Interessante und vor allem lebhafte »Sternstunde Philosophie« mit Philipp Tingler und Thomas Macho im Schweizer Fernsehen. Der Moderator Juri Steiner ist zwar gelegentlich etwas konfus (besonders ab Minute 40), aber das stört dann doch kaum.
Macho wirft Tingler mehrfach »krude Kulturkritik« vor, weil dieser dem Selfie den Kunststatus abspricht und kein Kontinuum zum Barock-Selbstportrait erkennt. Als Macho nichts mehr einfiel verorte er Tingler dann in die Lewitscharoff-Ecke (»Masturbation ist schlecht«). Machos Entgegnungen auf Tingler gipfelten fast immer in der Aussage, dass man über das Selfie-Phänomen eigentlich noch nichts sagen könne, weil es noch so verhältnismässig frisch sei. Dafür hat er dann doch viel gesagt.
PS: Die Dekoration ist unterirdisch. Leider hat das niemand thematisiert.
Hatte ich auch nebenher laufen. Macho hat wiederholt sehr mokant zu Tingler rübergeschaut. Machos Thesen verirrten sich auch, schien mir. Aber Tingler hat auch viel Wohlfeiles gebracht.
Mir in Erinnerung, wie er Heidenreich letztens im Literaturclub angegangen ist, ungefähr wie »Lesen Sie überhaupt?«.
Denke, er will sich positionieren, und das wirkt erst mal unsympatisch.
Meine 2 Cents.
Den Literaturclub mit Heidenreich habe ich noch nicht gesehen. Tingler mag ein wenig naßforsch daherkommen, hat aber immerhin eine Haltung. Machos »es ist noch zu früh« ist da viel wohlfeiler. Da will ein »Experte« nicht zu früh Stellung beziehen, damit man ihm das nicht später vorhält. Das ist mir zu billig.
Die Dekoration ist kunstgeschichtlich als postmodernes Plastikbarock einzustufen.
Ich hab die Sendung (oben auf youtube) nicht vollständig sehen wollen und immer wieder vorgespult, weil mich das alles zu sehr an einen Einführungskurs in Kulturwissenschaft erinnert – da wird der Bogen von der »großen« Vergangenheit zur »banalen« Gegenwart geschlagen, da kann man wunderbar sein Wissen um das »Große« anbringen und zugleich zeigen oder wenigstens zu zeigen versuchen, daß man selbst durchaus nicht im Elfenbeinturm vergammelt. Dabei könnte man das Thema wunderbar auf hohem Niveau diskutieren, denn Selfies gibt es, seit es Spiegel gibt, nur daß sich heute noch ein bevölkerter Raum hinter ihnen befindet.
Naja, die Sache mit den Spiegeln wird ja auch noch erwähnt. »Selfies« sind natürlich schon von Selbstportraits von Malern (in der Sendung wird Rembrandt gezeigt) zu unterscheiden. Beiden gemein ist zwar die Inszenierung der Oberfläche. Heute kommt aber dazu, dass jeder ein Selbstportrait machen kann, weitgehend unabhängig von Rang, Stand und Einkommen. Damit wird das Bild an sich entwertet (dieser Aspekt fehlte mir). Auch die Motivation für die Selfies heute ist eine andere als es bspw. für Rembrandt oder Dürer das Selbstportrait war.
Den Konflikt zwischen Tingler und Macho fand ich schon interessant. Der Moderator, der irgendwie den Bogen zum Barock schlagen musste/wollte, trug immer wieder dazu bei, dass das Niveau kippte. Einmal – ich weiss nicht mehr wann; relativ am Schluß – sagte Macho zu Tingler sinngemäss, dass er, Macho, anders sprechen würde, wenn Tingler das Selfie-Wesen jetzt bejubelt hätte. Macho outete sich da als Dialektiker um der Dialektik willen. Das fand ich fast entlarvend. Und da passte es dann, dass er laufend wiederholte, dass das Phämomen von uns eventuell noch gar nicht begriffen sein könnte.
Verrückte Gespräche, wird man dieser Epoche nachweisen.
Aber interessant: Macho hat offenbar Schwierigkeiten, die Selfies zu begreifen, was seiner Profession nach heißt: in die Kontinuität der abendländischen Selbstprotrait-Gestaltung einzuordnen. Er flüchtet sich förmlich in die Defensive, um Tingler eine »Befangenheit in der Dezision«, d.h. der nicht-diaelketischen Beschreibung aufzudrängen
Schau an, schau an... Es geht immer auch um die Technik des Denkens in Bezug auf den (absolut) Anderen. Die Möglichkeit, dass »jemand« sich irrt.
Dahingehend verstehe Macho’s permanente Hinweise, dass wir (What the fuck?!) das Phänomen eventuell noch nicht ausreichend verstanden hätten. Denn er sucht nicht wirklich nach Anhaltspunkten für ein erweitertes Verständnis, er will meta-psychologisch Befangenheit erzeugen.
Oder so...
Ich hatte den Eindruck, dass Macho sich ganz wohl darin gefühlt hat, Tinglers Haltung einfach zu widersprechen – um dann selber schulterzuckend einzugestehen, nicht mehr zu wissen. Das »wir« ist natürlich sehr wichtig, weil es ihn nicht alleine lässt, sondern eine Aufgehobenheit suggeriert wird. Immerhin lässt sich so sehr einfach mit dem Rubrum »konservative« [Unterton: reaktionäre] Kulturkritik polemisieren. Tingler rannte ins Messer, welches sich dann als Klappmesser entpuppte.
Tja, wenn das die Sternstunden der Philosophie sind, möchte ich deren Weltverdunkelung nicht erleben. Wobei es andererseits durchaus schlimmere Sendungen gibt. Wer einmal nur Tina Mendelsohn in der „Kulturzeit“ erlebte, weiß, was es heißt, wenn nimmer mehr Stern und Sonne schimmern und scheinen.
Barock und Selfie: Keine These, die nicht steil, blöd und lasch genug ist, als daß sich nicht ein Redakteur im Ressort Kultur findet, der sie dann ausspricht. Was kommt morgen? Der Historiker, der das Selfie mit dem ägyptischen Pharaonenkult gleichsetzt? Das Selfie und die Niederländische Genremalerei? Das Selfie und das Portrait im Expressionismus? Es lassen sich auch da gewiß und reichliche Bezüge für Texte und Sendungen finden. Bei solchem Absurdistan fallen mir die Texte Max Goldts ein.
Natürlich stehen Selfies nicht in der Kontinuität des europäischen Selbstportraits. Dieses setzte nämlich bis ins frühe 20 Jhd. einen Künstler voraus, der sich dann selber in irgend einer Weise ins Bild brachte. (Ansonsten ist der Begriff Selbstportrait widersinnig.) Bauern und Bergarbeiter, Gutsherren, Hofstaat und Fabrikanten malten sich in der Regel nicht selber, und sie waren ebensowenig Künstler, weil das meist mit ihrem Beruf nicht so gut zu vereinbaren war. Nach Warhol mag jeder ein Künstler für 15 Minuten sein. Hoffen wir, daß die Selfie-Macher diese seltenen und kostbaren 15 Minuten benutzen, um sich genau in dem Moment abzulichten, indem die Konstruktionsleistung und Inspiration zusammenfließen. Selfies haben weniger mit den unterschiedlichsten Epochen der Kunst, sondern mit ganz anderen Mechanismen etwas zu schaffen.
Was ich an dieser Sendung jedoch gut beobachten konnte, ist der Umstand, wie sehr ein von Burda, Bredekamp, Boehm und Konsorten etablierten Begriff wie Bildwissenschaften ins Lächerliche umschlägt. Lächerlich deshalb, weil er unspezifisch vermengt und in der Leere der Abstraktion verbleibt, anstatt die Gehalte eines Phänomens zu ergreifen und zu begreifen. Die Wendung von der metábasis eis állo génos trifft für den Sonderforschungbereich „Bildwissenschaft“ die Sache gut. Die Repräsentation im Barock jedoch und die in einer postindustriellen Optimierungsgesellschaft scheinen mir zwei Paar Schuhe zu sein. Freilich findet sich – zumindest für den umtriebigen Redakteur – für fast jedes ein Tertium comparationis. Am Ende läuft das dann auf die Trivialität hinaus, daß Bilder etwas abbilden. Tatsächlich – das ist so. Vielleicht sollte man jedoch die Frage stellen, wer und was im Barock abgebildet wurde und was (uns) Selfies zeigen.
Sinnvoller scheint es mir, Selfies im Kontext mit der Entwicklung der Photographie sowie der Medien zu betrachten, wo es einer größeren Zahl von Menschen zum ersten Mal möglich wurde, Bilder von sich selber zu verbreiten, sowie das Selfie mit den Weisen von sozialer Repräsentation zu sehen. Das gerät dann schon weniger unterbelichtet, hat freilich mit dem Barock nur sehr wenig zu tun, was dann den schönen Fernsehtitel kaputtmacht. Hier versuchen Redakteure, einen griffigen Titel sowie Zusammenhänge zu stiften, die allenfalls an der Oberfläche korrespondieren. Ich prägte dafür vor einiger Zeit den Begriff der Kulturindustrie. Genausogut könnte man (siehe oben) das Selfie mit der antiken Gemme oder mit sonst einer Epoche der Kunst gegenlesen und darüber fabulieren. Klingt gut, sagt aber nichts. Kultur im Fernsehen ist leider häufig das Gegenteil derselben.
Danke für diesen Kommentar. Es gab im Schweizer Fernsehen eine Themenwoche »Barock« – hieraus resultiert der zuweilen zwanghafte Versuch Parallelen zu entdecken, die tatsächlich anderswo zu suchen gewesen wären. Bemerkenswert fand ich immerhin, dass beide Diskutanten ausnahmsweise einmal nicht einer Meinung waren und sich dabei ein lebhafter Disput entwickelte. Man ist im Fernsehen ja bescheiden geworden – so kann (eher: darf) man das dann als »Sternstunde« rubrizieren.