Über den Roman »Die Ladenhüterin« von Sayaka Murata
Mit einiger Verspätung – aber wenn es um Literatur geht, ist es bekanntlich nie zu spät – habe ich Die Ladenhüterin von Sayaka Murata gelesen. Das Buch ist in Japan 2016 erschienen, Ursula Gräfes deutsche Übersetzung 2018; ich habe den kleinen Roman in der 5. Auflage der Taschenbuchausgabe von 2021 gelesen. Der zeitliche Abstand zur Erstpublikation und den Reaktionen darauf gibt dem Verlag die Möglichkeit, über den Erfolg zu jubeln und damit Werbung zu treiben (was ihm durchaus nicht zu verdenken ist): »Beeindruckend leicht und elegant«, das Buch habe die deutschen Leserinnen und Leser »im Sturm erobert« – obwohl es gar nicht stürmisch, sondern so sympathisch zurückhaltend wie die Ich-Erzählerin und Hauptfigur ist. Aber sei’s drum, wenn Literatur die Menschen erobert, soll’s mir recht sein.
Der Titel des Originals ist übrigens, wörtlich übersetzt, »Konbini-Menschen«, wobei im Japanischen ohne Kontext zunächst nicht zu entscheiden ist, ob Singular oder Plural, es könnten auch Konbini-Menschen sein, ein ganzer Menschenschlag, zu dem ich mich dann auch zählen würde, weil ich wie fast alle in Japan Lebenden häufig eines der zahllosen Konbinis – convenience stores – aufsuche. Ursula Gräfe hat den Titel nicht kongenial, sondern ingeniös übersetzt: Die Ladenhüterin, und sie hat das Wort sogar ein- oder zweimal in seiner zweiten Bedeutung in den Text eingestreut: Die Verkäuferin im Konbini ist eine unverheiratete Mitt-Dreißigerin, die anscheinend niemand heiraten will und die selbst auch nie auf die Idee gekommen ist, sich dem anderen Geschlecht sexuell anzunähern. Die Ich-Erzählerin, Keiko Furukura, bemüht sich nach Kräften, normal zu sein, das heißt so wie alle anderen zu sein, aber sie schafft es nicht, schafft es allenfalls am Rand der Normalität als unverheirateter freeter, der schlecht bezahlte Teilzeitarbeit verrichtet und in einer winzigen Wohnung haust. Zieht man dazu auch die kurz rekapitulierte Vorgeschichte dieser Frau in Betracht, Außenseiterin seit der Grundschule, fällt die Nähe zu einer anderen Symbolfigur der heutigen japanischen Gesellschaft auf, dem hikikomori, der sich in seinem Zimmer verbarrikadiert und zur Welt kaum noch Beziehungen unterhält.1
In japanischen Schulen ist der dauerhafte Absentismus von Kindern schwindelerregend hoch, wenn man die Statistiken betrachtet (im echten Leben merkt man von ihrer Abwesenheit nicht viel). Diese Verweigerer ertragen die Gesellschaft und ihren Normalitätsdruck nicht. Die Ladenhüterin in Muratas Roman versucht immer aufs Neue, sich anzupassen, und findet schließlich eine Art Auskommen, einen Lebensstil. Als Dauerlösung ist dieser Stil nicht gesellschaftlich akzeptiert, obwohl Furukura-san sehr fleißig arbeitet und ihr ganzes Leben der Arbeit unterordnet. Im Grunde genommen verhält sie sich als freeter genau wie echte kaishain, wie Angestellte in großen Firmen, denn sie verinnerlicht die corporate identity der Konbini-Kette, auf welche die Filialleiter natürlich großen Wert legen, sie ist stets für die Firma da und versucht, deren Prinzipien und Slogans in jedem Moment umzusetzen. Der Unterschied zu den Festangestellten ist, daß sie viel weniger verdient und nicht versichert ist. Für die Unternehmen und die Unternehmer eigentlich eine vorteilhafte Entwicklung; für die Werktätigen eher nicht.
Eines Tages stößt die Freeterin – das Wort ist japanisch-englisch-deutsch, eine Zusammensetzung aus free und Arbeiter (arubaito heißt auf japanisch »Teilzeitjob«) – einem anderen Außenseiter, der eine ganz andere Haltung als sie einnimmt. Er verwirft, was in Japan sehr selten vorkommt, die Gesellschaft in Bausch und Bogen und meint, daß sie sich seit Jahrhunderten, sogar Jahrtausenden, nicht wesentlich geändert habe. Er ist ein Versager und hat längst keine Lust mehr, ernsthaft nach Arbeit zu suchen. Was er sucht, ist eine Frau, aber auch da stößt er auf Schwierigkeiten, weil im erotischen Bereich derselbe Konkurrenzkampf herrscht wie auf dem Arbeitsmarkt und den anderen Märkten: Der Stärkere siegt, the winner takes it all. Er schaut also permanent durch die Finger. Was er sich erhofft, ist, daß er trotz allem eine sexuell anziehende Frau findet, die ihn aushält. In Muratas Roman ist einiges von dem enthalten, was Michel Houellebecq schon vor fast dreißig Jahren in Ausweitung der Kampfzone als scharfer Gesellschaftsbeobachter diagnostiziert hatte, die Ausweitung der gnadenlosen Konkurrenz aller gegen alle auf sämtliche Lebensbereiche.
Furukura-san bezeichnet Shiraha, den neuen Ladenhüter (der bald wieder rausfliegen wird), als das was er ist: ein Parasit. Und sie ist klug genug um zu sehen, daß ihre eigene Position auch nicht anders ist – im Vergleich zum Normalbürger ist sie eine Parasitin. Nach außen hin gibt sie ihre (Selbst-)Erkenntnis nicht zu erkennen; wenn die anderen über Shiraha lachen, lacht sie mit. Ihr ist unwohl dabei, aber sie lacht. Später läßt sie sich von Shirahas krauser »Gesellschaftskritik« ein wenig anstecken, findet aber schließlich zurück zu ihrer Konbini-Menschlichkeit, der einzigen raison d’être, die ihr offensteht. Shiraha hingegen beharrt auf seiner parasitären Existenz: »Ich wollte mich schon die ganze Zeit rächen. Wie diese Schmarotzer, die sich von Frauen aushalten lassen. Das hatte ich mir schon die ganze Zeit vorgenommen. Ich werde unter allen Umständen weiter bei dir schmarotzen, Furukura.« Eine solche Unverfrorenheit kommt für Furukura selbst nicht in Frage, sie hat die Normalitätssehnsucht nicht aufgegeben. So klug sie trotz ihrer – in den Augen der Normalen – Verschrobenheit sein mag, auf die weiter ausgreifende Idee, daß auch die angesehenen Teile der Gesellschaft eigentlich parasitär sein könnte und daraus die Sehnsucht nicht bloß nach mehr Normalität, sondern nach einer entspannteren Gesellschaft entstehen könnte, kommt sie nicht. Und sie erkennt auch nicht, daß die Menschheit dabei ist, als solche parasitär zu werden, und es vielleicht – da hat wiederum Shiraha recht – immer schon war, weil sie von Anfang an, wie schon in der christlichen Genesis gefordert, die Natur ausbeutete und sich die Erde zu unterwerfen strebte. Im 21. Jahrhundert sehen wir an den diversen Umweltkrisen, daß uns diese parasitäre Existenzweise in oder mindestens an den Abgrund führen wird. Während wir, als Menschheit, gleichzeitig ein anderes Abhängigkeitsverhältnis entwickelt haben, nämlich das von Maschinen, Algorithmen und Robotern, die uns, wenn ihre rasanten Lernprozesse so weitergehen, eines Tages als ihre Schmarotzer erkennen werden.2
Noch eine letzte Beobachtung zu Muratas Roman, der auf höchst eigenwillige Weise realitätsnahe Gesellschaftsanalyse und eine sehr leise Poesie verbindet, eine Mischung, die zusammen mit dem umgangssprachlichen Ton und dem fast skizzenhaften Erzählen das ausmacht, was als Leichtigkeit gepriesen wird (und etwas anderes ist als »Literatur light«). Auch die Art, wie die Autorin die Praktiken, Regeln, hierarchischen Beziehungen und eingespielten Verhaltensweisen im Konbini beschreibt, empfinde ich als realitätsnah – um das verfemte Wort »realistisch« zu vermeiden. Diese japanische Arbeitswelt hat quasi-militärische Strukturen, die schon in den Schulen den heranwachsenden Subjekten eingetrichtert werden. Das geht vom täglichen Morgenappell über die kriegsartig angelegten Werbekampagnen und die Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln bis zu den stets befolgten Befehlen und Regeln, deren Sinn nie hinterfragt wird. Viele japanische Firmen lassen ihre Mitarbeiter am frühen Morgen zusammen Morgensport machen, was, wenn man zufällig an einer Baustelle vorbeikommt oder einen Blick durch eine Geschäftsauslage wirft, an militärische Übungen erinnert. Jedenfalls habe ich als Europäer diese Assoziation; als Japaner vielleicht nicht. Hier enden auch die weltweiten Parallelen zu den von Murata beschriebenen Phänomenen, die der deutsche Verlag am Buchrücken beschwört. Oder irre ich mich und die globale Entwicklung geht überall in diese Richtung?
Zuallerletzt, Militär hin oder her: Die Zuneigung zur Wirklichkeit, die uns Murata durch ihre Erzählerin vermittelt, betrifft auch die Dinge und die Ordnung im Supermarkt. Die Ladenhüterin begreift sich als Hüterin der Ordnung der Dinge, jede kleinste Störung darin empfindet sie als Angriff gegen sie selbst. Es gibt in diesem Büchlein geradezu liebevolle Beschreibungen – oder genauer: skizzenhafte Beschwörungen – von Dingen wie Teeflaschen, Reisbällchen oder Hühnerspießchen. Gar nicht so unähnlich wie in manchen Filmen von Hayao Miyazaki, etwa Wie der Wind sich hebt, also in den großen Manga- und Filmbildern, die jedes noch so kleine Detail berücksichtigen und treffend zu charakterisieren verstehen, Dinge und Artefakte genauso wie menschliche Gesten. Auch das Konbini-Leben ist nicht ohne Poesie. Wenn schon sonst nichts, gibt zumindest das Anlaß zur Hoffnung.
© Leopold Federmair
Vor einiger Zeit hatte ich Ihren Eintrag hier gelesen und jetzt auch endlich das Buch. Das war eine Erfahrung. Das Buch wird mir noch eine Weile durch den Kopf gehen.