­on und Au­to­ag­gres­si­on.« Der Ver­lie­rer er­lebt »im Mo­ment sei­ner Ex­plo­si­on ei­ne ein­ma­li­ge Macht­fül­le.« Da­bei ist ih­nen »je­de Rück­sicht auf das Über­le­ben« fremd. »Sie ent­füh­ren und tö­ten mit Vor­lie­be Leu­te, die ver­su­chen, das Elend der Re­gi­on, die sie ter­ro­ri­sie­ren, zu lin­dern […] und bren­nen die letz­te Kli­nik nie­der, die dort, wo sie hau­sen, noch über ein Bett und ein Skal­pell ver­fügt.« Sie ha­ben sich da­mit ab­ge­fun­den, dass auch ihr Le­ben da­nach en­den wird.

Be­son­ders pro­ble­ma­tisch wird das Le­ben für den ra­di­ka­len Ver­lie­rer in ei­ner an­de­ren Ge­sell­schafts­ord­nung jen­seits sei­ner »Ver­lie­rer-Hei­mat«. Auch hier fin­det En­zens­ber­ger tref­fen­de Aus­sa­gen, mit de­nen u. a. die ak­tu­el­len pro-pa­lä­sti­nen­si­schen De­mon­stra­tio­nen auf Eu­ro­pas Stra­ßen er­klär­bar wer­den. Die »psy­chi­schen Ri­si­ken der Ver­lie­rer« ver­stär­ken sich, so die The­se, durch die Kon­fron­ta­ti­on mit der west­li­chen Kul­tur. En­zens­ber­ger spricht von ei­nem »dau­er­haf­ten Kul­tur­schock«, dem die »ent­wur­zel­ten Mi­gran­ten«, ins­be­son­de­re die »männ­li­chen Aus­wan­de­rer«, aus­ge­setzt sei­en. »Der schein­ba­re Über­fluß an Wa­ren, Mei­nun­gen, öko­no­mi­schen und se­xu­el­len Op­tio­nen führt zum dou­ble bind von At­trak­ti­on und Ab­leh­nung, und die fort­wäh­ren­de Er­in­ne­rung an den Rück­stand der ei­ge­nen Zi­vi­li­sa­ti­on wird un­er­träg­lich.« Das »An­ge­bot der Is­la­mi­sten, an­de­re für das ei­ge­ne Ver­sa­gen zu be­stra­fen«, wird da­mit at­trak­tiv.

Ja, der Be­fund von Schreckens Män­ner be­kommt ei­ne neue, de­pri­mie­ren­de Ak­tua­li­tät. Zur Wie­der­vor­la­ge emp­foh­len.

5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Tja, da hat der En­zens­ber­ger wohl ins Schwar­ze ge­trof­fen. Schö­ne For­meln: Ver­lie­rer-Hei­mat, dau­er­haf­ter Kul­tur­schock, li­bi­di­nö­ser Dou­ble-Bind, Zer­stö­rung als Selbst­zer­stö­rung, etc. – Es wä­re un­fair, nur die Mos­lem in die­ses Sche­ma ein­zu­ord­nen, denn die Ra­di­ka­li­tät hat ja noch an­de­re Pro­vin­zen. Gleich ne­ben der »Aus­lands­ge­mein­de« liegt das Bü­ro der An­ti­fa, ein Stück wei­ter das rechts­ra­di­ka­le Ver­eins­heim des de­kul­tu­ra­li­sier­ten Ar­bei­ters Ost... Aber ich ha­be ge­lernt, die sog. Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik we­nig­stens in der Hin­sicht ernst zu neh­men, dass sie uns stän­dig auf die »la­ten­te Wut« al­so un­or­ga­ni­sier­te Fru­stra­ti­on auf­merk­sam macht, die ei­ne Wett­be­werbs- und »Schön­heits­ge­sell­schaft« auf der gan­zen Brei­te des Spiel­felds her­vor­bringt. Das hoch­flie­gen­de sy­ste­mi­sche Vo­ka­bu­lar (Mar­xis­mus, Post­ko­lo­nia­lis­mus) darf man in­zwi­schen als uni­ver­si­tä­res Hirn­ge­spinst sprich Pseu­do-Ra­tio­na­li­sie­rung wer­ten. Merk­wür­di­ger­wei­se war die Er­fin­dung des So­zi­al­s­staats nicht der­art tie­fen­wirk­sam, als dass die­ses dunk­le Brü­ten zum Er­lie­gen ge­kom­men wä­re. Man könn­te sich 100 Jah­re lang Sor­gen ma­chen. Es ist wie­der mal sehr schlimm!

  2. En­zens­ber­ger kommt in sei­nem Text ja oh­ne di­rek­te Schuld­zu­wei­sung auf den Is­lam aus. Das ist ei­ne Lei­stung. Die The­se vom »ra­di­ka­len Ver­lie­rer« lässt sich da­durch auch be­lie­big er­wei­tern. Et­wa auf Russ­land oder auch in­ner­deut­sche, iden­ti­tä­re Zir­kel (rechts wie links).

    Der uni­ver­si­tä­re Post­ko­lo­nia­lis­mus mag für uns ein Hirn­ge­spinst sein – aber er ist ins­be­son­de­re jetzt schon in den USA gän­gi­ge Dok­trin. Wer da als Do­zent oder Pro­fes­sor nicht mit­macht, wird schlicht­weg weg­ge­mobbt. In Deutsch­land dürf­te das nicht ge­sche­hen, da die So­zia­li­sie­rung für Pro­fes­so­ren in­zwi­schen so­weit ge­lun­gen ist, dass hier kein Wi­der­spruch mehr zu er­war­ten ist. Die Be­sich­ti­gung die­ser Stu­den­ten-Füt­te­rung er­kennt man u. a. in den Me­di­en. Der Mob ist nicht mehr un­ge­bil­det, son­dern ge­lern­ter Dem­ago­ge.

  3. Ja, die Nai­vi­tät von En­zens­ber­ger ggü. dem Is­lam liest sich heu­te schon sehr deut­lich. Ich hab’ ver­sucht, da ein biss­chen rein zu kom­men. Was gar nicht zu uns passt, ist das Stolz-Ge­ha­be in die­ser Kul­tur, aber auch der Fa­ta­lis­mus, die To­des-Läu­te­rung, die My­so­gy­nie, der Au­to­ri­ta­ris­mus, etc. etc. Wie soll das gut ge­hen?! – Über die U.S.A. ma­che ich mir manch­mal auch mehr Sor­gen als um uns. Der Post­ko­lo­nia­lis­mus kop­pelt da wie ein ganz harm­lo­ser wei­te­rer Wag­gon an den »Kul­tur-Zug« an, weil die iden­ti­tä­re Be­haup­tung und Selbst­ver­stär­kung ja schon seit Grün­der­zei­ten zur So­zi­al­psy­cho­lo­gie ge­hört. Aber das Res­sen­ti­ment ist von An­fang an über­mäch­tig, und for­dert täg­lich Op­fer. Ein Ver­häng­nis, das mit al­len Mit­teln ab­ge­wen­det wer­den muss.

  4. Ich glau­be nicht, dass es Nai­vi­tät von En­zens­ber­ger ist, die ihn die di­rek­te Kon­fron­ta­ti­on mit dem Is­lam scheu­en lässt. Sei­ne Aus­sa­gen sind kul­tu­rell, nicht re­li­gi­ös kon­no­tiert. Sein Dik­tum, dass die Ara­ber »in den letz­ten vier­hun­dert Jah­ren [...] kei­ne nen­nens­wer­te Er­fin­dung her­vor­ge­bracht« hät­ten, lässt be­wusst ei­nen Spiel­raum, zu­mal er auf die Hoch­kul­tur des Is­lam im 12. Jahr­hun­dert aus­drück­lich hin­weist.

    Der Wag­gon des Post­ko­lo­nia­lis­mus hat längst die deut­schen Ge­lei­se er­reicht und fährt mun­ter um­her. Die Fol­gen wer­den wir spä­te­stens in zehn Jah­ren mit vol­ler Wucht er­ken­nen kön­nen. Das wird Zü­ge der chi­ne­si­schen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on an­neh­men.